Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1076–1078

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Angehrn, Emil

Titel/Untertitel:

Zur Sprache kommen. Von der Sprachlichkeit des Menschseins.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2021. 190 S. Kart. EUR 23,00. ISBN 9783796543722.

Rezensent:

Günter Bader

Dass die Sprache ein Labyrinth sei und es zu seiner Begehung des Fadens der Ariadne bedürfe, behauptet Emil Angehrn nicht. Doch einen »Leitfaden« (22) zum Stellenwert der Sprache in der menschlichen Lebenswelt will er schon vorlegen. Im »Hauptteil« (14), der sich nach Abzug von »Einleitung« und Schlusskapitel herausschält, enthält das im Format handbuchkleine, in der Substanz schwergewichtige Büchlein eine Besinnung auf die Sprache der phänomenologisch-hermeneutischen Art (22.106 f.) in einer Reihe von sechs unbezifferten Kapiteln. Sie beginnt »zunächst sprachintern« mit der Natur der Sprache, tritt aber über Themen wie Erwerb, Funktion und Performation der Sprache aus der bloßen Selbstbezüglichkeit heraus und wendet sich »externen Perspektiven« wie solchen der Sprache des Anderen und der Sprache der Dinge zu, in denen sie ihr Ziel findet. Die Aufgabe, »aufzufächern« und zu »entfalten« (23 f.), erfüllt sie, indem sie maximale Komplexion mit maximaler Durchsichtigkeit verbindet. Denn daran besteht kein Zweifel: Der Leitfaden, den Angehrn vorstellen will, ist nicht von der Art, dass er nur Kapitel um Kapitel durch die Gebiete der Sprache, intern und extern, hindurchführte. Er zeigt vielmehr die Besonderheit, selbst nichts als Sprache zu sein (17.81; vgl. 111), genau das also schon zu sein, wodurch er führen soll. Also zeigt er sich, weit entfernt davon, bloß als Material und Mittel zu fungieren, recht eigentlich als Medium. Er ist in sich bereits gesponnen, wenn nicht »verflochten« (55.93.155.158) oder gar »verwoben« (91.155). Daher kommt Sprache überall mindestens zweimal vor: nicht nur gegenständlich, was, wie der Gang der Untersuchung zeigt, bereits komplex genug wäre, sondern auch ungegenständlich, die Untersuchung immer schon bedingend, was die Komplexion noch einmal potenziert. So sehr das Bild des Leitfadens die schlichte Erwartung von Verlauf und Folge weckt, den Fortgang und Folge des Büchleins auch durchaus erfüllen: seine innere Verdopplung bewirkt, dass sich im Gegenzug zum Verlauf auch ein Gleichbleiben an jeder Stelle einstellt. Dies wird (wohl an die dreißig Mal) signalisiert durch die Phrase vom »Wunder der Sprache«, die den Text nicht nur zu Anfang und Schluss thematisch umklammert hält (9 ff.161 ff.), sondern ihn auch wieder und wieder geradezu unterbricht wie eine gleichbleibende Akklamation, deren Sinn im Lauf des Textes keiner Veränderung oder Entwicklung unterliegt.

An den Titel Zur Sprache kommen schließt der völlig unspektakuläre Satz an, der aber die Schaltstelle des gesamten Werks in sich birgt: Die »Formel des Zur-Sprache-Kommens […] umfasst eine aufschlussreiche zweifache Doppelperspektive« (12). Zweifach: das ist doppelt. Also handelt es sich um ein Quadrupel, um eine doppelte Doppelperspektive, die sich keineswegs in der »Doppeldimensionalität des Sprechens selbst«, in der »Zwiefalt von Sagen und Gesagtem (de dire/le dit)« (118) erschöpft. Vielmehr unterliegt selbst sie noch einmal der »Verdoppelung« (105): jede der beiden Seiten ist bereits in sich mehrschichtig, und dies macht die Auseinanderlegung des »Reichtums der Sprachlichkeit« erst recht »aufschlussreich« (12). Was anfänglich als fortlaufender Leitfaden vor Augen stand, ist damit endgültig zum »Knoten« (12; vgl. 62) geworden, an dessen Enodation Angehrn arbeitet. Allerdings bleibt Mühe und Arbeit der erwähnten sechs Kapitel stets bezogen auf die »Feier« (157 ff.; vgl. 40), welche die Sprache in ihrer innersten Einfachheit ist. Hier hat Angehrn in wenigen Sätzen (12 f.) eine Dichtigkeit der Komplexion erreicht, die man seit Dionysius Areopagita, Epist. IX, 1 (PG 3, 1105D), nicht oft zu sehen bekommt. Dort wurde sie, nahe beim Bild des Knotens, mit der platonischen Metapher der »Verflechtung« (sumplok) verbunden, von der Angehrn an anderen Stellen (49.59.122.142.145) häufig Gebrauch macht.

