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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1151–1165

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Matthias Morgenstern

Titel/Untertitel:

Daniel Boyarin
Anmerkungen zu einem jüdisch-orthodoxen Grenzgänger
und Liebhaber des Christentums

Wenige Autoren haben in den vergangenen Jahrzehnten, ausgehend von der Judaistik, so anregende Debatten angestoßen wie der nordamerikanische jüdische Theologe und Talmudforscher Daniel Boyarin. Sein 75. Geburtstag am 6. Dezember 2021 gibt Anlass, sein Werk überblicksartig vorzustellen und einige seiner Thesen und Anstöße zusammenzufassen. Auf eine kurze biographische Einführung (1) folgt ein Überblick über sein Werk (2) mit einer anschließenden Fokussierung auf Themen, die für die christliche Theologie und das jüdisch-christliche Verhältnis von besonderem Belang sind (3). Am Ende stehen Reflexionen über offene Fragen, vor allem über solche, die sich aus christlich-theologischer Perspektive ergeben (4).

I



Als Sohn litauischer Juden in New Jersey/USA geboren – mütterlicherseits soll seine Familie auf Elija ben Salomon Salman (1720–1797,) den »Wilnaer Gaon«, zurückgehen, sein Urgroßvater war Lubawitscher Chassid, sein Großvater ein säkular lebender Sozialist1 –, wuchs Boyarin in einer nicht-observanten Familie auf. Bekanntschaft mit dem traditionellen Judentum schloss er erst im Anschluss an seine Collegezeit während eines einjährigen Jerusalem-Aufenthaltes. In dieser Zeit, in der er auch seine Frau Chava kennenlernte (beide haben zwei Söhne), nahm er einen religiösen (wie er selbst es nennt, »orthodoxen«) Lebensstil an, dem er in späteren Jahren – trotz aller Kritik und Anfeindungen – treu blieb. Zurückgekehrt in die USA, studierte Boyarin am Jewish Theo-logical Seminary, wo er die rabbinische Ordination erhielt. Er sah seine Aufgabe aber nicht in der Gemeindearbeit, sondern promovierte in Talmudwissenschaft mit einer kritischen Edition des Traktats Nazir, Kap. 1–5, im Babylonischen Talmud, bevor er Lehraufträge u. a. an der Ben Gurion-Universität in Beer Sheva, der Bar Ilan-University in Ramat-Gan und der Hebräischen Universität in Jerusalem wahrnahm. 1990 folgte er dem Ruf an die University of California in Berkeley/California, wo er bis heute lebt und lehrt. Als Inhaber des Taubman Chair in Talmudic Culture gehört er den Departments für Near Eastern Studies und Rhetorik an und ist kooptiertes Mitglied der Abteilungen Women’s Studies und Gay and Lesbian Studies sowie des Center for the Study of Sexual Culture.

Diese ungewöhnliche Fächerkombination erklärt Boyarins Aus- strahlungskraft auf angrenzende akademische Felder: Biblische Exegese, Patristik, religionswissenschaftlich inspirierte Hermeneu- tik, Kultur- und Literaturtheorie, (psychoanalytisch inspirierte) feministische bzw. »Queer«- und Gender-Theorie und ideologie kritische post-colonial studies.2 Im Zusammenhang seines Wirkens als public intellectual wird Boyarins persönliche Stellung als dem orthodoxen Lebensstil verpflichteter Jude häufig als provozierend wahrgenommen. Orthodoxie definiert Boyarin als Anerkennung des verpflichtenden Charakters der überlieferten jüdischen Gesetze. Dabei legt er einige traditionelle Normen aber – u. a. hinsichtlich der Rolle der Frau in der jüdischen Gesellschaft – innovativ und eigenwillig aus und tritt für radikale Veränderungen des traditionellen Judentums von innen heraus ein: Im Hinblick auf Homosexualität ist Boyarin der Meinung, dass die Tora nur penetrierenden Analverkehr unter Männern verbietet – andere homo-erotische Handlungen seien halachisch erlaubt.3 Der Veränderungsprozess, den Boyarin sich erhofft, hängt mit seiner Begegnung mit dem Christentum zusammen, die nach seiner Überzeugung helfen kann, falsche Fixierungen der innerjüdischen Debatte zu lösen.

Boyarins bislang wohl wichtigstes Buch, Border Lines, zeigt, wie für ihn religiöse, politische und Gender-Themen verbunden sind. Im Vorwort steht – für jüdisch-orthodoxe Autoren ungewöhn- lich – eine Liebeserklärung an das Christentum, wobei das Bild eines »coming-out« anklingt. Boyarin »befragt« seine Liebe (,,Interrogate my love«) und berichtet von Erscheinungsformen eines attraktiven Christentums in seinem Leben: »Für einen in seinem sexuellen Selbstverständnis etwas seltsamen Teenager erwies sich St. Franziskus, der Weichling, als eine unglaublich aufreizende männliche Figur.«4 Am Ende knüpft das Vorwort spiegelverkehrt an dieses Bild an, indem es kritisch auf rechtsgerichtete Juden und Christen als »strange bedfellows« eingeht, die zur Abfassungszeit des Textes (2003) gemeinsam »einen Krieg – oder Kriege – gegen Muslime führen« und dem »Kreuzzug des amerikanischen Präsidenten George W. Bush gegen den Irak« Beifall spendeten.5 Im gleichen Jahr erregten Boyarins Stellungnahmen zum Israel-Palästina-Konflikt, vor allem sein Vergleich der Besatzungspolitik auf der Westbank mit der Shoah, Aufsehen und lösten Empörung aus. Alvin H. Rosenfeld, Direktor des Center for the Study of Contemporary Antisemitism der Indiana University, griff den Autor in einer vom American Jewish Committee herausgegebenen Publikation heftig an.6

II



Die wissenschaftlichen Interessen des Jubilars lassen sich auf vier Gebiete verteilen:7 1972 bis 1989 konzentrierte er sich auf Probleme der aramäischen und hebräischen Sprachwissenschaft und Fragen der Textkritik am Babylonischen Talmud. Parallel dazu beschäftigte er sich mit der Geschichte und Systematik des sefardischen Talmudlernens (iyyun) am Beispiel der Schule des spanisch-jüdischen Gelehrten Yitzhaq Canpanton (1360–1463), seiner dialektischen Methode (pilpul) und seines kulturellen Hintergrunds. Das dritte Themengebiet geht zurück auf Boyarins Lektüre der Schriften Jacques Derridas und die Begegnung mit der sogenannten Yale School. In der amerikanischen Rezeption der »French Theory« versammelten sich hier seit den 1970er Jahren Literaturkritiker und poststrukturalistische Philosophen, die Texte gegen den Strich lasen, in ihnen Spuren fanden, die ihren vordergründigen Sinn selbst fraglich machten, und den so freigelegten Paradoxien neue Sinngehalte abgewannen. Boyarin schlug die Brücke von der Hermeneutik des Dekonstruktivismus zu Talmud- und Midraschtexten und einer Exegese, die, anders als die historisch-kritische Schriftauslegung, nicht davon ausgeht, dass Texte eine »objektive« Bedeutung haben.8 Nach ihm weist die dekonstruktivistische These des Eigengewichts von Texten gegenüber einem von Lesern in ihnen gefundenen oder in sie hineingelesenen Sinn (seinem »Logos«) erstaunliche Ähnlichkeit mit der Methode klassischen Talmud-Lernens auf.9 Diese Einsicht legte Boyarin erstmals in seiner für die weiteren Arbeiten grundlegenden Studie Intertextuality and the Reading of Midrash (Bloomington 1990) dar, die in erweiterter Form auch ins Hebräische übersetzt wurde (2011). In kritischer Auseinandersetzung mit und anknüpfend an Susan Handelmans Ansatz (The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory, 1982) führt er in diesem Buch die These aus, dass Texte (hier Midraschim) immer aus bewussten und unbewussten Zitaten früherer Texte oder Diskurse bestehen und dass Midraschim insofern eine dialogische Struktur haben, als diese Zitate (hier: Bibelzitate) sich gegenseitig beleuchten. So wird ein offener Interpretationsprozess möglich, in dem es nicht darum geht herauszufinden, wer »historisch« was zu wem gesagt hat, sondern darum, Ambiguitäten und Momente des Unentschiedenen, die der (erst später entstandene, redaktionell geprägte und als Literatur verstandene) Text präsentiert, auszuloten.

