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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1055–1058

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jürgens, Henning P., u. Christian Volkmar Witt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

An den Rand gedrängt – den Rand gewählt. Marginalisierungsstrategien in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 300 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 41. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374068166.

Rezensent:

Luise Schorn-Schütte

Dieser Sammelband ist das Ergebnis der XIV. Wittenberger Frühjahrstagung, die im März 2020 in der Leucorea stattfand. Die Thematik entstammt dem im Forschungsprogramm des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, angesiedelten Forschungsbereich »Pluralisierung und Marginalität«. Etliche der dort zusammenarbeitenden Wissenschaftler sind Beiträger des Bandes. Die Kernfrage bezieht sich auf das spannungsreiche Verhältnis von »beanspruchter Orthodoxie einerseits, Fremdmarginalisierung durch Verketzerung sowie religiöser Devianz oder selbstbewusst gewählter Marginalisierung andererseits« (Einleitung, 10). Der hier auf die europäische frühe Neuzeit konzentrierte Blick geht von dem durch die Reformation freigesetzten Pluralisierungs- und Differenzierungsschub aus, wonach die Frühneuzeit eine Epoche gewesen sei, »in der aus der traditionalen Einheit eine neue Vielfalt entstand […], dass aber die Menschen nicht bereit waren, diese neue Vielfalt anzuerkennen« (Zitat Kampmann, 11, Anm. 6).

Diese differenzbedingte Pluralität ohne Akzeptanz war, so die These der Herausgeber, eine Signatur der Zeit. Sie fand sich auf dem Feld der Religion und Konfession wieder und prägte die Debattenkultur der Zeitgenossen. Die verschiedenen konfessionellen Wahrheitsansprüche standen in Spannung zu kirchlichinstitutionellen Ordnungsvorstellungen, daraus entwickelten sich Aus- und Abgrenzungen nach innen und nach außen. Das Analyseinstrument, das die Herausgeber anbieten, wird als Selbst- und Fremdmarginalisierung bezeichnet.

Die einzelnen Beiträger nehmen diesen Fragerahmen zumeist in Fallstudien unterschiedlich intensiv bis hin zur vorsichtigen Skepsis auf. Letztere drückt in feiner Distanz u. a. R. Kolb aus, wenn er in seiner Untersuchung »Die Kirche als kleine Herde. Die Wittenberger Ekklesiologie des Kreuzes nach 1548« Marginalisierung als »wissenschaftliches Modewort des 21. Jahrhunderts« bezeichnet (27), den Begriff aber zugleich definiert als Beschreibung des »Verhältnisses von Gruppen innerhalb einer größeren sozialen Einheit in räumlicher Terminologie«. In der Charakterisierung der Ekklesiologie der Wittenberger Reformatoren zeigt sich ein zentrales Phänomen, das auch in anderen Beiträgen (H. P. Jürgens, Die Schleitheimer Artikel als Dokument der Selbstmarginalisierung; I. Dingel, Integration oder Marginalisierung. Der Umgang mit theologischer Devianz auf der Straßburger Synode von 1533, C. Ehlers, Eindeutiger Außenseiter? Die Auseinandersetzung des Flaciuskreises mit Schwenckfeld) im Zentrum steht: wer verkörpert die wahre Kirche und wer sind »die Heuchler und Ungläubigen«? Luther und seine Zeitgenossen benutzen zur Charakterisierung nicht das Wort Marginalisierung, sondern Bilder, wie dasjenige der Schafe unter den Wölfen. Und damit festigte sich das Bild der »Kirche als kleine Herde«.

Der räumliche, chronologische und konfessionelle Rahmen der Beiträge ist weit gespannt. So wird mit der Wahrnehmung des äthiopischen Christentums durch den europäischen Protestantismus des 16. Jh.s zwar eine Erweiterung des christlichen Welt-horizontes beschrieben (St. Palau, Neuvermessung der Ränder des Orbis christianus), zugleich aber dieses Christentum aufgrund seiner »Entlegenheit« durch die Zeitgenossen marginalisiert. In einer späteren Generation geriet es in theologischer Perspektive angesichts seines Antijudaismus (89) in weitere Marginalisierung, wurde aber zugleich als Alternative zur römischkatholischen Weltwahrnehmung positiv bewertet. Marginalisierung erweist sich als vieldeutiges politisches Argument.

Das gilt auch für die aufschlussreichen Untersuchungen zu Marginalisierungsprozessen in katholischen Kontexten (M. Müller, Die römische Zensur Johann Wilds und ihr Echo beim englischen Puritaner W. Crashaw Anfang des 17. Jh.s.; Chr. Wiesner, Diesseits oder jenseits des katholischen Randes? Zur Laienkelch- debatte). Müllers Skizze der verschiedenen Möglichkeiten der Selbst und Fremdmarginalisierung anhand der Biographie des J. Wild als Katholik, als Lutheraner und als Calvinist gibt Einblick einerseits in die Arbeit der Inquisition und andererseits in die Möglichkeit, mithilfe des Marginalisierungskonzeptes die Vielfalt der Wahrnehmung ein und derselben Wirklichkeit sichtbar zu machen. In allen Fällen waren die Zuschreibungen Mittel im konfessionellpolitischen Kampf. Entsprechendes gilt für die Skizze der Debatten um den Laienkelch seit dem Tridentinum. Dessen Zuschreibung und vielfache Marginalisierung jenseits einer ursprünglich biblischen Aussage war aufgrund der Deutung durch H. Jedins »Harmonisierungsthese« (159) lange Jahre für beide Konfessionen unumstößlich. Müller kann mit Hilfe der verschiedenen Marginalisierungsphasen belegen, dass Befürwortung oder Ablehnung des Laienkelchs stets ein konfessionspolitisches, häufiger ein machtpolitisches Argument gewesen ist – ein nicht zu unterschätzender Hinweis für aktuelle Debatten.

