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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1099–1101

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Thomas, Günter

Titel/Untertitel:

Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 368 S. Kart. EUR 16,00. ISBN 9783374066797.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Im Jahre 1921 hat der evangelische Theologe Werner Elert unter dem Titel »Der Kampf um das Christentum« sein erstes umfangreiches Werk vorgelegt (vgl. die Rezension von E. Hirsch in: ThLZ 47, 1922, 281 f.). Darin wird eine Rückbesinnung des Christentums auf seine »qualitative Selbständigkeit« gefordert – auch um den Preis einer Distanz gegenüber seiner Umwelt. Knapp 100 Jahre später hat der Bochumer Theologe Günter Thomas einen »an alle getauften Christen« (8) gerichteten »langen Essay« (304) publiziert, in dem die bei Elert greifbare Verabschiedung des Kulturprotestantismus unter veränderten Voraussetzungen erneuert wird: »Die in die Religion des liberalen Protestantismus wie u. a. auch in den Sozialismus eingeschriebene Idee eines stetigen moralischen Fortschritts ist endgültig zu verabschieden. Als bürgerlich-kulturelle Variante starb diese Idee im Ersten Weltkrieg, als sozialtechnokratische und moralische Variante ist sie im Sozialismus sinnenfällig wieder auferstanden – um doch wieder zu sterben.« (245) Der deutsche Nachkriegsprotestantismus allerdings habe sich diese überlebte Ideologie zu eigen gemacht, und sein Zeitgeistappeasement sei wesentlich mitverantwortlich für die aktuelle Krise der evangelischen Kirchen, die »zunehmend manisch-depressiv werden« (5).

»Die Kirchen«, so betont T., »sind kein Stück Treibholz auf dem Meer der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklungen« (19; vgl. 92 ff.). Vielmehr sind sie dazu gefordert und grundsätzlich auch fähig, »sich mit ihren Umgebungen selbstbewusst und kritisch auseinander[zu]setzen« (19). Der deutsche Nachkriegsprotestantismus hat sich allerdings seine »qualitative Selbständigkeit« (Elert) weitgehend abtrainiert. An dieser Stelle setzt T. mit seiner – oft in sehr pointierten Formulierungen vorgetragenen – Kritik ein. Er diagnostiziert in der evangelischen Kirche – er spricht wiederholt etwas pauschal von den »Kirchen des liberalen Protestantismus« (70.186 u. ö.) oder von den »liberalen Kirchen des Westens« (165, vgl. 242) – ein eklatantes Defizit an theologischer Orientierung.

Dabei wird zunächst die »philonische Entscheidung« als eine »enorm problemschaffende Lösung« (33) in Anschlag gebracht: Bereits Philo von Alexandrien hatte die jüdische Theologie an die pagan-philosophische (und nicht an die mythische) Theologie angeschlossen, eine Entscheidung, die auch christentumsgeschichtlich folgenreich war: »Auf diesen Schienen rollt der Zug der westlichen Theologie bis heute.« (32) Durch ihre selbstverschuldete Mythos-Abstinenz kann die Kirche im das 21. Jh. prägenden »brutalen Kampf der Erzählungen« (280) nicht bestehen. Sie kann weder »die mächtigen Praktiken und Kräfte der mythischen Realität in der gegenwärtigen Gesellschaft« angemessen würdigen noch »die dramatische Lebendigkeit Gottes« im Blick haben (33). Sie kann deshalb kein konstruktives Verhältnis zu ihren drei aus Sicht des Verf. gegenwärtig maßgeblichen und durchweg ambivalenten Erzählumgebungen aufbauen; gemeint sind der Vitalismus, der Neostoizismus und die verzweifelte Hoffnung (vgl. 38–48).

Theologisch geht es daher vor allem darum, dass sich die Kirche »als im Weltabenteuer Gottes stehend« begreift (51). Gott ist ein Weltabenteurer, der als Regisseur im von ihm inszenierten Drama »gebend und empfangend präsent und abwesend« ist (54) und »in seinem Weltabenteuer Hoffnung auf Menschen« setzt (211) – das ist die theologische Grundüberzeugung T.’, an der die Einzeldiagnosen zu aktuellen Krisen ebenso hängen wie die Therapievorschläge. Die kirchliche Handlungswirklichkeit wird deshalb als christliche Mythologie begriffen: »Pfarrer sorgen dafür, dass die Erzählung von Gottes Weltabenteuer erzählt und seine Verwicklung mit der Welt gefeiert wird« (309).