Die erste doppelte Doppelperspektive entsteht aus Zur-Sprache-Kommen auf der einen und Zur- Sprache-Bringen auf der anderen Seite. Sie ist nicht nur fundamental, sondern erweist sich auch als stark genug, die Schrift fast in ganzer Länge zu durchdringen, ja mehr: sie in ihrem Aufbau zu formen. So kommt es bereits in den Eingangspartien zur Paarbildung des zweiten und dritten Kapitels (43 ff.65 ff.), und das letzte, sechste Kapitel läuft noch einmal auf den Grundtakt »Zur Sprache bringen – zur Sprache kommen« (151 ff.) hinaus. Ob die Doppelung dieser beiden »Kehrseiten« (43), die eine mehr medial und passiv, die andere instrumental und aktiv, als Symmetrie aufgefasst werden soll, lässt sich schwer sagen. Nicht nur die Einseitigkeit des Buchtitels, sondern auch die Bearbeitungsfrequenz bei der Durchführung der Untersuchung sprechen eher für eine gewisse Präferenz der Seite des Kommens. Jedoch als doppelte Doppelperspektive erweisen sich Kommen und Bringen erst, wenn jede Seite noch einmal gedoppelt ist. Wie nämlich das Zur-Sprache-Kommen, so ist auch das Zur-Sprache-Bringen nicht nur ein gegenständlich-transitives, sondern auch ein selbstbezüglich-mediales Geschehen. In dieser doppelten Doppelperspektive, die das gesamte Buch wie eine Klammer umgreift, meldet sich bereits (vorlaut?) die zweite, »andere[.] Begriffsklammer«, diejenige von Ist und Hat. »Sprache ist ein Anfang im Leben, […] und sie hat einen Anfang im Leben« (13). Überraschenderweise bleibt sie an Komplexion wie an konstruktiver Kraft hinter der ersten zurück; sie formiert nur zwei Abschnitte der »Einleitung« (Ist 14 ff.; Hat 18 ff.), um sodann wieder aus dem Text zu verschwinden.

In seiner vorliegenden Gestalt macht A.s Buch von drei biblischen (oder einerlei: mythischen S. 136) Aussagen Gebrauch, willent- und wissentlich was die beiden ersten, unwillentlich was die dritte anlangt. Die erste Begriffsklammer von Kommen und Bringen nimmt gern das erste Schöpfungswort aus Gen 1,3 »Es werde Licht« für sich in Anspruch (14) und dient als »Sinnbild« (40 f.) oder »Ursprungsfigur« (41.169) für das phänomenologische Hellwerden der Welt, sobald diese sich von sich selbst herzeigt. Hierbei handelt es sich um das schlechthinnige Urereignis des entgegen-kommenden Sinnes, der sich im Rätsel der Sichtbarkeit offenbart (157 ff.). Dagegen die zweite Begriffsklammer von Ist und Hat wird von vornherein mit Joh 1,1 verbunden (14), und zwar so, dass man die Seite des Ist mit der Übersetzung »Im Anfang war das Wort« (14.169), die des Hat mit »Am Anfang war das Wort« (9.77) verknüpfen zu können meint. Einerlei wie, beide Versionen bilden eine »Chiffre« (14) für die existentielle und essentielle Sprachlichkeit des Menschen, die im Wunder der Sprache zum Ereignis wird (161 ff.). Beide Klammern, die der Sichtbarkeit ebenso wie die der Sprachlichkeit, fügen sich ineinander durch die Analogie »Wie/so« (40.163 f.169), die in ihrem Zusammenwirken »gelingendes Leben« (154) und Hellwerden der Existenz bewirkt (166 ff.). Mehr als die bisher genannten zwei Begriffsklammern sind von Autorseite nicht erwähnt. Mehr sind auch nicht erfordert.

Zwar ist die Gegenwart von Gadamers »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« (17.39.101.182) allenthalben spürbar, und ein Mal verdichtet sie sich sogar so sehr, dass Gadamers hermeneutischer Schlüsselsatz die Auszeichnung erhält, er sei »emblematisch« (133). Aber noch besteht eine kategoriale Differenz zwischen dem emblematischen Satz im Text des Autors und dem Emblem selbst, mit dem der Buchblock des fertigen Produkts so beginnt wie endet (1, 200). Bekanntlich macht sich der Benno-Schwabe-Verlag das alte Signet der Basler Offizin Henricus Petri zueigen, das Jer 23,29 aufnimmt: »Jst mein wort nicht wie ein Fewer / spricht der HERR / vnd wie ein Hamer der Felsen zuschmeist?« Dies legt sich de facto wie eine dritte Klammer um das Buch und rahmt es. Die dritte biblische Aussage, eine prophetische, lässt fragen: Ist die dritte Klammer von den ersten beiden schon eingeholt, oder eben noch nicht? Das Verlagsemblem am Anfang und Ende des Büchleins zündelt. Ein Streich des Zündelns wäre es etwa, die S. 93 erwähnten Absonderlichkeiten der Portugieser- und Spanierkrankheit »saudade« (solitudo) bzw. der Schweizerkrankheit »Heimweh« (nostalgia), denen gelingendes Leben aussteht, daraufhin zu prüfen, ob sie in Zur Sprache kommen bereits aufgehen, oder eben nicht.