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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1088–1089

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kopp, Stefan, Schwemmer, Marius, u. Joachim Werz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Mehr als nur eine Dienerin der Liturgie. Zur Aufgabe der Kirchenmusik heute.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 278 S. = Kirche in Zeiten der Veränderung, 4. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783451388248.

Rezensent:

Andreas Marti

Über die Jahrhunderte gesehen ist das Verhältnis von Kirche und Musik ein konfliktuöses. Die verschiedenen Grade und Stadien dieses Konflikts beschreiben die Herausgeber im einleitenden Beitrag »Bestandteil, Dienerin oder Museumsstück der Liturgie?« (9-17). Zugespitzt auf die aktuelle kulturelle Situation nimmt Paul Thissen die historische Rekapitulation nochmals auf und zeichnet den »Entfremdungsprozess zwischen Kirche und musikalischer Moderne« nach (199-214). Deutlich wird in dieser längeren Perspektive die neue Dimension, die durch die Reformen des 2. Vatikanischen Konzils angestoßen wurden. Dabei wurden Anliegen der Aufklärungszeit aufgenommen, insbesondere jenes der verstandes- und gefühlsmäßigen Teilnahme der Gläubigen. Dass dies gerade auch in sakramentalen Feiern außerhalb der Messe zum Tragen kommt, zeigt Jürgen Bärsch mit Rückbezug auf Ritualien der Aufklärung (35-57). Die grundsätzliche Aufwertung der Rolle der Gemeinde hat zu einem neuen Verständnis des Chores geführt, mit dem Wandel vom Klerikerchor zum modernen Kirchenchor als »legitimer Stellvertretung« der Gemeinde. Dabei stellt sich die Frage der »Liturgiefähigkeit« in neuer Weise, wenn diese nicht mehr auf geweihte Männer beschränkt ist, sondern alle getauften Katholiken und in der Praxis vielleicht auch ungetaufte Chormitglieder einschließt (oder Getaufte anderer Konfessionen, was dem Beitrag hinzuzufügen wäre …). Winfried Haunerland (»Gesang und Instrumentalmusik als liturgisches Handeln«, 58-71) plädiert an dieser Stelle für differenzierte Kriterien für musikalische Handlungsträger, abhängig vom Grad des erforderlichen persönlichen Bekenntnisses. Die Entwicklung der Chöre zeichnet auch Marius Linnenborn (138-156) nach, mit dem Akzent auf dem Dienst in der Liturgie im gesanglichen Miteinander von Chor und Gemeinde als ecclesia orans.

Heftig und kontrovers diskutiert wurde in den letzten Jahrzehnten der Umgang mit dem Thesaurus musicae sacrae im Konflikt zwischen Kunstmusik und Volksgesang, insbesondere auf dem Gebiet des Ordinarium Missae. Franz Karl Praßl (91-111) relativiert diesen Konflikt einerseits mit dem Hinweis auf inzwischen praktizierte und erprobte Kombinationen in einer als kreativ dehnbar verstandenen liturgischen Grundordnung, andererseits mit der Forderung, den »Thesaurus« auch außerliturgisch zur Geltung zu bringen.

