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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1044–1046

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schirr, Lennart H.

Titel/Untertitel:

Die Gemeinde als kosmische Größe. Eine Untersuchung zum Selbstverständnis der paulinischen Gemeinde im Diskurs antiker Kosmologien.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 472 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 67. Geb. EUR 94,00. ISBN 9783374067862.

Rezensent:

Peter Müller

Die in Halle entstandene, von Udo Schnelle betreute Dissertation will zeigen, »dass eine kosmologische Perspektive auf das Selbstverständnis der paulinischen Gemeinde nicht nur angemessen und gewinnbringend ist, sondern vielmehr unabdingbar, um die wesentlichen Aspekte des Selbstverständnisses der paulinischen Gemeinde verständlich zu machen« (397). Gegenüber der von Bultmann beeinflussten Deutung des Kosmos als Menschenwelt mit einem Fokus auf dem Individuum betonte schon Käsemann die »überindividuelle Zielrichtung der paulinisch-apokalyptischen Verkündigung« (32). Diese Sicht ist, ergänzt durch wichtige Aspekte griechisch-römischer Kosmologie, in neueren Arbeiten aufgegriffen worden, sodass man von einer »Wiederentdeckung der kosmologischen Perspektive« sprechen kann (40). Vor diesem Hintergrund formuliert Lennart H. Schirr die These: »Paulus entwickelt ein Selbstverständnis der Gemeinde, die als neue Größe in seinem kosmologischen Gesamtentwurf eingeführt wird und dadurch überindividuelle kosmische Bedeutung erhält.« (41) Dieser »kosmologische Gesamtentwurf« wird anhand der Themenfelder »Welt und Schöpfung« (57–156), »kosmische Wirkmächte« (157–254) und einem Kapitel über »das vermittelnde Pneuma« (303–396) aufgefächert. Ein Abschnitt über die »Gemeinde als kosmische Größe«, ein kurzer Ausblick auf die Paulus-Forschung sowie das Literaturverzeichnis und ein (leider recht fehlerhaftes) Stellenregister schließen die Arbeit ab (397–422).

Einem »weiten Begriff von Kosmologie« entsprechend (vgl. 24. 27 u. ö.) untersucht S. im Kapitel »Welt und Schöpfung« neben dem Begriff κόσμος auch αἰών und κτίσις und deren Interdependenzen. Der Kosmos stehe dabei nicht, wie in der griechisch-römischen Kosmologie, für die geordnete Welt, sondern bezeichne die gefallene Welt (127 u. ö.), wobei κτίσις aber die Erlösungswürdigkeit der Schöpfung Gottes festhalte (127.154). Aus der apokalyptischen Tradition des Aion-Begriffs folgert S., dass das Verhältnis von gegenwärtiger und zukünftiger Welt nicht als starres Nacheinander, sondern als ein schon in der Gegenwart wirksames Nebeneinander zu verstehen sei (75.154).

Im Kapitel »Kosmische Wirkmächte« geht es zunächst um die Abstraktionsmächte Sünde und Tod und ihre im paulinischen Verständnis »verhängnisvolle Selbstständigkeit«: »Während der Tod als kosmische Macht die Vergänglichkeit der Schöpfung begründe, wirk(e) die Macht der Sünde vor allem innerhalb des Menschen.« (301) »Solange der Mensch unter der Herrschaft der Sünde steht, wirkt er nicht gegen seinen Willen, sondern in völliger Zustimmung in Richtung des Todes, der der Lohn des Handelns ist.« (298) Demgegenüber folgten die Aussagen über Engel, Dämonen und den Satan traditionellen Mustern. Gemeinsam seien sie dem widergöttlichen Bereich zugeordnet. Der Kosmos werde als Betätigungsfeld verstanden, in dem sie ihre Herrschaft ausüben. In Aufnahme apokalyptischer Vorstellungen beschreibe Paulus den Sieg Christi aber als völlige Depotenzierung dieser Mächte (200 f.). Dies gelte auch für Satan, der mit konkreten Widrigkeiten und Anfeindungen in die Gemeinde hineinwirke (301). Die stoicheia tou kosmou werden als Sondergruppe interpretiert, da bei ihnen eine »Korrelation zwischen kultisch-religiöser Verehrung und kosmologischen Vorstellungen« erkennbar sei (300). Insgesamt sei kein geschlossenes dämonologisches System zu erkennen; es gehe Paulus vielmehr um die Beschreibung der Welt als eines erlösungsbedürftigen Bereichs.