Midrasch-Exegese ist demnach eine im Horizont der kanonischen Bibel stattfindende, am buchstäblichen Bestand des Wortlautes orientierte Auslegung, die über herkömmlicher philologischer Analyse zugängliche syntaktisch-semantische Gehalte hinausgeht. Einbezogen werden kreative Deutungen der Grapheme und vor allem auch der Lautung, was neben dem Interesse an der Vergegenwärtigung des Textes und am Nachweis seiner fortdauernden Relevanz für die Überlieferungsgemeinschaft eine kollektive Textrezeption (hörbares Rezitieren) voraussetzt. Boyarin betont auch, dass kulturelle Codes stets und unausweichlich die Textproduktion determinieren und es daher kein isoliert schreibendes, von gesellschaftlicher Vermittlung losgelöstes Subjekt geben kann.10 Es ist im Rückblick bemerkenswert, dass Boyarins Buch, mit dem er erstmals in einem interdisziplinären Kontext auf sich aufmerksam machte, nach seinem Erscheinen zunächst konträr wahrgenommen und in Rezensionen regelrecht »zerrissen« wurde.11

Seine hermeneutischen Einsichten machte Boyarin vor allem auf seinem vierten Themenfeld fruchtbar, in dem er in den Folgejahren die Untersuchung von Talmudtexten mit vergleichender Arbeit an patristischen und neutestamentlichen Quellen verband und beides zu neuen Horizonten führte. Gegenstand war dabei zunächst die Genderkonstruktion des spätantiken rabbinischen Judentums, die Boyarin in drei Studien kritisch analysierte: Carnal Israel, Unheroic Conduct und Socrates and the fat Rabbis.12 Hinzu kamen Studien zur Geschichte des Christentums und zur Entstehung des rabbinischen Judentums, die sich kritisch auf die bislang vorherrschenden Theorien zum Parting of the Ways genannten Phänomen beziehen: Dying for God, die bereits genannte Studie Border Lines und eine Untersuchung zur Traditionsgeschichte und zum »jüdischen« Charakter der neutestamentlichen Evangelien The Jewish Gospels.13

III



Charakteristisch für Boyarin ist, wie Gegenstände der Gender- und Religionsgeschichte in seiner Perspektive miteinander verwoben sind. Carnal Israel beschreibt die Entstehung des Juden- und Chris-tentums als Geschlechtergeschichte. Ausgangspunkt ist Philo von Alexandrien, der Männer mit den Attributen des Geistes und Universalismus, Frauen hingegen mit Partikularismus, Körperlichkeit und Sexualität assoziiert hatte. Der so imprägnierte platonische Dualismus sei Hintergrund für die frauenfeindliche Kultur des Wes-tens: »It is in Hellenized Judaism such as Philo’s that the origins of Europe’s Eve are to be found.« Das anthropologische Ideal habe im Christentum jahrhundertelang darin bestanden, nach der von Paulus (1Kor 16,13) vor Augen gemalten Tugend »männlicher« Stärke und Tapferkeit Christus, dem »perfekten Mann« (ἀνήρ τέλειος vgl. Eph 4,13), gleichgestaltet zu werden; Schwäche und Sündhaftigkeit wurden demnach mit Weiblichkeit assoziiert. Durch ein jungfräuliches Leben konnten Frauen im frühen Christentum christusförmig und »männlich« werden. Für Männer stand in diesem Sinn nach Paulus (1Kor 7,7) die unverheiratete über der verheirateten Lebensform – ein Ideal, dem Juden, für die die Ehe halachische Pflicht ist, immer befremdet gegenüberstanden.15

Die Konstruktion der Geschlechterbeziehungen, wie sie in talmudischen Texten sichtbar wird, verzichtet demgegenüber auf die ontologische Abwertung von Frauen. Zwar waren Frauen auch nach den Rabbinen zunächst dazu da, die Fortpflanzung zu gewährleisten und sexuelle Wünsche der Männer zu befriedigen. Das schloss aber nicht aus, dass sie ihre Subjektivität und Rechte auf vielen Feldern, u. a. das Recht auf sexuelle Befriedigung, behielten. »The rabbinic tradition rejects the characteristic ontological move of western gender discourse by which ›the masculine pose(s) as a disembodied universality and the feminine get(s) constructed as a disavowed corporeality‹.«16 Der Autor sieht das rabbinische Judentum in dieser Hinsicht als Teil einer Widerstandsbewegung gegen die dominierende hellenistische Kultur.17 Sexualität war für die menschliche Fortpflanzung – sie stand für die Rabbinen im Mittelpunkt des Interesses – notwendig und konnte deshalb weder inhärent schlecht oder unrein noch dämonischen Ursprungs sein. Symptomatisch für die rabbinische Sexualethik ist das midraschische Verständnis der Geschlechterbeziehungen im Paradies. Nach dem Midrasch Genesis Rabba 22,2, einem Text des späten 4. oder frühen 5. Jh.s, hatten Adam und Eva vor dem »Fall« eheliche Beziehungen. Die ersten Menschen brachten sogar den Tieren bei, wie Sexualität funktioniert – die Rabbinen lesen in Gen 4,1 (Adam »erkannte« sein Weib) statt des Qal ein Hifil: »er gab zu erkennen«, »zeigte«.18 Immerhin diagnostizierten auch die Rabbinen Zusammenhänge der Libido mit sündhaften Regungen, wie die Fortsetzung der Paradiesgeschichte im Midrasch zeigt: Die Schlange, so Genesis Rabba 18,6 (zu Gen 3,25), sah Adam und Eva beim Beischlaf zu, entbrannte vor »Lust« und sprach Eva an, nachdem Adam post coitum vor Anstrengung eingeschlafen war.

Zugleich konstatiert Boyarin in der rabbinischen Genderkonstruktion Unterschiede zwischen Babylon und Palästina: Während im Westen die hellenistische Idee wirkmächtig war, der menschliche Sexualtrieb könne mit Selbstdisziplin unter Kontrolle gehalten werden,19 ließen die östlichen Gelehrten dem Geschlechtsleben größeren Raum. Dies erkläre ihre Privilegierung der Frühehe20 ebenso wie die im babylonischen Judentum entstandene Zeitehe, die Boyarin mit dem (prostitutionsähnlichen) Institut der Genuss-Ehe (Mut‘a) im schiitischen Iran vergleicht.21 Sowohl in Palästina als auch in Babylon treten eheliche Bedürfnisse und Pflichten aber in Konkurrenz zu den Obliegenheiten des Torastudiums. Die rabbinischen Texte generieren einen Diskurs, der beide Pflichten quantifizierend vergleicht (Wie lange darf der Ehemann seine Frau um des Studiums willen verlassen? Wie oft ist der Beischlaf religionsgesetzlich vorgeschrieben?)22 und gegeneinander abwägt – eine Debatte, die zu verstehen ist, wenn man in Rechnung stellt, dass das in geographischer und zeitlicher Nähe aufblühende monastische Leben des Christentums für Juden eine Versuchung und Herausforderung war.

