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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1050–1051

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wieczorek, Tobias

Titel/Untertitel:

Die Nichtgläubigen – οἱ ἄπιστοι. Über die Funktion abgrenzender Sprache bei Paulus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 223 S. = Wissenschaftliche Monographien zur Alten und Neuen Testament, 163. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783788735241.

Rezensent:

Christoph Hammann

In seinen Briefen verwendet und prägt Paulus eine Reihe von Ausdrücken, mit denen er die Christusgläubigen, ihr Ethos und ihre Existenz »in Christus« bezeichnet. Daneben kennzeichnet er sie auch indirekt, nämlich durch Begriffe, die anzeigen, was die Nichtgläubigen – im Vergleich zu den Christusgläubigen – nicht sind. Dieser »negativen« Seite der paulinischen Begriffsprägungen geht die hier zu besprechende Monographie nach, die im Wintersemester 2018/19 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen wurde. Tobias Wieczorek, der Autor dieser bei Michael Wolter entstandenen neutestamentlichen Arbeit, steht inzwischen als Pfarrer im Dienst der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Im Zentrum der Studie stehen der Ausdruck οἱ ἄπιστοι (»die Nichtgläubigen«) und dessen Funktionen im Rahmen der brieflichen Korrespondenz des Paulus. Die Auswahl dieses Begriffs als des Untersuchungsgegenstands ist darin begründet, dass bei Paulus gerade die von πιστ* sich herleitenden Ausdrücke (wie οἱ πιστεύοντες) die Funktion zentraler identity marker erfüllen. Zur Bedeutung dieser Ausdrücke gibt es in der Forschung einen langen und intensiven Diskurs. Weniger berücksichtigt wurde dagegen bisher, dass auch ihren »privativen« Entsprechungen ἀπιστία, ἀπιστέω und ἄπιστος eine besondere Bedeutung zukommt, da es Paulus darum geht, die frühen Christusgläubigen von diesen Kategorien abzugrenzen (13 f.).

Die zentrale These, die W. in seiner Arbeit vertritt, lautet, dass sich Paulus mit dem Terminus οἱ ἄπιστοι eigentlich an die Glaubenden (πιστεύοντες) wendet und der Begriff insofern eine identitätsbildende und zugleich normative Funktion für die Christusgläubigen erfüllt. Damit geht er insofern über bisherige Forschungen zur Thematik hinaus, als diese den Begriff οἱ ἄπιστοι in erster Linie deskriptiv, also vornehmlich als eine Aussage über die damit bezeichneten Nichtgläubigen verstehen (17–23).

Bevor er der Funktion des Begriffs οἱ ἄπιστοι in 1Kor und 2Kor nachgeht, erkundet W. zunächst das Bedeutungsspektrum und die Gebrauchsweise des ἄπιστος-Begriffs in der griechischen Literatur vor Paulus (25–38). Dieses Kapitel deckt verschiedene Bezüge des Begriffs auf und stellt weiterhin die zentrale Differenz zur Verwendung des Begriffs οἱ ἄπιστοι bei Paulus heraus. In seinen Briefen erscheint dieser nämlich als Gegenbegriff zu den πιστεύοντες und damit als Sammelbegriff für diejenigen, die nicht zu den Glaubenden gehören.

Nach einer Verhältnisbestimmung der Begriffe »Die Glaubenden« (οἱ πιστεύοντες) und »Die Nichtgläubigen« (οἱ ἄπιστοι) (39–43) wendet sich W. in mehreren Kapiteln der Kontextualisierung des Begriffs οἱ ἄπιστοι in der Korrespondenz des Paulus mit den Korinthern in 1Kor und 2Kor zu.

