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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1003–1016

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Patrick Bahl

Titel/Untertitel:

Zwischen rechtfertigungstheologischen Grundsatzerwägungen und sprachasketischen Pirouetten
Reformatorische Variationen zum verbum otiosum (Mt 12,36 f.)*

I Auslegungsgeschichte als Forschungsaufgabe



»Ich sage euch aber, Das die Menschen muessen rechenschafft geben am juengsten Gericht, von einem jeglichen vnnutzen wort, das sie geredt haben. Aus deinen worten wirstu gerechtfertiget werden, Vnd aus deinen worten wirstu verdampt werden.«1

Disziplinärer Status und erkenntnisleitendes Interesse der Auslegungsgeschichte2 scheinen zu oszillieren: In kirchenhistorischer Hinsicht erschließt sie das »Lebensverhältnis«3 historischer Ausleger und Auslegerinnen zum biblischen Text, was die Dokumentation ihrer Schrifthermeneutik und Auslegungsmethode, die Erhellung der (theologie-)geschichtlichen Konstellationen, in denen sie arbeiten, und die Freilegung der exegetischen Netzwerke, in die sie verwoben sind, einschließt. Ein exegetischer Nutzen der Auslegungsgeschichte ergibt sich daraus, dass sie das Verständnis biblischer Texte angesichts überraschend abseitiger oder nachhaltig stichhaltiger Auslegungen bereichern, einseitige Überblendungen und Präjudize markieren und theologische Bezugsrahmen definieren kann, innerhalb derer sich die Auslegung des biblischen Textes vollzogen hat und vollzieht. In hermeneutischer Hinsicht fragt die Auslegungsgeschichte danach, wie die Ausleger und Auslegerinnen zwischen der historischen und literarischen Gebundenheit des Textes und seiner transkontextuellen, theologischen oder frömmigkeitspragmatischen Bedeutung vermitteln bzw. inwiefern sie den Zusammenhang und Übergang zwischen Augenblicks- und Ewigkeitsanspruch4 der Bibel reflektieren.

Angesichts ihres Materialreichtums – sie verbindet Kommentar-, Predigt-, Liturgie-, aber auch die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte – muss sich die Auslegungsgeschichte Rechenschaft über die Kriterien der Auswahl ihrer Untersuchungsgegenstände geben. Um die schwer zu überblickenden Quellenfelder der Auslegungsgeschichte zu erschießen, kann es zielführend sein, von ihrem Bezugspunkt, d. h. vom biblischen Text auszugehen, denn es lassen sich – wenn auch nicht aus exegetischer, wohl aber aus rezeptions- und auslegungsgeschichtlicher Perspektive – »große« und »kleine«, zentrale und periphere Texte der Bibel voneinander unterscheiden: Während erstere nachhaltig in die Kirchen- und Theologiegeschichte hinein gewirkt haben, etwa weil sie Teil der kirchlichen Lesereihen wurden, sich als dogmatisch brisant her-ausgestellt haben oder aber dermaßen interpretationsoffen, anmutig oder »extravagant«5 daherkommen, dass sie sich einer kontroversen Auslegung regelrecht aufdrängen, treten manch andere in das Hintergrundrauschen der Kommentargeschichte zurück.

Jesu Gerichtswort über das »unnütze Wort« (verbum otiosum bzw. ῥῆμα ἀργόν) in Mt 12,36 f. ist zwar nie Teil der traditionellen, (alt-)kirchlichen Lesereihe gewesen, kann also keine liturgische oder homiletische Prominenz für sich beanspruchen, dennoch werden die Verse von den Exegeten aller Epochen mit außerordentlicher Sorgfalt und durchaus kontrovers traktiert. Was macht ihren besonderen Reiz aus? Schon bei einer oberflächlichen, exegetischen Orientierung über den Text und sein Umfeld fällt auf, dass Mt 12,36 f. die Würde und Funktion eines Schlusswortes im mehrschichtigen und inhaltsschweren Redegang von Mt 12,22–37 zukommt.6 Darüber hinaus scheint der engere Kontext nicht herzugeben, was genau unter dem »unnützen Wort« zu verstehen ist – der Ausdruck scheint in jeder Hinsicht erklärungsbedürftig zu sein.7 Zuletzt verbindet sich mit der Warnung vor dem »unnützen Wort« die Rechtfertigungsterminologie und die mit dem Begriff λόγος assoziierte, christologisch konnotierte Worttheologie des Johannes-Evangeliums (Mt 12,37): ἐκ γὰρ τῶν λόγων σου δικαιωθήσῃ, καὶ ἐκ τῶν λόγων σου καταδικασθήσῃ. Insofern legt sich eine verschmelzende Deutung von λόγος und ῥῆμα nahe, wie sie im lateinisch unentschiedenen verbum der Vulgata ja auch anklingt. Mt 12,36 f. und das »unnütze Wort« stechen also schon auf den ersten Blick aus ihrem Kontext hervor und scheinen »projektibel« für vielfältige Auslegungen zu sein, wobei unter »Projektibilität« die Disposition eines Ausdrucks, Verses, einer Perikope oder eines Erzählzusammenhangs für kontroverse und weitreichende Auslegungsoperationen zu verstehen ist.