Gleichzeitig war den Rabbinen bewusst, dass im Miteinander der Lernenden im Lehrhaus homoerotische Anziehungskräfte eine Rolle spielten. Boyarin macht auf eine Erzählung von Rabbi Joḥanan aufmerksam, einem der wichtigsten Helden des Tal-muds.23 Der in Tiberias lebende Gelehrte – er wird als bartlos und effeminiert beschrieben24 – war, so die Rabbinen, »von den Schönen Jerusalems« der Vorzeit übriggeblieben: Wer seine Schönheit sehen will, nehme einen silbernen Becher vom Juwelier, fülle ihn mit Körnern eines roten Granatapfels, lege um die Mündung einen Kranz roter Rosen und stelle ihn zwischen Sonne und Schatten; dieser Glanz ist ein wenig von Rabbi Joḥanans Schönheit. 25

Eines Tages habe Rabbi Joḥanan im Jordan gebadet, und Resh Laqish sei ihm ins Wasser nachgesprungen.26 Letzterer, ein »ethnischer« Jude, gilt im Talmud als römischer Assimilant und Anhänger der Anpassung an die griechisch-römische Kultur. Von ihm heißt es andernorts (babylonischer Talmud Traktat Gittin 47a), dass er sich selbst als Gladiator – im Talmud steht das Lehnwort »luda’a«, von lateinisch »ludus«, »Spiel« – verkauft habe. Dem Image der Römer entsprechend, wird er als vagabundierender »Räuber« bezeichnet und für einen Vergewaltiger gehalten.27 Resh Laqish habe aber Buße getan, sei bei Rabbi Joḥanan in die Lehre gegangen und ein bedeutender Schriftgelehrter und »großer Mann«28 geworden. Zuvor habe er noch Rabbi Joḥanans Schwester zur Frau erhalten.

Diese Erzählung, redigiert etwa zwei bis drei Jahrhunderte nach der Lebenszeit der Protagonisten, enthält keine historischen Informationen über einen »historischen« Rabbi Joḥanan und seinen Gegenspieler;29 sie spiegelt aber ein Milieu der Talmudgelehrsamkeit, das nach Boyarin von einer »absence of homosexuel panic« gekennzeichnet ist.30 Überraschend an dieser Erzählung ist, dass sexuelle Anziehungskraft unter Männern an sich nicht als tadelnswert geschildert wird – hätten die Rabbinen die Zurschaustellung physischer Attraktivität des Badenden problematisieren wollen, hätten sie Wege gefunden, ihre Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Hinzu kommt, dass nach dieser Erzählung die Ideale von männlicher Schönheit und Toragelehrsamkeit nahe beieinanderliegen. Ein physisch attraktiver Mann ist ein guter Kandidat dafür, auch Champion des Toralernens zu werden. Um zur Meisterschaft in dieser im Judentum höchstgeschätzten Disziplin zu gelangen, war für Resh Laqish aber zweierlei notwendig: Er musste sein altes Gewand, die römische Toga, ausziehen, sich als rabbinischer Jude neu einkleiden und das Leben ganz der Tora widmen – nach dem Ideal, »Tag und Nacht« über dem Gesetz zu sinnen (Ps 1,2). Da das Judentum Askese ablehnt, galt zugleich die Pflicht, verheiratet zu sein. Durch Studium und Ehe sollte Resh Laqish homoerotische Neigungen sublimieren.

Sitz im Leben dieser Erzählung ist das Lehrhaus, das Beieinander der Männer, die ihre geistige Energie auf die (als weiblich verstandene) Tora richteten, während Frauen nach traditioneller Lehre vom Studium ausgeschlossen waren (und weiterhin sind).31 Im Talmud folgt eine als Wettkampf inszenierte Auseinandersetzung Resh Laqishs mit Rabbi Joḥanan über Fragen des Gesetzes. Dabei geht es bezeichnenderweise um die rituelle Reinheit militärischer Instrumente wie Messer, Dolch und Lanze. Angesichts dieser Thematik kehrt die zuvor offenbar nur verdrängte homoerotische Spannung zurück. Als sie sich nicht einigen können, hält Rabbi Joḥanan seinem Schüler vor:

»Ein Räuber kennt sein Räuberwerkzeug.«32 Hierauf sprach [Resh Laqish] zu ihm: »Was nützest du mir? Dort33 nannte man mich Meister [Rabbi], hier34 nennt man mich ebenfalls Meister [Rabbi].« [Rabbi Joḥanan] erwiderte: »Ich habe dir genützt, indem ich dich unter die Flügel der Einwohnung Gottes gebracht habe.«35 Da wurde der Sinn [היתעד] Rabbi Joḥanans schwach, [und] Resh Laqish wurde [ebenfalls] schwach [beide wurden krank]. Da kam seine Schwester36 zu ihm [Rabbi Joḥanan], weinte und sprach zu ihm: »Tu es meines Sohnes wegen!« Er erwiderte [mit Zitat aus Jer 49,11a]: »Lass nur deine Waisen, ich will sie ernähren.« – »Tu es meiner Witwenschaft wegen!« Er erwiderte [nach Jer 49,11b]: »Und deine Witwen mögen auf mich vertrauen.« Da kam die Seele des Rabbi Shimʽon ben Laqish zum Ruhen [הישפנ חנ/er starb], und Rabbi Joḥanan war sehr traurig um ihn.

Nachdem ein Abgesandter der Rabbinen vergeblich versucht hatte, den Trauernden zu trösten, zerriss Rabbi Joḥanan sein Kleid, weinte und rief nach Resh Laqish, bis er den Verstand [היתעד] verlor und ebenfalls starb [הישפנ חנ].37

Diese Geschichte lässt sich folgendermaßen interpretieren: Durch Rabbi Joḥanans Bemerkung (»ein Räuber kennt sein Räuberwerk- zeug«) war Resh Laqish aus dem mühsam erworbenen Ge- lehrtenstand zurück in das Räuberdasein gestoßen worden. Damit kam – vielleicht soll das »Schwach-Werden« eine Art »Zur Frau-Werden« assoziieren? – offenbar das alte Begehren zurück: für beide Gelehrten eine tödliche Gefahr. Angesichts des Scheiterns des Gesprächs im Lehrhaus tritt Rabbi Joḥanans Schwester, in Angst um ihren Mann, erneut auf den Plan und versucht zu helfen, indem sie ihn offenbar darum bittet, für die Genesung ihres Mannes zu beten oder ihn direkt zu heilen. Nach dem Misslingen ihres Rettungsversuchs wird Rabbi Joḥanans Liebe zu Resh Laqish erneut thematisch, mit tödlichen Folgen auch für ihn.

Diese Erzählung zeigt das Frei-Schwebende und Uneindeutige aggadischer Texte, die männlich-hierarchische Diskursstrukturen im Lehrhaus kenntlich machen, kritisieren und Grenzen des Sublimierbaren aufzeigen. Die Ehefrau, die nicht das Torastudium ihres Mannes an erster Stelle im Blick zu haben scheint, sondern seinen Sohn bzw. sich selbst, wird hier als Konkurrentin der Tora kenntlich; nicht weniger als der Toralehrer kämpft sie um die Aufmerksamkeit und Zeit ihres Mannes, muss sich am Ende aber geschlagen geben. Im Hintergrund steht die Frage, ob die »Fortpflanzung« des Judentums an die nächste Generation zuerst in Kategorien biologischer oder geistiger Vater-Sohn-Verhältnisse zu denken ist.

