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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1018–1020

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Henrich, Joseph

Titel/Untertitel:

Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde. Aus d. Amerik. v. F. Lachmann u. J.-E. Strasser.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2022. 918 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 34,00. ISBN 9783518587805.

Rezensent:

Gerhard Wegner

So umfangreich das Buch und so komplex die Argumentation von Joseph Henrich auch ist: Die Kernthese lautet schlicht, dass sich die weltweiten Besonderheiten des westlichen Entwicklungsweges aus der Zerstörung der umfangreichen Verwandtschaftssysteme durch die christliche (näherhin: weströmisch-katholische) Kirche seit dem 4. Jh. erklären lassen (pointiert als EFP = Ehe- und Familienprogramm der Kirche bezeichnet, 316 ff.). Dadurch wäre es zur kulturellen und sozialen Entbettung der Einzelnen gekommen – bis hin zur modernen westlichen Welt mit ihren Eigentums- und Freiheitsrechten, die bis heute, insbesondere in Asien und Afrika mit ihren starken Großfamilienstrukturen, nicht stabil verankert seien. In einer Welt, in der Menschen in erster Linie nach ihren sozialen und familiären Beziehungen beurteilt werden, passten solche Rechte nicht zu den psychologischen Neigungen der Betroffenen (666). Genau hierin wäre der Westen anders – und evolutionär lange überlegen. Religiös kulminiere das im Protestantismus.

Näherhin geht es aber nicht allgemein um den westlichen Weg, sondern um die, im Westen oft für allgemeingültig gehaltenen, in Wirklichkeit in einer weltweiten Sichtweise aber höchst sonderbaren Persönlichkeitsideale wie Individualismus, Unabhängigkeit, Authentizität, »nichtrelationale Moral« und »unpersönliche Prozialität«, aber auch »harte Arbeit« und Selbstbeherrschung (584 u. ö.). Sie erklären das Akronym WEIRD: weiß, educated, industrialisiert, reich und demokratisch. Gleichzeitig bedeutet WEIRD »seltsam«. Wie kam dieses Gebilde zustande?

Im Hintergrund stehen Annahmen über die grundlegende Bedeutung der Koevolution von Institutionen, wie der Familie, und der Psychologie, mithin dem Faktor Kultur, dessen Erklärungskraft höher als materielle Bedingungen und genetischen Faktoren sei (S. 683). Blickt man genauer hin, dann soll es vor allem das Verbot der Vetternehe sein, dass in dieser Hinsicht signifikant korreliert (286.294.313.332.581 u. ö.) Wo sie erlaubt sei, gebe es mehr Konformismus, mehr Normen, Unterordnung und traditionale Herrschaft und weniger Innovationen und letztlich weniger Wohl- stand. In der Durchsetzung dieses weltweit einmaligen Vereinzelungsprogramms griffen vor allem Faktoren des Wettbewerbs (nicht zuletzt zwischen den Religionen), die zum Kopieren anderswo erfolgreicher Institutionen führen. So hätte China mit seinem 1950 beschlossenen Ehegesetz »das bewerkstelligt, wofür die Kirche im mittelalterlichen Europa Jahrhunderte benötigte« (349).

Henrich entfaltet seine These breit und gut verständlich, zum Teil flapsig, geschrieben über 14 Kapitel in vier großen Abschnitten: 1. Die Evolution von Gesellschaften und Psychologien; 2. Die Ursprünge der sonderbaren Menschen; 3. Neue Institutionen, neue Psychologien; 4. Die Geburt der modernen Welt. Seine zentralen Analyseinstrumente sind zum einen statistische Zusammenhänge, z. B. von Formen des Gottesglaubens und der unparteiischen Beziehung zu Fremden oder auch der Verteilung von Strafzetteln in Manhattan für falsches Parken an Diplomaten aus Ländern mit starker und schwacher Familienbindung (erstere bekamen erheblich mehr). Und zum anderen Laborexperimente, in denen Verhalten getestet wird. Der Erklärungsanspruch liegt mithin letztlich auf der Ebene naturwissenschaftlicher, sozio-evolutiver »Objektivität«, was möglicherweise erklärt, warum eine ganze Zahl konkurrierender gängiger sozial- und geisteswissenschaftlicher Erklärungsansätze nicht diskutiert werden. Allen voran »der große deutsche Soziologe Max Weber« wird geradezu abgestraft, wenn Henrich als seine einzige Leistung registriert, er hätte die Ähnlichkeiten zwischen dem Protestantismus und dem Zisterzienserorden erkannt (585). Andere Genealogien – Troeltsch, Weber usw. – kommen gar nicht vor, geschweige denn dass mehr als anekdotisch auf Originaltexte Bezug genommen wird.

