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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1017–1018

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Braun, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Herkunft Europas. Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur.

Verlag:

Darmstadt: wbg Theiss Verlag 2022. 543 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 35,00. ISBN 9783806244373.

Rezensent:

Wolfgang Sander

Nach einer Reihe von fachphilosophischen Büchern, darunter eine 2019 erschienene vierbändige Geschichte der europäischen Kunstphilosophie und Ästhetik, legt der an der Universität Innsbruck emeritierte Assistenzprofessor Bernhard Braun nunmehr eine Geschichte Europas vor, die sich trotz ihres beträchtlichen Umfangs erkennbar an ein breiteres Publikum richtet. Tatsächlich ist das Buch gut lesbar geschrieben, auch für interessierte Nicht-Fachleute verständlich und überdies mit 111 Abbildungen anschaulich illustriert.

In 13 Kapiteln erzählt B. die europäische Geschichte in einem weiten Bogen von der Vorgeschichte Europas im Alten Orient bis zur Gegenwart, wobei er erst ab Kapitel 12 bei der Neuzeit anlangt. Der Schwerpunkt seines Interesses liegt deutlich auf der Antike; erst in Kapitel 8 kommt er zur »Geburt des Christentums«, danach folgen vor der Neuzeit je ein Kapitel über Byzanz, die »Kultur des Islam als Teil Europas« und das Mittelalter. »Erzählt« ist insofern wörtlich zu nehmen, als B. einen narrativen Stil pflegt; das Buch stellt sich als eine durchgehende Erzählung dar, nicht als Abfolge von fachhistorischen Abhandlungen zu verschiedenen Epochen. Es mag Adressaten und Stil geschuldet sein, dass das Buch trotz seiner großen inhaltlichen Breite und seiner reichen Fülle an informativen Details mit relativ wenigen Anmerkungen auskommt, was den Nachvollzug mancher pointierten Thesen nicht immer leicht macht. Hilfreich wäre angesichts der Informationsfülle auch ein Register gewesen, zumal das Inhaltsverzeichnis nur die Titel der 13 Hauptkapitel ausweist, nicht aber deren Untergliederungen.

Das zentrale Anliegen B.s ist durch das gesamte Buch hinweg deutlich spürbar, wird aber erst im Nachwort explizit formuliert. Er will einem von ihm in Gesellschaft und Politik wahrgenommenen Diskurs widersprechen: »Es scheint die scharfe Abgrenzung eines vermeintlich ›christlichen Europa‹ gegen alles Fremde [...] salonfähig zu werden [...]. Das hat mich ermuntert, vor allem jenen Abschnitt der Geschichte Europas neu zu erzählen, in dem die Fundamente für diesen faszinierendsten Kulturraum der Welt gerade aus der Berührung mit dem Orient gelegt worden sind.« (530) Insofern lässt sich die Überschrift des erstens Kapitels als programmatisch für das ganze Buch verstehen: »Europa hat einen Migrationshintergrund«.

Tatsächlich erzählt B. sehr anschaulich von Kulturleistungen in den frühen Hochkulturen, die bis heute in Europa wirksam sind, wie die Erfindungen der Landwirtschaft und der Städte, der Schrift, des Handels und religionsgeschichtliche Entwicklungen hin zum Monotheismus im Judentum. Wohl um dieser Anschaulichkeit willen zieht B. immer wieder Parallelen zwischen der Gegenwart und Ereignissen im Alten Orient oder der Antike. Das ist manchmal anregend, manchmal aber auch durchaus fragwürdig, so etwa wenn die Begegnung zwischen Judentum und Hellenismus als »Konflikt zwischen Moderne und engstirnigem Nationalismus« gedeutet wird, wobei die »religiöse Ideologie des ‚auserwählten Volkes’« für das zweite und der »weltläufige Zeitgeist des Hellenismus« für das erste stehen soll (105). Aber es trifft wohl die Stellung der antiken griechischen Kulturen zwischen den älteren Hochkulturen und der europäischen Kultur gut, wenn B. schreibt: »Griechenland war die große Manufaktur, wo der Umbau der Vorlagen aus dem Orient in die europäische Version vonstatten ging.« (116)

Gleichwohl stellt sich die Frage, ob B. nicht zu weit geht, wenn er folgert, »jeder Frontverlauf zwischen Europa und dem Orient« sei »eine moderne Projektion«, denn »Europa ist nun einmal samt und sonders aus dem Osten geboren.« (117) Könnte man nicht mit der gleichen Logik folgern, alle historischen und gegenwärtigen Kulturen seien aus Ostafrika geboren, wenn man – wie auch B. (17 ff.) – der »Out of Africa«-Theorie folgt? Eine gemeinsame Vorgeschichte schließt ja die Herausbildung kultureller Unterschiede im Lauf der weiteren Geschichte nicht aus, und diese Unterschiede wiederum müssen Austauschbeziehungen zwischen Kulturen keineswegs im Wege stehen. B. selbst nennt viele Beispiele dafür, wie etwa die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Persern und Griechen oder die zwischen Griechen und Römern.

Die Stärke des Buches liegt darin, an Traditionslinien der Geschichte und Vorgeschichte Europas zu erinnern, die im Westen Europas allzu leicht in Vergessenheit geraten. Besonders verdienstvoll ist die Erinnerung an Byzanz als ein ganz wesentliches Element der Geschichte des Christentums und Europas. Auch gelingt es B., mit vielen, vor allem auch kunstgeschichtlichen Details dem Leser diese Traditionslinien gut nachvollziehbar vor Augen zu führen. Insofern kann die Lektüre vor allem Lesern empfohlen werden, die sich für die kulturgeschichtlichen Verbindungen zwischen Europa und dem Orient interessieren.

Die Schwäche des Buches scheint mir darin zu liegen, dass es sein Anliegen überzieht. Aus der Vorgeschichte und Herkunft des Christentums aus dem Orient lässt sich nicht folgern, wie B. nahelegt, dass die Rede von einem ‚christlichen Europa‘ zwingend zu unangemessenen Abgrenzungen führen muss oder gar, dass sie notwendigerweise eine rechtskonservative oder sogar fremdenfeindliche Sichtweise sei. Der These, dass europäische Identität, metaphorisch gesprochen, auf der Verbindung von Athen, Rom und Jerusalem beruht, steht nicht entgegen, dass die kulturellen Traditionen, die mit diesen Städtenamen angesprochen sind, ihrerseits auch ältere Vorläufer haben. So bleibt leider am Ende etwas unklar, wer genau gemeint ist, wenn im Untertitel des Buches von »unserer« Kultur gesprochen wird.