Was die Krisendiagnose angeht, so werden (über die genannte philonische Entscheidung hinaus) acht neuere theologiegeschichtliche Weichenstellungen skizziert, die erneut als problemschaffende Lösungen dargestellt sind und deren krisenkatalytische Brisanz aufgedeckt wird (vgl. 97–118). Wer hier eine Neuauflage der abgestandenen Kritik der klassischen Liberalen Theologie erwartet, wird glücklicherweise überwiegend enttäuscht. Im Visier des Verf. erscheinen vielmehr vor allem Autoren wie Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Wolfgang Huber, Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle und Michael Welker. Sie alle haben auf je unterschiedliche Weise die sozialtechnokratisch-moralische Variante der Ideologie des stetigen moralischen Fortschritts mit dem christlichen Glauben verbunden. Daraus folgten vielfältige Entgrenzungserscheinungen, die schließlich in das Widerspiel von Doppelmoral und spiritueller Erschöpfung mündeten (vgl. 118).

T. trägt nun ausführlich vor, wie in einer sich als im Weltabenteuer Gottes stehend begreifenden Kirche Glaube, Liebe und Hoffnung so kommuniziert werden können, dass die desaströsen Entgrenzungsphänomene zugunsten von »Grenzmanagement« (92) vermieden werden (vgl. 133–302): »Gottes Lebendigkeit entlastet die Christen und seine Kirche. Weil Gott ein lebendiger ist, kann die Kirche auch etwas sein lassen, ja unterlassen.« (140) Damit ist die Grundorientierung vorgegeben: Die Kirche soll nicht sich selbst (manisch) überlasten, denn dann liegt ihre Zukunft entweder »in der Existenz als elitärer moralischer Agentur für verzweifelte Hoffnung. Sozusagen als kleine, aber feine Jakobinerbildungsanstalt« (243). Oder sie muss angesichts ihrer Selbstüberlastung scheitern, was zu Verzweiflung und schließlich in die Depression führt. Es geht T. also darum, christlich-kirchliches Handeln auf das Menschenmögliche zu begrenzen, ohne dabei in Zynismus zu verfallen. Als der »Leuchtturm, an dem sich die Navigation der Kirche immer ausrichten kann und soll« gilt ihm daher nicht das Reich Gottes; dies wäre eine »Einladung zu illusionärer Hoffnung«. Beim in Rede stehenden Leuchtturm handelt es sich vielmehr um den »lebendige[n] Christus«, in dem das göttliche Ja zur Schöpfung (Inkarnation) und das »Versprechen eines ganz neuen Kapitels im Weltabenteuer Gottes« (Auferstehung) koexistieren mit Verweisen auf die »Risiken und Brüche dieser Schöpfung im Leben Jesu« und »die Offenbarung der Gewaltverhältnisse dieser Schöpfung am Kreuz« (253 f.).

Im Einzelnen richtet sich die Kommunikation des Glaubens gegen die verzweifelte Hoffnung, indem sie den Einzelnen von der umfassenden Weltverantwortung befreit und dadurch die Übernahme von konkreter Verantwortung ermöglicht, die allerdings »immer Fragment bleiben wird« (276). Die Kommunikation von Hoffnung wiederum will »vom süßen Gift des Neostoizismus« befreien (274). Dabei muss allerdings an die Stelle der mit dem Moltmannschen Hoffnungsbegriff verwobenen »Zuversicht der 68er bzw. der folgenden Habermas-Jahrzehnte« (245) ein »Pragmatismus der Hoffnung« treten, der »zwischen einer nüchtern-realistischen Analyse« einerseits und einem »Mut, ungeahnte Möglichkeiten einzuspielen«, andererseits navigiert (252). Die Kommunikation von Liebe schließlich »wendet sich gegen das Misstrauen, das der Vitalismus Gott gegenüber hat«, indem sie den Menschen vom »Zwang der Unbarmherzigkeit« befreit (274). – Das kirchliche Handeln im Horizont der so verstandenen Glaubens-, Hoffnungs- und Liebeskommunikation unter dem Vorzeichen von Grenzmanagement erfordert gegenwärtig – namentlich angesichts gesellschaftlicher Spaltungen – »den Mut und die Kraft zu einer Gegenkultur«, was insbesondere die Freiheit impliziert, »nicht Echokammer gesellschaftlicher Empörung sein zu wollen« (292).

Das Buch, dessen inhaltliche Pointen in der vorstehenden Skizze noch nicht vollständig dargestellt wurden, ist vollgepackt mit interessanten theologischen Überlegungen, klugen Diagnosen, bedenkenswerten Therapievorschlägen und knackigen Formulierungen. Wer an der Situation des deutschen Gegenwartsprotestantismus in ähnlicher Weise leidet wie T., wird den Großessay auch dann gern zur Hand nehmen, wenn ihm die fundierenden theologischen Grundaussagen hier und da zu steil geraten und die theologiegeschichtlichen Referenzen manchmal zu unpräzise formuliert sind. Denn: Dass T. in einem ausdrücklich nicht (nur) an Fachtheologen adressierten Text die gegenwärtige Krise des evangelischen Chris-tentums als Folge einer theologischen Fehlorientierung zu diagnostizieren sucht, ist mutig und riskant – und zugleich schon ein Teil des ihm vor Augen stehenden Therapieprogramms.