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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1096–1097

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kablitz, Andreas, Markschies, Christoph, u. Peter Strohschneider [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Hermeneutik unter Verdacht.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XVIII, 229 S. = Text und Textlichkeit, 2. Geb. EUR 39,95. ISBN 9783110698022.

Rezensent:

Alexander Nebrig

Kritiker der Hermeneutik übersehen, dass sie sich – ohne dies explizit zu machen – meist auf eine bestimmte Spielart der Hermeneutik beziehen, obgleich ihr Anspruch allgemein ist; sie kritisieren die Hermeneutik als Ganzes. Trotz der Tatsache, dass man sich der hermeneutischen Situation weder im Alltag noch in der geisteswissenschaftlichen Untersuchung entziehen kann, hat sich der Eindruck durchgesetzt, die Hermeneutik sei ein Relikt vorzugsweise des 20. Jh.s. Zu sagen, man verfahre hermeneutisch, klingt nach europäischer oder gar deutscher old school-Philologie.

Im anregenden Podiumsgespräch zwischen Julika Griem, Christoph König und Andreas Kablitz, das die Herausgeber des vorliegenden Bandes im Anschluss an die sechs Beiträge aus verschiedenen Disziplinen abdrucken (199–218), werden aktuelle Vorbehalte gegenüber der Hermeneutik diskutiert: Ihr Intersubjektivitätsgrad stehe in Frage (199), so ein naturwissenschaftlicher Einwand. Von literaturwissenschaftlicher Seite wiederum wird ihr vorgeworfen, vereindeutigen zu wollen und mit dieser »Sinnüberzeugung« (214) gerade die spezifische Mehrdeutigkeit der Literatur zu negieren (ebd.). Andere wiederum stoßen sich an der Tiefenhermeneutik, die unter der textuellen Oberfläche, meist dramatisch inszeniert, vorgibt, nach Sinn zu schürfen (202). Eine weitere, eng damit verbundene und im angelsächsischen Raum beliebte Variante war die »Hermeneutik des Verdachts« (201), die jedoch im Unterschied zur Schürf-Hermeneutik die Texte gegen den Strich las. Dann ist da noch die philosophische Hermeneutik Gadamers und Heideggers, die in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s nicht selten mit der Hermeneutik überhaupt identifiziert wurde. Schließlich, so ein letzter Verdacht, verbinde sich mit Hermeneutik eine aufwendige und weltabgewandte Lektürepraxis, die Studierende nicht mehr anspreche (208).

Im kurzen Vorwort des Bandes, der sich als Verteidigung der Hermeneutik begreift, nennen die Herausgeber Gründe für die Abkehr vom hermeneutischen Paradigma. Schnell wird klar: Die Digitalisierung der Lebenswelt, die zunehmende Überantwortung von Entscheidungen an künstliche Intelligenz, die automatisierte Datenverarbeitung, die nicht nur ohne Menschen auskommt, sondern überdies ausschließlich maschinell zu bewältigen ist, bestärkt den Eindruck, dass die an das menschliche Bewusstsein (vgl. den Beitrag des Kulturtheoretikers Jan Söffner, 1–21) und die individuelle Erfahrung gekoppelte Hermeneutik, bedeutungslos geworden ist. Wozu interpretieren, wenn die Informationsbeschaffung jedes menschliche Maß übersteigt und man als Individuum dem algorithmisch generierten Wissen ausgeliefert ist. Man nutzt es freilich – aber kann man es interpretieren? Texte zu interpretieren ist nicht etwa hoffnungslos veraltet, weil der Textbegriff ausgedehnt wurde, wie die Herausgeber zunächst überlegen (VIII). Schon eher mutet im Licht einer digitalen und maschinell organisierten Informationsverarbeitung auf digitalen Plattformen und den damit verbundenen »impliziten wie expliziten Objektivitätsversprechen« (IX) die hermeneutische Praxis anachronistisch an.

