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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1054–1055

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Homoki, Götz

Titel/Untertitel:

Identität – Habitus – Konformität. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu württembergischen Herzoglichen Stipendiaten in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 457 S. u. Bildteil m. 25 Abb. = Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, 25. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374068951.

Rezensent:

Reinhold Rieger

Der Begriff, der die These der Untersuchung schon im Titel ausspricht, ist der Begriff der Konformität. Götz Homoki, der seine von Sabine Holtz an der Universität Stuttgart betreute Dissertation einer exemplarischen Gruppe von Stipendiaten des Evangelischen Stifts in Tübingen im ausgehenden 17. Jh. widmet, wendet sich in Bezug auf diese Gruppe von der bisher in der historischen Sozialforschung verbreiteten Einschätzung der Verhaltensweisen der frühneuzeitlichen Studenten als deviant und nicht normkonform ab und weist nach, dass zumindest im Falle der von ihm untersuchten Gruppe das Gegenteil gilt. Dies macht er schon in der Einleitung klar. Neben normativen Quellen zur Regulierung des Stiftslebens stehen Selbstzeugnisse einer Gruppe von Stipendiaten im Vordergrund, die besonders auf deren akademischen Reisen entstanden sind: Briefe an das Konsistorium in Stuttgart und ein Tagebuch, beide in lateinischer Sprache verfasst. Ob allerdings diese Briefe, die doch zumindest auch der »Selbstinszenierung« (47) dienten, »Rückschlüsse auf das Selbstverständnis« (48) der Absender erlauben, erscheint zuerst als fraglich. Anders wird es beim Tagebuch stehen, das durchaus »Selbstcharakterisierung« und »Selbstdefinition« der Schreibenden enthält und so einen kritischen Maßstab zur Beurteilung der Briefe liefern kann. Die Antwort H.s auf die gestellte Frage nach dem Quellenwert der Briefe ist von daher positiv: die Studenten haben sich gegenüber der Obrigkeit nicht verstellt, weil sie deren Maßstäbe teilten, also normkonform dachten und handelten.

Analytische historische Grundbegriffe der Untersuchung sind die im Titel genannten: der Begriff der kulturhistorisch verstandenen Identität, des soziologisch bestimmten Habitus und der sozialwissenschaftlich definierten Konformität. Die beiden ersten Begriffe, Identität und Habitus, sind die Leitbegriffe der beiden Hauptkapitel, auf denen der Forschungsschwerpunkt der Untersuchung liegt. Ihnen vorangestellt wird ein Kapitel über die institutionellen Grundlagen des Lebens der Stipendiaten im Tübinger Stift, die Normen, denen sie unterlagen. Daran schließt sich eine Analyse der Rekrutierungsbasis der Stipendiaten an, die zum Ergebnis kommt, dass diese sich zunehmend auf Angehörige der Ehrbarkeit verengte. Im Hinblick auf die akademischen Reisen der Stipendiaten war entscheidend, dass diese erst Ende des 17. Jh.s unter dem Einfluss von Philipp Jakob Spener erlaubt und gefördert wurden. Die Reise der Stiftler im ausgehenden 17. Jh. wird von H. einerseits als präzedenzlos und exzeptionell, andererseits als exemplarisch bezeichnet, was nicht so recht zusammenpassen will. Da jedoch nicht die Reise als solche, sondern nur ihre Spuren als Quellen für Identität und Habitus herangezogen werden, ist diese Spannung nicht weiter relevant.

Während das Kapitel über die Grundlagen vor allem die Institution des Stifts betrachtet, wendet sich das Kapitel unter dem Leitbegriff der Identität den Prinzipien des stipendiatischen Lebens und Zusammenlebens zu. Gemeinschaftliche Zugehörigkeit mit Rangfolgen und Grenzziehungen durch Kleiderordnung, Zeremonien, Rituale bedingten die soziale Identität der Stipendiaten. Diese als »Subjektivierung« (160) zu deuten, leuchtet nicht ein, da die gruppenbezogene Identität mit ihrer Verinnerlichung vorgegebener Normen vielmehr einer Entsubjektivierung Vorschub leistete. Es sei denn, der Subjektbegriff wäre in diesem Zusammenhang eine Art von Rollenbegriff.

Exemplarisch soll die stipendiatische Identität unter dem Begriff des Habitus an einer Gruppe von Stiftlern gezeigt werden, denen eine längere akademische Auslandsreise bewilligt wurde. Dies ist Thema des umfangreichsten Kapitels der Untersuchung. Der Habitus wird darin mit den Stichworten Altsprachlichkeit, Geselligkeit, Männlichkeit, Bildungserlebnis und Bildungspraxis umschrieben, allerdings ohne Begründung und Reflexion der Auswahl dieser Aspekte. Der letzte Gesichtspunkt der Bildungspraxis bezieht sich auf die Auswertung und Wirkung der Bildungsreisen im späteren akademischen Leben der Stipendiaten. Eine Kehrseite ihrer Bildungsbeflissenheit war der Eindruck einer pedantischen Weltfremdheit, den sie vor allem bei Aufklärern hinterließen. Die Reiseerfahrungen haben aber durchaus zu einer Weltoffenheit der späteren Hochschullehrer beigetragen.

Die Untersuchung hebt die historische Stiftsforschung auf ein neues Niveau. Die verwendete analytische Begrifflichkeit ist einerseits hilfreich, andererseits erscheinen manche Begriffe als problematisch.

Der Anhang bietet Biogramme der reisenden Stipendiaten, Karten ihrer Reiserouten mit Quellenangaben, Verzeichnisse der Stipendiatenbriefe, ihrer Gelehrtenkontakte auf der Reise, sowie Diagramme zu den Berufen ihrer Väter. 25 Abbildungen veranschaulichen u. a. Studententypen, das äußere Erscheinungsbild der damaligen Stiftler, und zeigen Porträts der späteren Professoren. Ein Orts- und Personenregister beschließt den schön gestalteten Band.