Auf einen weiteren Text im selben Talmudtraktat, der diese Thematik auf unnachahmliche Art und Weise erörtert, kommt Boyarin in seinen Schriften mehrfach zurück. Thematisch werden hier neben dem talmudischen Männlichkeitsideal die körperlichen Folgen des lebenslangen Verweilens (»Sitzens«) im Lehrhaus (Jeschiwa) und die Frontstellung gegen die Askese, wobei die Rabbinen ihre eigene Position sarkastisch ironisieren:

»Wenn Rabbi Jishmaʼel, Sohn Rabbi Joses, und Rabbi Elʻasar, Sohn Rabbi Shimʻons sich trafen, konnte eine Ochsenherde unter ihren [Leibern, die einander berührten] durchgehen, ohne sie anzulangen. Eine Matronita sagte ihnen: ›Eure Söhne sind nicht eure.‹38 Da erwiderten sie: ›Ihre [Leiber, d. h. die unserer Frauen] sind noch größer als unsere, [sodass wir den Beischlaf vollziehen können].‹ [Sie erwiderten]: ›Umso mehr!‹39 Manche sagen, dass sie ihr antworteten: ›Ein Mann ist wie seine Manneskraft [ותרובג]!‹ Manche sagen, dass sie ihr erwiderten: ›Liebe drängt das Fleisch zurück!‹ Aber warum antworteten sie ihr überhaupt? Es heißt doch: ›Antworte dem Narr nicht in seiner Narrheit, [damit du nicht wirst wie er]‹ (Spr 26,4). – ›Um keine üble Nachrede über ihre Söhne zu bringen.‹«40

Boyarin liest diese Erzählung als Groteske, die Genderrollen und Reproduktionsängste thematisiert. Mit einer Diskussion über die Größe der Sexualorgane der in Frage stehenden Gelehrten läuft der Text am Ende auf die ultimative Antithese zur christlichen »Entleiblichung« hinaus: Rabbi Jishmaʼels Glied war wie ein Schlauch von neun Qav [ca. 10,8 Litern]. Rav Papa sagte: Rabbi Joḥanans Glied war wie ein Schlauch von fünf Qav [6 Litern]. Manche sagen: Wie ein drei Qav [3,7 Liter] fassender.41

In Konkurrenz mit dem zeitgenössischen Christentum, dessen »Fortpflanzung« die Rabbinen offenbar als recht erfolgreich wahr- nahmen (die Eingliederung in den Abrahamsbund, die Zeugung von Abrahamskindern, geschieht nach Paulus ja geistlich, »in Christus«42), setzt das Judentum grundsätzlich auf leibliche Nachkommen. Nach Boyarin persifliert der Talmud hier aber den Kult physischer Virilität und männlicher Schönheit; er tritt für eine »spirituelle Reproduktion« ein, für die lehrende Fortpflanzung des Judentums »through the oral dissemination of Torah«.43 In Unheroic Conduct spricht Boyarin im Hinblick auf die zitierte Talmudstelle von einer gegen die eigene Angst gerichteten Satire: Die Rabbinen haben depotenzierte effeminierte Körper, können aber nicht entbinden – stattdessen müssen sie lehren. Boyarin übt hier Sachkritik am Talmud; denn die Darstellung der Rabbinen, die auf die genannten Herausforderungen mit einer grotesken Karikatur rabbinischer »Fleischlichkeit« reagieren – eine Strategie, die zugleich ihren Widerstand gegen römische Männlichkeitsideale zum Ausdruck bringen soll –, offenbart dem psychoanalytisch geschulter Blick des modernen Interpreten masochistische (und insofern problematische) Züge44 – ein »Krankheitsbild«, zu dessen »Heilung« Boyarins Analyse offenbar beitragen soll. In Socrates and the Fat Rabbis führt Boyarin seine Analyse fort und interpretiert die groteske Überzeichnung im Talmudtext als subversive Adaptation eines Stilmittels der Menippeischen Satire.45

Auf dergestalt vorgezeichneten Bahnen setzt Boyarin in Dying for God (1999) seine Untersuchung der frühen Identitätsbildung im Christen- und Judentum fort. Im Zentrum stehen nun christliche und jüdische Martyriumserfahrungen, die schon deshalb miteinander verwandt sind, weil beide Traditionen auf Texte der Makkabäerzeit zurückgreifen. Bemerkenswert ist, dass die Märtyrerberichte früher Christen wie die Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis Gendervorstellungen aus 2Makk 7,21 verarbeiten, nach denen sich im Leiden bewährt, wer »männlich« und stark ist – eine Konzeption, die auch für Frauen bestimmt und von einer tiefsitzenden Ablehnung des römischen Männlichkeitsideals geprägt ist.

Da Christen oftmals zuvor römische Heiden waren, die an Roms Macht und Prestige partizipiert hatten, mussten sie für ihre Ablehnung der klassischen Genderrolle »teurer« bezahlen als Juden, die immer Outsider gewesen waren. Rabbinische Erzählungen aus der Leidenszeit unter Kaiser Hadrian berichten zunächst von jüdischen »Trickstern«, die Mittel und Wege finden, um dem Martyrium zu entgehen.46 In späteren Talmudtexten diagnostiziert Boyarin aber die Tendenz, eigene Leidenserzählungen denen der frühen Christen anzugleichen. Um die Motiv-Abhängigkeit wahrscheinlich zu machen, betont er die »jüdische« Färbung im Bericht vom Märtyrertod Polycarps, des Bischofs von Smyrna (Anspielungen auf die »Bindung Isaaks«, die Datierung des Geschehens in die Passahzeit). Die Standhaftigkeit der Makkabäer, die für ihre Gesetzesobservanz den Tod in Kauf genommen hatten (»dying for the law«) verwandelt sich im Talmud nun, begleitet von visionären Elementen mit nahezu erotischen Untertönen, in eine Konzeption, die den Märtyrertod an sich als religiöse Pflicht oder religiös verdienstvoll erachtet (»dying for God«). Dieses Ideal sehen die Rabbinen vor allem in Rabbi Aqiva verwirklicht. Aqiva, kein Stoiker, der beweisen muss, dass seine Vernunft die Leidenschaften beherrscht, erleidet den Tod nicht, weil er Gott und seine Strafe fürchtet, sondern weil er (ähnlich wie christliche Märtyrer) Gott liebt – Boyarin nennt ihn den »Polycarp des Judentums«.48 In komparatistischer Perspektive erscheint der Märtyrerkult so als »fundamental formative constituent in the making of the ›new‹ religions of Christianity and rabbinic Judaism«49. Die entscheidenden Impulse gingen dabei von Christen aus; die jüdischen Gelehrten verarbeiteten die von der Schwesterreligion empfangenen Motive, die ihrerseits Transformationen von Makkabäermotiven waren, weiter.

Was Boyarin in den vorgenannten Studien zu den jüdisch-christlichen Beziehungen der Spätantike oft nur andeutet, führt er in seinem wohl wichtigsten Buch systematisch und ausführlich aus. Thema von Border Lines ist zum einen die Verlegung der Trennung von Juden- und Christentum gegenüber den bislang üblichen Datierungen (die meist das Ende des 1. Jh.s oder das frühe 2. Jh. anvisieren) um mindestens zwei Jahrhunderte in die nachkonstantinische Zeit des späten 4. oder frühen 5. Jh.s. Daneben geht es ihm um eine systematische Neuinterpretation dieses Geschehens, die auf ein grundsätzliches Neuverstehen beider Religionen als historische Phänomene zielt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil (»Einen Unterschied machen. Die häresiologischen Anfänge von Christentum und Judentum«) zeigt, dass der hebräische Begriff minut (»Häresie«) in der rabbinischen Literatur erst allmählich aufkommt - zu einer Zeit, in der Identitätsfragen, die christlicherseits von Justin dem Märtyrer im 2. Jh. aufgeworfen worden waren, zu einer solchen Sprachschöpfung nötigten: ein abstraktes Nomen zur Kennzeichnung abweichender religiöser Tendenzen war zuvor in tannaitischen Texten nicht im Gebrauch. Das griechische Äquivalent hairesis hatte noch bei Josephus im 1. Jh. keinen delegitimierenden Ton.