Den Auftakt bildet eine Analyse von 1Kor 6,1–11 (45–64). In diesem Passus verfolge Paulus das Ziel, die Korinther davon abzubringen, Rechtsstreitigkeiten vor Menschen zu tragen, die nicht zur Gemeinde gehören. Dabei diene ihm der Begriff οἱ ἄπιστοι nicht dazu, die »weltlichen« Gerichte zu diskreditieren. Paulus verwende ihn vielmehr dazu, um eine Grenze zwischen »drinnen« und »draußen« zu ziehen. Eben diese Grenze mutet in 1Kor 7,12–16 weniger scharf an. In der Ehe eines Gläubigen und eines Nichtgläubigen strahle die Heiligkeit des Gläubigen nämlich auf den nichtgläubigen Partner aus, weshalb Paulus nicht zur Auflösung einer solchen »Mischehe« rät (65–82). Auch das gemeinsame Essen eines Gläubigen mit einem Nichtgläubigen verneint Paulus nicht, was W. in einem Kapitel zu 1Kor 10,27 zeigt (83–96). Diese nur durchlässige Grenze zwischen den Glaubenden und den Nichtgläubigen konkretisiert W. zudem an 1Kor 14,20–25. Die prophetische Rede bei einer Versammlung der Ekklesia könne einen Nichtgläubigen dazu bringen, ein Bekenntnis zu Gott abzulegen. An dieser Offenheit der Ekklesia zeige sich, dass aus einem ἄπιστος ein Glaubender werden kann (97–125).

In anderer Prägung erscheint der Begriff dann in 2Kor 4,1–6 (127–151). Paulus spricht hier das Problem an, dass das von ihm verkündete Evangelium bei den Verlorenen »verhüllt« ist, von diesen also nicht angenommen wird. Überzeugend zeigt W., dass »die Verlorenen« in diesem Kontext zugleich als »die Nichtgläubigen« erscheinen und umgekehrt. Auf Grund dieses Zusammenhangs hätte jedoch noch deutlicher hervorgehoben werden können, dass der (in 2Kor unter größerem Legitimationsdruck stehende) Apostel den Begriff οἱ ἄπιστοι gegenüber dem 1Kor nicht nur um eine »weitere Bedeutungskomponente« ergänzt (vgl. 150), sondern ihn insgesamt abgrenzender und polemischer verwendet als im 1Kor. Dies bestätigt auch W.s Analyse von 2Kor 6,14–7,1, da Paulus hier den Kontakt der Ekklesia mit den ἄπιστοι für unmöglich erklärt und somit eine klare Trennung vollzieht, um noch stärker auf die Ekklesia einwirken zu können (153–180). Dass dies keinen sachlichen Widerspruch zum 1Kor darstellen muss, begründet W. überzeugend mit den unterschiedlichen Kommunikationssituationen, die in den Briefen vorliegen (180.199).

W.s Dissertationsschrift überzeugt in mehrfacher Hinsicht. Die Thesen werden stets von dem zugrunde liegenden Paulus-Text abgeleitet, der jeweils am Anfang eines Kapitels auf Griechisch und in einer eigenen Übersetzung geboten wird. Der Verfasser arbeitet mit Feingliederungen der Texte (z. B. 129 oder 154), die für das Verständnis der Argumentationen des Paulus ebenso zuträglich sind wie seine präzisen Beobachtungen zur Semantik der Texte und seine Vergleiche mit den anderen Ausdrücken, die Paulus für die Nichtgläubigen gebraucht (181–196). Durch beständige Vergleiche mit älteren oder in zeitlicher Nähe stehenden jüdischen und griechischen Texten zeichnet W. die paulinischen Vorstellungen in die damalige Religionslandschaft ein. Zudem achtet er jeweils auf die Gesamtkontexte, in die die Verse zum Begriff οἱ ἄπιστοι eingebettet sind, und macht folglich auch deutlich, in welchen Fällen diese eher nur einen Beitrag zu dem eigentlichen Problem leisten, mit dem sich Paulus beschäftigt. Dabei vertritt W. seine Thesen nicht apodiktisch, sondern begründet ihre Plausibilität umsichtig im Gespräch mit anderen Forschungspositionen (z. B. 169 f.). Die Klarheit in der Darstellung und die Zusammenfassungen, die die Einzelkapitel jeweils abrunden, tragen maßgeblich zur Lesefreundlichkeit dieser Studie bei.

Leider findet sich am Ende des Buches nur ein Stellenregister. Die griechischen Texte bedürfen zudem an manchen Stellen der ein oder anderen Korrektur (z. B. 65). Dies schmälert jedoch den insgesamt sehr guten Eindruck, den diese Studie hinterlässt, kaum. W. zeigt in seiner neutestamentlichen Dissertationsschrift die pragmatische Dimension und die normative Funktion des Begriffs οἱ ἄπιστοι überzeugend auf und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung paulinischer Kommunikationsstrategien.