Nach Söffners Verteidigung der narrativen Leistung, die der Hermeneutik innewohne und die der algorithmischen Datenverarbeitung überlegen sei, widmet sich der Beitrag der Philosophin und Wissenschaftstheoretikerin Gabriele Gramelsberger einer Hermeneutik der Maschinen (23–43). Gramelsberger weist auf maschinell erzeugte Fehldeutungen hin, auf »immer komplexere Entscheidungslogiken« und deren zunehmende »hermeneutische Gewalt« (34) über den Einzelnen und die Gesellschaft. Diesem Autonomieverlust müsse man mit einer digitalen Bildung (digital literacy) begegnen (38). Der Germanist Steffen Martus diskutiert aus praxeologischer Perspektive den Widerspruch zwischen einer eifrigen hermeneutischen Praxis und der parallelen theoretischen Überwindung der Hermeneutik (45–81). Dafür wertet er digital die Beiträge der Deutschen Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1923–2018) aus und analysiert die unausgesprochenen sozialen Rahmenbedingungen und Vorannahmen des Interpretierens. Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive analysiert der Historiker André Krischer die Entscheidungsprozesse am Londoner Kanzleigericht, einer Rechtsinstitution des 18. Jh.s (83–114). Seine Auswertung zahlreicher Akten und Notizen kommt zu dem Ergebnis, dass sich das anscheinend individuelle Urteil des Lordkanzlers als »letzter Schritt einer Reihe von vorhergehenden Selektionen« (111) und kollaborativen schriftlichen Austauschprozessen erweist. Sowohl Krischers als auch Martus’ Beitrag plädieren dafür, hermeneutische Urteile als Ergebnis einer sozialen Praxis zu betrachten. Damit steht Krischer im Gegensatz zur klassischen Auffassung von Friedrich Schleiermacher, die den Akt des Verstehens als subjektive Leistung begreift, auch wenn Schleiermacher in seinen Akademiereden den Dialog stärker als Mittel der hermeneutischen Erkenntnis kennt. Ähnlich wie Söffner versucht der Theo-loge Philipp Stoellger die Hermeneutik mit anthropologischen Argumenten zu verteidigen (115–164). Indem er bei dessen Möglichkeitsbedingung ansetzt, führt er den hermeneutischen Akt auf das Nichtverstehen zurück und spricht vom Nichtverstehen als dem ersten Beweggrund des Verstehens (137–154), ein Gedanke, der auch auf dem Podium diskutiert wurde (207) und auf Friedrich Schlegels Schrift Über die Unverständlichkeit zurückgeht. Mit Verstehen gemeint ist nicht die Erfahrung von Sinnpräsenz, sondern die eines Mangels: Entweder werde das Nichtverstandene in das Schonverstandene integriert oder man begreife das Verstehen als unendliche Aufgabe im Anschluss wiederum an Friedrich Schlegel. Die Hermeneutik ist für Stoellger Medium einer Differenz- und Alteritätserfahrung. Der abschließende Beitrag des Theologen Christoph Markschies greift den Vorbehalt gegenüber der Hermeneutik auf, Sinn zu vereindeutigen (165–198). In drei historischen Fallstudien aus dem Gebiet der Bibelauslegung wird der Nachweis geführt, dass die »Sehnsucht nach Eindeutigkeit«, so der Titel des Beitrages, historisch variabel ist oder vom kommunikativen Kontext abhängt. Markschies zeigt zugleich unter Verweis auf Jochen Hörischs Polemik gegen die Hermeneutik aus dem Jahr 1988 (Die Wut des Verstehens), dass die Verdächtigungen, wie eingangs bemerkt, einzelne Aspekte aus der umfangreichen Geschichte der Hermeneutik herausheben und diese pars pro toto verabsolutieren – hier das Vereindeutigen des Sinns. Von der Hermeneutik im Kollektivsingular lässt sich folglich nur dann sprechen, wenn man akzeptiert, dass diese in unterschiedlichen Ausprägungen vorliegt. Das allein schon ist eine wichtige Erkenntnis des Bandes.