Der zweite Abschnitt (»Die Kreuzigung des Logos. Wie der Logos christlich wurde«) bringt den Nachweis, dass die Logostheologie – die Annahme der Existenz einer zweiten himmlischen Macht, die bei der Schöpfung beteiligt war und von der angenommen wird, dass sie nach Dan 7,9 »auf dem Thron« sitzt – ursprünglich keine Differenz von Juden und Christen markierte, da das vorrabbinische Judentum in der Gotteslehre sehr wohl binäre Strukturen unter Einschluss einer Verehrung des Logos kannte.50 Die auf die Logostheologie bezogene Differenz von Judentum und Christentum, so Boyarin, sei erst »aus den Aktivitäten der Häresiologen auf beiden Seiten der Trennlinie« hervorgegangen.51

Der Schlussteil (»Funken des Logos«) kulminiert in einer These, die das historisch gewordene Verhältnis von Juden und Christen auf Entwicklungen der spättalmudischen Epoche zur Zeit der anonymen Redaktoren des babylonischen Talmuds (Stammaim), zurückführt. Boyarin verfolgt hier eine dialektische Entwicklung, in der die Rabbinen äußere Erwartungen, die sich mit ihrer religionsrechtlichen Situation im christlich gewordenen Rom ergeben, zunächst (teilweise) akzeptieren, sie dann aber zurückweisen, um sie schließlich in transformierter Gestalt erneut zu übernehmen. Diese Zeit, so Boyarin, setze bereits voraus, dass christliche Theologen, etwa Gregor von Nazianz, aktuelle Probleme durch die Einführung eines neuen Konzeptes von »Religion« gedeutet hätten.52 Im Römischen Reich, in dem die Auseinandersetzung mit dem Christentum, nicht zuletzt durch die Episode des neuheidnischen Kaisers Julian »Apostata«, staatspolitische Bedeutung erlangt hatte, kam es bei Hieronymus zu einer Verdammung »judenchristlicher« Häretiker; diese werden bei ihm nicht nur deshalb verurteilt, weil sie nicht an Christus glaubten, sondern zusätzlich auch, weil sie keine Juden (!) seien (nec Iudaei sunt nec Christiani).53 Boyarin deutet dies als implizite Anerkennung einer »wahren« jüdischen Religion (»im Gegensatz zur Falschheit der Mischlinge«), die der Kirchenvater zur Konstruktion »des Anderen« gebraucht habe. Diese »Anderen« habe er aber zugleich kontrollieren wollen – auch deshalb sei seine Übersetzung der hebräischen Bibel ins Lateinische entstanden. Das Christentum »brauchte« für das eigene Selbstverständnis eine jüdische Orthodoxie. Diese jüdische Orthodoxie wollten die christlichen Theologen in religiösen Termini definieren und zugleich einhegen.54 Bestätigung findet diese totalisierende Strategie durch die Einordnung und Deutung des Judentums als superstitio, andererseits durch reichsrechtliche Bestimmungen des Codex Theodosianus, die den Sabbat und jüdische Feiertage (auch das Purimfest – wenn es dabei nicht zu einer Verspottung der Kreuzigung kam) anerkannten und Synagogen schützten.55

Die rabbinische Theologie, so Boyarin, reagierte auf diese Entwicklung, indem sie die traditionelle Logoslehre häretisierte und aus dem Judentum ausstieß, »wodurch sie jene Häresie mindes-tens implizit als Christentum einsetzte.«56 Gleichzeitig nahm die entstehende christliche Orthodoxie die Logostheologie für sich ein und definierte ihre Ablehnung als »Judentum«. Boyarin verwendet hier die Metapher der »cultural conspiracy«, die (nicht verschwörungstheoretisch, sondern im Sinne des Gebrauchs von Linguisten verstanden) darauf abzielt, dass diskursive Kräfte bei der Herstellung eines in ihrem jeweils eigenen Interesse liegenden Ergebnisses zusammenwirken, selbst wenn keine kausale Verknüpfung anzunehmen ist.57 Zur Kennzeichnung dieses Prozesses fallen in diesem Buch provozierende Stichworte, die – den »rabbinischen Märtyrerakten« (»acta Akivae«58) in Dying for God vergleichbar – das rabbinische Judentum nicht nur verfremden, sondern im Wortsinn als Kreation der entstehenden römischen Reichskirche erscheinen lassen, wie umgekehrt nach Boyarin auch das Judentum das Christentum »schuf«:

– In diesem Sinne führt Boyarin zur Kennzeichnung der jüdischen »Ekklesiologie« den Terminus »katholisches Israel«59 ein– gemeint ist ein sich durch häresiologische Grenzen neu definierendes rabbinisches Judentum.

– Zur Abstützung des sich formierenden rabbinischen Gebildes entstand im Judentum – parallel zur in gleicher Zeit auftretenden entsprechenden Theorie im christlichen Bereich – die Vorstellung einer »apostolischen Sukzession«60, die die eigene Legitimität his-torisch (für historische Kritik freilich anachronistisch) verankern soll.

– Die Wortschöpfung eines »pharisäischen Credos«61 tritt der Vorstellung entgegen, das rabbinische Judentum habe sich im Gegensatz zum Christentum nicht über Glaubensaussagen, sondern nur halachisch definiert; nach Boyarin begaben sich die Rabbinen zur Abwehr christlicher Vorstellungen aber ebenfalls auf dogmatisches Terrain; in bestimmten Fällen kam es durchaus zu einer »Orthodoxieprüfung«62 und dem Ausschluss von »Häretikern«. Dies zeigt das Beispiel der »Apostasie«-Gefahr, in die Rabbi Aqiva geriet (bChag 14a), als er, bevor von seinen Kollegen zur Raison gerufen, die (aus rabbinischer Sicht »häretische«) Meinung vertrat, der in Dan 7,9 genannte himmlische »Thron« sei »für David« (d. h. für den messianischen Davididen) bestimmt.63

– Schließlich interpretiert Boyarin die Erzählungen von der »Synode von Jabne« im Babylonischen Talmud (5.–7. Jh.) – ein Geschehen, das die Forschung früher auf die Jahrzehnte nach der Tempelzerstörung datierte – als späten Reflex auf das christlichen Narrativ der Konzile von Nicäa, Konstantinopel und Kalzedon.64

Boyarin versteht die talmudischen Texte als Ausdruck des Widerstands der Rabbinen, die den christlichen Definitions- und Vereinnahmungsversuchen die »Relevanz des jüdischen Volkseins, der Abstammung und der leibhaftigen Befolgung der Tora« entgegensetzten.65 Als »Eckstein jüdischer Ekklesiologie« – im Sinne einer »Re-Ethnisierung« des Gegensatzes, die die Christen nun nicht mehr als Anhänger einer konkurrierenden Religion, sondern als Angehörige der »Weltvölker« verstand – wurde nun formuliert: »Ein Israelit, auch wenn er sündigt, bleibt [auch im Fall der Apostasie] Israelit« (babylonischer Talmud Traktat Sanhedrin 44a). So habe sich das Judentum geweigert, »auf ganz dieselbe Weise verschieden zu sein« und dem theoretischen Konzept einer »Religion« zu entsprechen. Zu den Emblemen der für das Judentum eigentümlichen »differenten Differenz« gehört daher die Tatsache, »dass es bis auf den heutigen Tag Christen gibt, die Juden sind, oder, vielleicht besser ausgedrückt, Juden, die Christen sind«.66