Im Kapitel »Das vermittelnde Pneuma« beschreibt S. die »vermittelnd-kommunikative Funktionsweise« des Geistes: Der für die Endzeit verheißene Gottesgeist sei in der Gemeinde bereits präsent. »Durch den Geist gewinnt die Gemeinde Anteil an der Identität und dem Wesen Christi« und ist damit jetzt schon aus dem Machtbereich von Sünde und Tod befreit. Der Geist überwinde Spannungen in der Gemeinde und ermögliche eine »Neubewertung des kosmologischen Selbstverständnisses der Gemeinde«, die sich nun »als Bestandteil der himmlisch-unvergänglichen Welt« und damit als dritte Größe neben Juden und Heiden verstehen könne (351.380). Dieser Statuswechsel wirke sich in der Gegenwart individuell und gemeinschaftlich aus (378), in der endzeitlichen Transformation würden die Mächte dann endgültig besiegt (379). Im Vergleich zum stoischen Geistkonzept gebe es Übereinstimmungen (Körperlichkeit des Pneumas, Verbindung mit Göttlichem und Verbundenheit allgemein, schöpferisch-kreatives Potenzial) als auch deutliche Unterschiede (stoische Weltimmanenz der Gottheit im Pneuma und die Universalität des Pneumas von Anbeginn). Die paulinische Konzeption sehe im Geist eine eschatologische, in der Gemeinde bereits wirksame Größe, die diese von der Welt abgrenze und nach innen Einheit und Verbindung bewirke, ohne die Differenziertheit und Personalität der am Pneuma Teilhabenden zu nivellieren (392). Im Pneuma sieht S. dementsprechend »den verbindenden Konnex im paulinischen Denken«, der »die systematische Verbindung zwischen den wesentlichen Aspekten der paulinischen Kosmologie« schaffe und den Widerspruch zwischen Gott und Welt auflöse (392): »Die Stiftung von Gemeinschaft durch den Geist und damit die Konstitution der Gemeinde als ›Gemeinde Gottes‹ sind mit Abstand die bedeutendsten Funktionen des Geistes.« (394)

Das abschließende Kapitel »Die Gemeinde als kosmische Größe« fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Die Gemeinde verstehe sich als kosmische Größe, »da sie in ihrer Existenz essentiell vom kosmischen Wirken Christi und dessen Geist« abhänge (408 f.); ihr komme im universalen Transformationsprozess eine herausragende Rolle zu, sowohl als Bestandteil der neuen Schöpfung als auch im Blick auf die Schöpfung insgesamt; sie sei damit »Vorbotin der uneingeschränkten Etablierung der göttlichen Herrschaft«.

Die Untersuchung ist ein beachtenswerter Beitrag zum Orientierungsrahmen der paulinischen Theologie. Zu diesem Rahmen gehören zweifellos kosmologische Vorstellungen hinzu. Dass diese nicht auf den Begriff Kosmos eingeengt werden dürfen, arbeitet S. mit Recht heraus (154 u. ö.). Dementsprechend weitet er seine Untersuchung auf die Begriffe Aion und Ktisis sowie auf die Wirkmächte aus, die den Kosmos beherrschen. M. E. wären allerdings noch andere Begriffe heranzuziehen, z. B. τὰ πάντα, dessen Gebrauch bei Paulus (1Kor 8,6; 2Kor 5,18; Röm 11,33–36) doch eher die Menschenwelt als alles Geschaffene umfasst. Manche Aussagen finde ich etwas überzeichnet; dass z. B. der Mensch unter der Herrschaft der Sünde »in völliger Zustimmung in Richtung des Todes« wirke (298), ist mit dem Dilemma, das Röm 7,18–21 beschreibt, nicht wirklich kompatibel. Differenzierungen, die S. im Detail ausbreitet, werden in den Zusammenfassungen teilweise nivelliert. Daneben stellen sich grundsätzliche Fragen. Immer wieder betont S. das kosmologisch geprägte Selbstverständnis der Gemeinde (vgl. den Singular im Untertitel der Arbeit). Faktisch arbeitet er aber das paulinische Verständnis von Gemeinde heraus. Ob dies auch die Position der Gemeinden ist, ist damit noch keineswegs gesagt. Der (deuteropaulinische) Kol lässt eine Gemeinde erkennen, in der eigenständiger und in starkem Maß kosmologisch gedacht wird. Ist dies für die von Paulus gegründeten Gemeinden von vornherein auszuschließen? Und gibt es überhaupt Möglichkeiten, nicht nur die paulinische Sicht, sondern tatsächlich das Selbstverständnis der Gemeinden herauszuarbeiten? Der Abschnitt zur »Pragmatik der kosmologischen Ansätze des Paulus« (418–420) wäre hier auszuweiten. Eine zweite Anfrage betrifft die Vorstellung eines kosmologischen Gesamtentwurfs bei Paulus. Auch wenn S. mit Recht die Bedeutung der kosmologischen Perspektive für die paulinische Theologie hervorhebt, kann m. E. von einem kosmologischen Gesamtentwurf nicht die Rede sein. Dazu sind die entsprechenden Aussagen zu verstreut und zu wenig systematisiert. Ähnliches gilt schließlich auch für die die Bedeutung von Pneumatologie und Ekklesiologie bei Paulus. Ohne die Bedeutung der pneumatologischen Aussagen bei Paulus (ganz generell und für sein Verständnis des Kosmos) gering zu achten sind Sätze wie »die Vorstellung des Pneumas (ist) der verbindende Konnex im paulinischen Denken« (392) doch letzten Endes einseitig. Das paulinische Denken zeichnet sich eher dadurch aus, dass verschiedene Aussagelinien interagieren und sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, ohne dass ein Aspekt dabei die ausschließliche Führung übernimmt.

Unabhängig davon bietet die Untersuchung eine Fülle von wertvollen Einsichten in die kosmologischen Vorstellungen der Zeit und des Apostels.