Die Diskussion ist in diesem Punkt offensichtlich in eine neue Phase getreten. Dies zeigt sich besonders in den Beiträgen, die sich mit der Bedeutung der Musik über die Liturgie hinaus im weiteren pastoralen Feld befassen. Godehard Weithoff (112-126) und Gerhard Schneider (127-137) skizzieren ein neues und weiter gefasstes kirchenmusikalisches Berufsbild, in welchem der Kirchenmusiker als pastoraler Mitarbeiter bei der Glaubenserschließung im generellen Sinne verstanden wird. Das ist zunächst als Aufwertung und Stärkung der Rolle in den Gemeinden zu sehen, darf aber nicht dazu führen, dass die »künstlerisch-ästhetische Eigenprägung des Berufs« durch einfache Parallelsetzung mit anderen pastoralen Berufen in Gefahr gerät. Was diese Neuausrichtung für die Ausbildung und für die Chorstrukturen für Folgen hat, zeigen Joachim Werz (157-171) am Phänomen der »Projektchöre in der Gesellschaft der Singularitäten« und ihrer Chancen als pastoraler Kontaktzone, Reiner Schuhenn an den Anforderungen an die Ausbildung (172-184), die stärker als bisher die künstlerische Gestaltung der Kasualien im Blick haben muss, und Marius Schwemmer an »Praise and Worhsip als ›neues‹ Teilspektrum« (185-196). In diesem Beitrag wird die Erweiterung der musikalischen Praxis im gesellschaftlichen Raum aufgezeigt; allerdings wäre hier wohl noch die eine oder andere Rückfrage an die in dieser Gattung dominierenden Texte zu stellen.

Von der Rezeption her argumentiert auch Stephan Wahle in seinem Beitrag zu »Chancen und Grenzen von Popmusik im Gottesdienst« (215-232). Er ruft dabei in Erinnerung, dass sowohl Ausführung wie musikalische und theologische Analyse dieser Musikgattungen große Herausforderungen darstellen, die häufig unterschätzt werden. Dafür können hier weite Bedeutungsräume eröffnet werden, nicht zuletzt im konfessionsübergreifenden Sinne. Das »ökumenische Potenzial der Kirchenmusik« stellt Stefan Kopp (250-262) dar, im historischen Blick auf die Übernahmen aus dem Kirchenliedrepertoire über die Konfessionsgrenzen hin, auf die aktuelle Gesangbuchsituation und im Plädoyer für eine «ökumenisch kompatible Kirchenmusik».

Die schon genannte, von Paul Thissen beschriebene Entfremdung zwischen Kirche und der musikalischen Moderne des 20. Jh.s (199-214) kennt Ausnahmen. Markus Schneider zeigt dies anhand der »Johannes-vom-Kreuz-Vertonungen von Hans Zender und Karol Beffa« (233-249).

Zwei Beiträge evangelischer Autoren befassen sich mit dem theologischen Hintergrund der Liturgie. Michael Meyer-Blanck verschiebt die Begriffe des Buchtitels auf die Frage »Musik – ›Magd‹ der Theologie?« (18-32), um diese Zuspitzung dann aber als unangemessen zu beschreiben. Vielmehr stellt er die Funktionen ästhetischer Erfahrungen in ihrer Affinität zum Religiösen heraus und sieht in der Erfahrung des Zweckfreien eine «aktive Passivität», die der Haltung des Gebets entspricht. Aus dieser Argumentation entspringt dann aber eine eventuell zu große Vorsicht gegenüber dem »Konzert«, zu dem der Gottesdienst werden könnte.

Jürgen Kampmann plädiert für den »Primat des Wortes Gottes in der Kirchenmusik« (72-87) um der eindeutigen Kommunikation willen. Hier wäre zu fragen, ob die Prozesshaftigkeit der Kommunikation und die Performativität der Sprache ausreichend berücksichtigt sind, bleiben doch die Folgerungen für die Kirchenmusik eher undeutlich, abgesehen von dem unbestreitbaren eschatologischen Vorbehalt des »Noch nicht«. Die viel genannte performative Wende kommt im abschließenden Text von Alexander Zerfass zum Zug. Er exemplifiziert »Die prophetische Funktion der Kirchenmusik« an Paul Gerhardts Lied »Die güldne Sonne« (263-276). Diese prophetische Rolle spielt die Musik »zwischen den Polen der biblisch kodifizierten und der selbst erlebten und erlittenen Erfahrung«.

Insgesamt entspricht der Sammelband sehr gut dem Reihentitel. Er markiert ein Stadium im kirchlichen Entwicklungsprozess, welches gründlich und differenziert wahrzunehmen für Liturgie und Kirchenmusik unabdingbar ist, zunächst für den katholischen Bereich, dann aber auch darüber hinaus.