Dieses Resümee bezieht sich nur vordergründig auf evangelikale »Jews for Jesus« oder andere Judenchristen. Durch vergleichende Analysen talmudischer und patristischer Texte belehrt, kommt der Autor vielmehr zum Ausgangspunkt seiner gefährlich-seltsamen »Verliebtheit« in das Christentum zurück. Boyarin gehört zu denen, die um ihres Selbstverständnisses willen die Beschäftigung mit dem Christentum brauchen. Es war ja die Nötigung, auf die bedrängenden Anfragen dieser in der Spätantike explosionsartig anwachsenden Religion eine Antwort zu finden, die die Rabbinen erst zu ihrer »mächtigsten und kreativsten« Leistung herausforderten: der Vorstellung, dass »Gott selbst« den im Talmud evident werdenden »Fall in die Sprache, also in linguistische Unbestimmtheit erleidet.«67 Um diese Leistung zu verstehen, ist demnach ein Rekurs auf das Christentum erforderlich, denn es handelt sich nach Boyarin hier um eine »radikale theologische Kritik des Begriffs der determinierten Bedeutung des biblischen Textes«68. Mit dem Ausdruck »determinate meaning of the biblical text«69, im Englischen die Antithese zur rabbinischen »indeterminacy«, ist das christliche Muster von »offenbarter oder tradierter einziger Wahrheit und homonoia«70 gemeint. Die Rabbinen verneinen eine konsensuelle Orthodoxie, die von einem »Logos« ausgeht, »der hinter dem Text und außerhalb seiner liege und seine Bedeutung« begrenzt und kontrolliert.71 Der christlichen Hermeneutik stellen sie im Midrasch und in der Aggada ihre »Dialektik ohne Entscheidung« und »ohne Telos« entgegen, »die in sich selbst eine Repräsenta- tion der polynoia des göttlichen Wortes und des göttlichen Geistes« ist.72 Insofern setzt die rabbinische Hermeneutik die Christologie voraus.

Für diese kulturelle Bewegung, die den »Logos« durch den talmudisch verstandenen »Text« ersetzt, prägt Boyarin die Metapher von der »Kreuzigung des Logos« und der »Auferstehung der mündlichen Tora in der gemeinschaftlichen Erfindung des Lehrhauses«.73 Die mit der Institutionalisierung des Lehrhauses gegebene »Kanonisierung des Dissenses«74 im Diskurs über nicht-determinierte Texte schuf aber weder eine Idylle noch einen herrschaftsfreien Raum, weil der Machtwille der Rabbinen bei diesem Diskurs stets mitzudenken ist.75 Die jüdischen Weisen insistierten ja auf ihrer Autorität; es fiel ihnen nicht ein, auf die Kontrolle über das Geschehen im Lehrhaus zu verzichten. Beides – die größten Errungenschaften der rabbinischen Theologie wie ihre Begrenzungen – stehe demnach in historischem und sachlichem Zusammenhang zu vom Christentum gestellten Problemen: ein in historischer Tiefe liegender Grund für die gefährliche »Verliebtheit« des Autors, seine Sehnsucht, das zerstrittene jüdisch-christliche Paar heute wieder in einen konstruktiv-kritischen Bezug zueinander zu bringen, der es ermöglicht, Abgrenzungen als his-torisch entstanden zu verstehen und so zugänglich für heilsame Grenzüberschreitungen zu machen.

IV



Carnal Israel, die erste der in dieser Würdigung zu Boyarins 75. Geburtstag vorgestellten Studien, beginnt mit einem Hinweis auf die vom Jubilar ins Auge gefasste Aktualität seiner Forschung: Die Spätantike, »very late antiquity«, ist für ihn »our own time«.76 Ähnlichkeiten zwischen dem auslaufenden Altertum und unserer Gegenwart – die Unübersichtlichkeit der historischen und gesellschaftlichen Konstellation, der religiöse Pluralismus, nahezu un-überschaubare religiös-kulturelle Hybridbildungen, Grenzüber- schreitungen, vor allem aber das diffuse Gefühl, am Ende einer Epoche zu stehen – liegen vielleicht wirklich auf der Hand. Der Blick zurück hat für Boyarin insofern eine therapeutische Funk-tion. Ihm ist dabei wichtig, das Vergangene nicht nur als abzuwerfende Bürde anzusehen. Purer Zorn einer monolithisch negativ dargestellten früheren Zeit gegenüber (cultivating anger at it) wäre kontraproduktiv und raubte dem Betrachter die Kraft, Veränder-ungen anzustoßen.77 Boyarin arbeitet gleichsam mit dem Instrumentarium einer kulturwissenschaftlich informierten Ethnologie, deren ethische Standards »teilnehmender Beobachtung« zu wahren er fordert: Jede Attitüde kultureller Superiorität der Vergangenheit gegenüber ist zu meiden. Zugleich gilt die besondere Sorgfalt der Wahrnehmung von Differenz: »A practice of cultural studies that seeks to make a difference in the present must be able to see and describe difference in the past.«78 Im Gegenüber zum Christentum lernt das rabbinische Judentum etwas über seine Entstehung in nachbiblischer Zeit, begegnet es sich selbst im formativen Teil seiner Geschichte. Im Blick stehen für Boyarin Gefahren, wie sie eine ethnische Engführung der Selbstdefinition und partikularistische Fixierungen mit sich bringen – genannt werden Beispiele, die man im gegenwärtigen Staat Israel wahrnehmen kann. Boyarin verschweigt aber nicht, dass die universalistische Tendenz im Chris- tentum nicht weniger bedrohlich sein kann; sie steht in der Versuchung, die leiblich-biologischen Bedingungen unserer Existenz, für die die Sexualität steht, zu überspielen, dem Anderen das Recht auf Differenz zu nehmen, ihn zu vereinnahmen und eine Gleichmacherei anzustreben, die die Schwächeren einer letztlich »kolo- nialistisch« zu verstehenden Universalkultur unterordnet und dabei zu kurz kommen lässt.

Im Nachwort von Border Lines steht ein Gedicht des italienischen Dramatikers Arrigo Boito (1842–1918), dessen Oper »Mefis-tofele« (1868) auch das Motto des Buches entnommen ist: »Ghermii pel crine il desiderio alato!« – etwa: »Ich packe das erhabene Verlangen an den Haaren.« Boitos (Boyarins) Wunsch lautet, »dieser Traum möge die heilige Poesie sein, das letzte Begehren meiner Existenz (»voglio che questo sogno sia la santa poesia e l' ultimo bisogno dell'esistenza mia«). Die »Liebe«, um die es hier geht, ist ein faustisches Unternehmen.79

Welche Folgen könnte die Einsicht, dass der palästinische und babylonische Talmud und die klassischen Midraschim, kanonische Texte des Judentums, in Teilen auf die christliche Herausforderung reagieren, auf sie antworten und sie produktiv verarbeiten, für das christliche Selbstverständnis und die jüdisch-christliche Begegnung der Gegenwart haben? Auf diese Fragen hat die christliche Theologie noch keine Antwort gegeben.80

Abstract



The North American Jewish theologian Daniel Boyarin (b. 1946), Talmud scholar and member of the departments of Women’s Studies, Gay and Lesbian Studies and the Center for the Study of Sexual Culture at the University of California, examines not only philological and philosophical topics in the context of poststructuralist philosophy but especially Jewish-Christian relations since late antiquity. Both »religions« – a term to be historically differ- entiated because Judaism did not become a »religion« until its encounter with Christianity in late Rome – are, according to Boyarin, in a complex tension that can be understood only with the help of a method modeled on psychoanalysis. The rabbinic resistance to Christian-Roman attempts at universalization, the basis for the texts in the Talmud and Midrash that are canonical for today’s Judaism, has triggered wounds that, according to Boyarin, can be healed only if Jews and Christians find a constructive relationship to each other.