Mit den Beiträgen von A. Kohnle »Die Einschluss und Ausschlussformeln in reichsrechtlichen Dokumenten der Reforma-tionszeit« und St. Michel »Mandate gegen den Pietismus« wird die Relevanz rechtlicher Zuschreibungen als Marginalisierungsstrategie deutlich. Kohnle postuliert im Unterschied zu anderen Positionen sehr klar, dass im 16. Jh. die Vereindeutigung, nicht die Uneindeutigkeit oder gar die Verstellung dominiert habe. Es ging um Selbstverortung mit Hilfe theologiepolitischer Zusammenschlüsse, dies führte zur Bereitschaft, die jeweilige Position mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Politik und Recht hatten die Aufgabe, Differenzen friedensstiftend auszugleichen – aus reichsrechtlicher Sicht nicht mit Mitteln der Theologie, sondern durch Verfahrensregeln. Dazu gehörte selbstverständlich auch die Marginalisierung des Gegners. Dass diese Regeln auch für die innerprotestantische Auseinandersetzung um den Pietismus eingesetzt wurden, zeigt Michel anhand der Debatte um Erdmann Neumeis-ter seit dem Ende des 17. Jh.s. Unter der Fragestellung diese Bandes ist das Ergebnis, dass Selbst und Fremdverortung nicht miteinander übereinstimmten. Die wahre Gestalt der evangelischen Kirche musste gegen die sogenannte Heterodoxie abgegrenzt werden, da­zu wurden verschiedene Marginalisierungsstrategien eingesetzt, Michel nennt sie Klischeebildung (221).

Eine bemerkenswerte Entwicklung beschreibt Chr. Voigt-Goy in »›Öffentliche‹, ›private‹ und ›häusliche‹ Religionsausübung«, die sich für die begriffliche Unterscheidung dreier Formen der Religionspraxis im Kontext der Reichspublizistik des 16./17. Jh.s identifizieren lässt. Während sich diese semantischen Differenzierungen in europäischen Religionsfrieden der Frühen Neuzeit durch Marginalisierungen und/oder Kompromisse ausbildeten, lassen sich entsprechende Mechanismen in den Territorien des Alten Reichs nach 1555 nicht finden. Der methodische Ansatz des Autors besteht also gerade darin, fehlende Marginalisierungen fruchtbar zu machen. Voigt-Goy kann den Anlass und dessen Wirkung im juristischen Diskurs nachverfolgen und dabei innerterritoriale Religionsfreiheiten identifizieren, die als Freiheitsrechte gar nicht vorgesehen waren. Manifest wurden sie in der semantischen Differenzierung dreier Formen der Religionsausübung, für die Angehörigen des territorialen Untertanenverbandes lassen sich Freiheitsgewinne benennen. Die Funktion der dreifachen Unterscheidung ist, so das Fazit, »als politisches Instrument der sozialen Integration von konfessionsfremden Untertanen« (206) zu deuten.

Die Debatte um die soziale Rolle des Reichgrafenstandes um 1700 kann J. M. Lies mit seinem Beitrag: »Marginalisierung hoch2 = Elite?« klug erweitern. Seine These ist, dass die Fremdmarginalisierung durch die Selbstmarginalisierung als »Knechte Gottes« und damit einer »exklusiven Schar von Auserwählten« abgelöst werden konnte. Deren Sichtbarkeit lässt sich durch ostentative Frömmigkeit der Adligen als zugleich religiös begründete Repräsentation von Herrschaft erreichen (225). Dem in Frankreich anzunehmenden »Kultivierungsschub« des Adels steht im Alten Reich ein »Frömmigkeitsschub« gegenüber – beides erweist sich als Angriff auf die Marginalisierung der je eigenen Gruppe.

Mit einer wissenschaftshistorischen Untersuchung der Rolle der »Täufer in der römisch-katholischen Häresiographie des konfessionellen Zeitalters« (Steffie Schmidt), in der die wechselseitigen Marginalisierungen nachgewiesen werden, und mit einer theologiegeschichtlichen Analyse der traditionsreichen Marginalisierungsprozesse »Orthodoxie« gegen »Heterodoxie« von Chr. V. Witt (Der historiographische Rand als eigentliches heilsgeschichtliches Zentrum) wird der Band abgerundet

Was ist das Fazit? Das methodische Instrumentarium, das die Herausgeber anboten, wurde in verschiedenen fachlichen Richtungen unterschiedlich dicht und scharf eingesetzt. Eines lässt sich durchgängig festhalten: Marginalisierung wurde als politisches, theologiepolitisches und sozialhistorisches Machtinstrument verwendet. Das Forschungsfeld kann auf dieser Basis weiter vertieft und methodisch verfeinert werden.