So werden im Laufe der Argumentation eine Unzahl von Faktoren, so z. B. neuronale Veränderungen aufgrund von Alphabetisierung, die Reformation (die sich angeblich wellenförmig von Wittenberg aus ausbreitete, 29), Individualitätsformen, Selbstwertgefühle, Schuld und Scham, Götter und Rituale, Hölle und Willensfreiheit, Testosteron und seine Unterdrückung, die Karolinger und die Hui, Entwicklung der Städte, diverse autochthone Ethnien, China, Indien, Japan, europäische Kriege, Globalisierung und die Herausbildung von Märkten und schließlich Demokratie und individuelle Rechte korreliert. Die dunklen Seiten dieser Geschichte (Kolonialismus, Gewalt, Sklaverei, Genozide usw.) werden bewusst ausgeblendet. Dazu gebe es genügend Bücher (687). Nicht um essenzielle Unterschiede zwischen Völkern sondern um einen kontinuierlichen kulturellen Evolutionsprozess ginge es, der sich über weite Gebiete und Zeiträume erstrecke (274) – mithin also doch irgendwie um den Westen als den bisherigen Höhepunkt der Entwicklung (was der These von seiner Sonderbarkeit einiges wegnimmt).

Die Sortierung der Fülle des Materials ist imponierend und die nicht selten überraschenden, bisweilen sozialdarwinistisch klingenden Zusammenhänge regen zu weiteren Überlegungen an. So führten z. B. Kriege in Europa nicht zum Niedergang sondern beschleunigten den Aufstieg der Städte und damit den Wohlstand (469). Und eine (neoliberale) Deregulierung fördere das anonyme Vertrauen der Menschen untereinander (479). Insgesamt erscheint das Buch trotz seines Umfangs (vielleicht deswegen?) schnell abgeschlossen worden zu sein. Auffallend sind erhebliche Lücken, z. B. beim Protestantismus, der ohne jede Differenzierung zwischen lutherischer und reformierter Linie präsentiert wird – was wesentliche Differenzen in Bezug auf individuelle Rechte (und wohl auch Familienstrukturen) vernachlässigt. Nur ein fünfzeiliger Absatz wird der Achsenzeit gewidmet (ohne den Begriff auch nur zu erwähnen, 211) und damit wesentliche religionswissenschaftliche Forschung (z. B. das große Werk von Bellah: Religion in human Evolution) übersehen. Auch dass das Christentum von Beginn an eine feste Vorstellung vom freien Willen gehabt hätte (325), bleibt Wunschdenken des Autors.

Und die Kernthese von der Bedeutung der Familienpolitik? H. kann ihre Herkunft nicht weiter klären: Sie wäre zufällig entwickelt worden (667), was denn doch angesichts einer Geschichte von 1500 Jahren überrascht. Sie soll die Ausbildung des westlichen universalistischen Individualismus erklären. Aber geht das nicht plausibler mit dem Bezug auf Paulus und seine Konstruktion des Bezuges des Einzelnen auf Christus – jenseits aller sozialen und kulturellen Bindungen? Dieser Zusammenhang – inklusive der Folgen für den sozialen (Familien-)Zusammenhalt im Römischen Reich ist vielfach herausgearbeitet worden. Nicht zuletzt von Larry Siedentop: »Die Erfindung des Individuums« (2014). Hier bestünden auch Beziehungen zu Achsenzeit. Zudem wäre das Mönchtum (Klöster kommen nur wegen ihrer ökonomischen Bedeutung in den Blick) und die Sexualpolitik der frühen Kirche (vergl. Michel Foucaults Studien) zu behandeln. Aber all dies trägt empirisch-statistisch nichts aus. Deswegen wird Joseph Henrich davon auch nicht zu überzeugen sein.