Fussnoten:

1) Alle biographischen Angaben nach James Adam Redfield, Crossing Border Lines: Daniel Boyarin’s Life/Work, in: Charlotte Elisheva Fonrobert, Ishay Rosen-Zvi, Aharon Shemesh, Moulie Vidas (eds.) in collaboration with James Adam Redfield, Talmudic Transgressions. Engaging the Work of Daniel Boyarin, Leiden 2017, 541–547.
2) Zur Kennzeichnung eines bestimmten Diskursstils (und um akademische Moden ironisch zu charakterisieren) hat Zvi Septimus im Englischen das Verb »boyarinisieren« eingeführt (»to Boyarin« mit dem Partizip »Boyarining«): Zvi Septimus, Revisiting the Fat Rabbis, in: Charlotte Elisheva Fonrobert, Ishay Rosen-Zvi u. a. (Hg.), Talmudic Transgressions, 421–456, hier: 423.456.
3) Daniel Boyarin, Are There Any Jews in the »History of Sexuality«?, in: Journal of the History of Sexuality 5 (1995), Nr. 3, 333–355. Zur Diskussion über diese halachische Frage vgl. Matthias Morgenstern, Talmudische Konzeptionen von Homosexualität, in: Caris-Petra Heidel (Hg.), Sexualität und Judentum (Medizin und Judentum 14), Frankfurt a. M. 2018, 39–53; Sebastian Molter, Homosexualität und orthodoxes Judentum. Religionsgesetzliche Diskussionen zur gleichgeschlechtlichen Sexualität unter Männern in Responsen vom 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert (Tübinger Judaistische Studien 7), Münster 2021.
4) Daniel Boyarin, Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, 2004, IX (deutsch von Gesine Palmer: Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo- Christentums, Berlin 2009, XI). Der Untertitel des Vorworts seiner Homosexua-litätsstudieUnheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man (Berkeley 1997) hatte gelautet: »Justify my love« (XIII).
5) Boyarin, Abgrenzungen (s. Anm. 4), XV.
6) Boyarin, Border Lines, XIV (s. Anm. 4): »It has been said by many Christians that Christianity died at Auschwitz, Treblinka, and Sobibor. I fear – G-d forbid – that my Judaism may be dying at Nablus, Daheishe, Beteen (Beth El), and al-Khalil (Hebron).« Der Autor wiederholte hier einen Vergleich, den er ein Jahr zuvor gezogen hatte (Interrogate my Love, in: Tony Kushner, Alisa Solomon [Hg.], Wrestling with Zion. Progressive Jewish-American Responses to the Israeli-Palestinian Conflict, New York 2003, 198–204). Auch in der deutschen Ausgabe wurde der Passus nicht gestrichen. Vgl. Alvin Hirsch Rosenfeld, Progressive Jewish Thought and the New Anti-Semitism, New York 2006, 17. ZuBorder Lines vgl. Jan Gühne, »Kreuz und quer laufende Linien der Geschichte«. Ein kritischer Blick auf Daniel Boyarins Thesen zur Entstehung von Judentum und Christentum, Berlin 2006.
7) Vgl. Boyarins Bibliographie in: Fonrobert u. a. (Hg.), Talmudic Transgressions (s. Anm. 1), 549–565.
8) Vgl. Tod Linafelt, »Mad Midrash« and the negative dialectics of post-holocaust biblical interpretation, in: Gerhard Bodendorfer/Matthias Millard (Hg.), Bibel und Midrasch, Tübingen 1998, 263–274, hier: 272: »Midrash, unlike historical criticism, does not presume that there is an objective sulfsufficient meaning to be extracted from the text.« Die Frage, ob historische Kritik hier richtig verstanden ist, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.
9) Redfield, Crossing Border Lines (s. Anm. 1), 541. Boyarin spricht von einem für spätere Rezeptionsprozesse offenen »slow reading«, das er von der Praxis des »close reading« unterscheidet; ein »close reading«, von Boyarin als »reaktionär« gebrandmarkt, gehe von »geschlossenen« Texten aus, die alle für sie möglichen Sinnschichten bereits in sich tragen.
10) Vgl. David Stern, Midrash and Theory. Ancient Jewish Exegesis and Contemporary Literary Studies, Evanston 1996. Ich selbst bin der »Midrash-Theory-Connection« und den Verbindungen zwischen Midraschforschung und Literaturwissenschaft nachgegangen in: Tempel und Theater. Skizze zum Thema historische Intertextualität am Beispiel von Talmudzitaten im zeitgenössischen hebräischen Drama, in: FJB 29/2002, 143–153. Vgl. auch Matthias Morgenstern, DieMidrash-Drama-Connection am Beispiel von Richard Beer-Hofmanns Jaákobs Traum, in: FJB 31 (2004), 105–122 (Nachdruck in: Matthias Morgenstern, Das israelische Theater. Noten und Notizen, Münster 2016, 235–258).
11) Vgl. die Besprechungen Jacob Neusners (JSJ 21, Nr. 2, 254–258) und Gerald L. Bruns‘ (Religions & Literature 24 [992] No. 1, 75–80).
12) Daniel Boyarin, Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture, (Berkeley/Los Angeles 1993); ders., Unheroic Conduct (s. Anm. 4); ders., Socrates and the fat Rabbis (Chicago/London 2009). Der provokante Titel der ersteren Arbeit nimmt das von Paulus als Ἰσραὴλ κατὰ σάρκα (1Kor 10,18) apostrophierte nicht-Christus-gläubige Judentum in den Blick, wie Boyarin in seiner kulturkritischen Monographie zu Paulus weiter darlegt (Daniel Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley/Los Angeles 1994).
13) Boyarin, Dying for God. Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999; ders., The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012. Zur Debatte, die das letztgenannte Buch auslöste, vgl. https://kavvanah.blog/2012/05/30/peter-schafer-responds-to-daniel-boyarin/.
14) Boyarin, Carnal Israel (s. Anm. 12), 81 f.
15) Boyarin, Carnal Israel (s. Anm. 12), 139, zitiert den syrischen Kirchenvater Aphrahat, der davon berichtet, ein Jude habe Christen vorgeworfen, sie seien – weil unverheiratet – unrein.
16) A. a. O., 106 (mit einem Zitat Judith Butlers).
17) A. a. O., 83.
18) Vgl. GenR 22,2 (zu Gen 4,1) und Gary Anderson: Celibacy or Consummation in the Garden? Reflections on Early Jewish and Christian Interpretations of the Garden of Eden, HTR 82 (1989), Nr. 2, 121–148.
19) Vgl. Boyarin, Carnal Israel (s. Anm. 12), 140.
20) A. a. O., 138 mit Verweis auf bQid 29b.
21) Vgl. a. a. O., 142 und bYom 18b; bYev 37b.
22) Vgl. dazu mKet 5,8 sowie die Diskussion im Talmud: vgl. Matthias Morgenstern, Ketubbot. Eheverträge. Übersetzung des Talmud Yerushalmi Band III/3, hg. von Martin Hengel, Peter Schäfer, Friedrich Avemarie, Hans-Jürgen Becker und Frowald Gil Hüttenmeister, Tübingen 2009, 238–241.
23) Rabbi Joḥanan, genannt bar Nappacha (»der Schmied«), ein Amoräer der 2. Generation (frühes 3. Jh.), wird traditionell mit der Redaktion des Jerusalemer Talmuds in Verbindung gebracht.
24) Nach bNaz 59a hatte Rabbi Joḥanan auch keine Achselhaare – eine Eigenschaft, die nach bSan 21a weiblichen Schönheitsidealen entspricht; vgl. Septimus, Revisiting (s. Anm. 2), 431.
25) Boyarin, Unheroic Conduct (s. Anm. 4), 129 f. mit Zitat aus bBM 84a.
26) Der deutsche Übersetzer L. Goldschmidt merkt hier an, Resh Laqish habe Rabbi Joḥanan irrtümlich »für ein schönes Weib« gehalten (Der Babylonische Talmud neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1996, 725 f.); im Text ist davon aber nicht die Rede! Nach Boyarin kommt in entsprechenden Kommentaren ein homophobes Vorurteil zum Ausdruck.
27) Das hebräische האטסל (lesta’a) ist Lehnwort aus dem Griechischen (λῃστής).
28) Wörtlich: »zu einem großen Mann« (אבר ארבג).
29) Zur Redaktion des Babylonischen Talmuds vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992, 195–208. Zur Redaktionsgeschichte des Talmuds: Jeffrey L. Rubenstein, Creation and Composition. The Contribution of the Bavli Redactors (Stammaim) to the Aggada, Tübingen 2005; Carol Bakhos (Hg.), The Talmud in Its Iranian Context, Tübingen 2010.
30) Boyarin, Unheroic Conduct (s. Anm. 4), 17.
31) Der Ausschluss von Frauen wird mit Dtn 11,19 begründet: »Ihr sollt sie (die Tora) lehren euren Söhnen.« Nach bQid 29b und SifDev 34,4 schließt diese Norm Frauen aus.
32) Hebräisch-aramäisch: עדי היתויטסלב האטסל (lesta’a belestajuteh jadaʽ).
33) Bei den Räubern, bei denen er zu den Anführern gehörte.
34) Bei den Gelehrten; in beiden Fällen wird er »Rabbi« genannt
35) Das Bild göttlicher »Flügel«, unter denen man Schutz sucht (Ps 36,8; Ruth 2,12), umschreibt Resh Laqishs »Buße«, die Verwandlung eines sexbesessenen Raufbolds in einen Toragelehrten.
36) Rabbi Joḥanans Schwester, Resh Laqishs Frau.
37) bBM 84ab; Ergänzungen sind in eckigen Klammern eingefügt.
38) Die Gelehrten konnten aufgrund des Übergewichts (oder ihrer Körpergröße) keinen Beischlaf vollziehen. Vielleicht hatten sie aber auch eine solch groteske Körperform, dass sie ihren Frauen widerwärtig waren und der Verkehr deshalb unmöglich war.
39) Die Frau, offenbar eine vornehme Römerin, will sagen, dass ein solches Übergewicht der Frauen den Beischlafauch ihrerseits physisch unmöglich macht.
40) bBM 84a.
41) Vgl. Septimus, Revisiting (s. Anm. 2), 429. L. Goldschmidts Erklärung (Der Babylonische Talmud, Bd. 7, 724; vgl. oben Anm. 26), gemeint sei der Körperumfang, die Übersetzung »männliches Glied« habe dem Talmud »unverdienten Spott« eingetragen, ist apologetisch zu verstehen.
42) 1Kor 4,15. Die Reaktion auf die Konzeption ausschließlich geistlicher Zeugung steht offenbar bereits im Neuen Testament (1Tim 5,14: »ich will, dass junge Witwen Kinder gebären«). Zu spiritueller vs. »fleischlicher« Abrahamskindschaft vgl. Caroline Johnson Hodge, If Sons, Then Heirs. A Study of Kinship and Ethnicity in the Letters of Paul, Oxford 2007.
43) A. a. O., 430.
44) Wenn Paulus von »Israel kata sarka« spricht, dies scheint der Sinn dieser Talmudexegese Boyarins zu sein, nehmen die Rabbinen dieses Fremdbild gewissermaßen für sich selbst an und übersteigern es in einer Art Trotz, den der moderne Ausleger für problematisch hält.
45) Septimus, Revisiting (s. Anm. 2), 433. Zu Menippos von Gadara (3. Jh. v. Chr.) und seinem Gefolgsmann, dem Satiriker Lukian von Samosata (2. Jh. v. Chr.), vgl. Boyarin, Socrates (s. Anm. 12), 193–242.
46) Zur Analyse des Trickster-Phänomens auf den Spuren Boyarins vgl. Matthias Morgenstern, »Gendered Resistance«. Anmerkungen zur Makkabäer-Rezeption im rabbinischen und modernen Judentum, in: Friedrich Avemarie, Predrag Bukovec, Stefan Krauter, Michael Tilly (Hg.), Die Makkabäer, Tübingen 2017, 379–401.
47) Zu jüdischem Traditionsgut (einschließlich der Rezeption der Makkabäerbücher) in den Märtyrerakten Polykarps vgl. Boyarin, Dying for God (s. Anm. 13), 115–117.205–209.
48) Boyarin, Dying for God (s. Anm. 13), 105.
49) A. a. O., 109.
50) Vgl. Peter Schäfer, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017.
51) Boyarin, Abgrenzungen (s. Anm. 4), 134.
52) A. a. O., 289.
53) A. a. O., 297 f.
54) A. a. O., 313.
55) A. a. O., 310.
56) A. a. O., 216.
57) Ebd.
58) Boyarin, Dying for God (s. Anm. 13), 208.
59) Boyarin, Abgrenzungen (s. Anm. 4), 55.88.259.
60) A. a. O., 108 ff. Gemeint ist der erste Abschnitt des TalmudtraktatsSprüche der Väter.
61) A. a. O., 79.
62) A. a. O., 271.
63) Rabbi Jose der Galiläer wies seinen Kollegen, der nach Boyarins Deutung demnach zeitweise offen für eine Art christologischer Auslegung von Texten der Bibel Israels war, daraufhin mit den Worten zurecht: »Aqiva, wie lange willst du die [göttliche] Einwohnung [noch] profanieren?« Weiter heißt es, die Throne seien vielmehr für die beiden göttlichen Eigenschaften der Strenge und der Barmherzigkeit bestimmt.
64) A. a. O., 101. Vgl. hierzu aber bereits Peter Schäfer, Die sogenannte Synode von Jabne. Zur Trennung von Juden und Christen im 1./2. Jahrhundert nach Christus, in: Judaica 31 (1975), 54–64.
65) Boyarin, Dying for God (s. Anm. 13), 313.
66) A. a. O., 319.
67) So meine Übersetzung von »God himself suffers a fall into language, and thus into linguistic indeterminacy« (Border Lines, 178). In der Übersetzung ist, die ungewohnte Metapher abmildernd, von der »Vorstellung« die Rede, »nach der Gott selbst darunter leidet, in die Sprache und also in linguistische Unentschiedenheit gefallen zu sein« (Abgrenzungen [s. Anm. 4], 258). Der Begriff »indeterminacy«, auf dessen BedeutungBorder Lines wiederholt hinweist (176.183), sollte aber weder mit »Unentschiedenheit« (vgl. auch Abgrenzungen, 275.277 u. ö.) noch mit »Unentscheidbarkeit« (Abgrenzungen, 265 ff.) wiedergegeben werden. Letzteres entspricht eher der »undecidability« (so das Pendant in: Border Lines, 256), während der hermeneutische Topos »indeterminacy« (vgl. Border Lines, 265) nicht nur besagen will, dass die Rabbinen exegetische Fragen nach dem »Logos« eines Textes nicht entscheiden wollten, sondern dass sie nun faktisch (nach Gottes »Textwerdung«)unentscheidbar waren.
68) Boyarin, Abgrenzungen (s. Anm. 4), 258.
69) A. a. O., 177.
70) A. a. O., 234.
71) A. a. O., 275 f.
72) A. a. O., 276.
73) A. a. O., 250 f.
74) A. a. O., 248.
75) Vgl. a. a. O., 256.
76) Boyarin, Carnal Israel (s. Anm. 12), IX.
77) A. a. O., 229 (»counterproductive and disempowering for change«).
78) A. a. O., 230.
79) Boyarin, Border Lines (s. Anm. 4), 228.
80) An anderer Stelle habe ich auf Boyarins (und Rabbi Aqivas) Spuren versucht, im Dialog mit rabbinischen Texten und im konstruktiven Bezug auf sie, den »Logos« eines Textes der Hebräischen Bibel wiederzufinden und so, tastend und vorsichtig, eine christliche Midraschdeutung zu ermöglichen: Matthias Morgenstern, Jesus Christus – der »wahre Jakob« und die Himmelsleiter. Midraschtexte als Hilfe, die Hebräische Bibel christologisch zu deuten, in: Deutsches Pfarrerblatt 2021, Nr. 3, 149–154.