In dieser Studie sollen die methodologischen und hermeneutischen Basissondierungen der Auslegungsgeschichte exemplarisch nachvollzogen werden, wobei prominente reformatorische Interpretationsansätze zu Mt 12,36 f. und Auslegungsversuche zum verbum otiosum im Zentrum stehen. Die Bezugnahmen der Reformatoren auf die reichhaltige und vielschichtige Auslegung der Verse durch die Kirchenväter können leider nur andeutungsweise berücksichtigt werden, auch wenn in der Alten Kirche einige Auslegungstendenzen des 16. Jh.s vorgeprägt wurden.8

II Reformatorische Auslegungsansätze



Eine intuitive Nähe zur Alten Kirche lässt sich bereits bei den humanistischen Auslegern erkennen. Auch wenn sie sich nicht ausdrücklich auf die Kirchenväter berufen, repristinieren sie in ihrer Kommentierung der Verse altehrwürdige Interpretationsansätze; zum einen, wenn sie der Warnung vor dem verbum otiosum ein elenktisches Potential9 beimessen – das unnütze Wort überführe den Sünder –; zum anderen, wenn sie ihr einen ethisch-moralischen Appell zur sprachasketischen Selbstregulation10 abgewinnen wollen.11 Freilich setzen sie auch neue, richtungsweisende exegetische Akzente. So entspricht zwar Erasmus von Rotterdam in seiner Mt-Paraphrase12 (1522) auf fast mustergültige Weise dem humanistischen Anliegen einer Besserung der christlichen Sitten13 und fokussiert sich in seiner Auslegung von Mt 12,36 f. auf die Einübung einer der philosophia evangelica ziemenden,14 fast stoischen Zurückhaltung im Reden,15 ebnet aber zugleich einer tiefergehenden, sprachtheologischen Aufarbeitung der Verse den Weg, indem er auf die Zerstörungsmacht des »unnützen Wortes« hinweist. Dabei orientiert er sich locker am Confiteor: »Nicht allein angesichts der Taten [e factis], sondern vielmehr auch angesichts der Worte [ex verbis] werden die Menschen bei Gott beurteilt. Ein schlechter Gedanke [mala cogitatio] ist allein für den Denkenden unheilvoll. Aber eine schlechte Rede geht wie ein Gift des Herzens auf viele über. Daher ist die Sprache in Ordnung zu halten [coercenda], nicht allein von todbringenden Blasphemien, von Be­leidigungen und Streitereien, sondern auch von allem, was zu keinem sittlichen Wohl beiträgt [quae nullam adferunt utilitatem honestam].«16 Desgleichen bringt Erasmus in seiner Auslegung zwei wichtige matthäische Sinnlinien zur Geltung. Zum einen sieht er mit dem Drohwort die Überbietung des mosaischen Gesetzes insinuiert: Die »vollkommene Gerechtigkeit des Himmelreichs« überwinde hier »die Gerechtigkeit des Mose«, womit die kasuistische Verflachung des alttestamentlichen Schmähverbots gemeint ist – Jesus sei nicht darauf aus, »eine handfeste Lästerung gegen Gott« zu bestrafen, sondern vielmehr sämtliches »unnütze und leere« Gerede, das sich gegen den Nächsten erhebe.17 Zum anderen unterstreicht Erasmus, dass Jesus sein Drohwort eher als Ansporn, das Verbot als Gebot verstanden wissen wolle: »[…] die Sprache ist einzig zu dem Zweck gegeben worden, dass wir mit ihr uns und unserem Nächsten nützen; dass wir mit diesem Instrument die Ehre Gottes preisen.«18 Mit beiden Beobachtungen fängt Erasmus unverkennbar die gesetzeshermeneutischen Fluchtlinien der Bergpredigt ein (insbesondere der Antithesen in Mt 5,21–48).

Offensiver als die Humanisten verknüpfen die Reformatoren die Auslegung der Verse mit dem Rechtfertigungstheorem, mit einer tiefer wurzelnden, universalistischen Hamartiologie wie auch mit der Gotteslehre im engeren Sinne. Auch wenn vor vorschnellen Kategorisierungen zu warnen ist und die einzelnen Ausleger zu teilweise originellen Einzelbeobachtungen gelangen, die sich nicht allesamt aus ihrer jeweiligen Loyalität gegenüber dem einen oder anderen reformatorischen Lager erklären lassen, zeichnen sich durchaus markante Differenzen zwischen der Wittenberger resp. lutherischen und der schweizerischen resp. reformierten Exegese ab, insofern beide die elenktischen Sinnpotentiale und handlungsorientierenden Implikationen des Textes unterschiedlich stark zur Geltung bringen.

Als einer der ersten Wittenberger Kommentatoren des Mat- thäus-Evangeliums meldet sich Erasmus Sarcerius zu Wort (1538).19 Dass es dem Evangelisten Matthäus vor allem um eine Darstellung, Erläuterung und Bekräftigung der Lehre, der doctrina Chris-ti, gegangen sei,20 hebt Sarcerius in seiner Vorrede ebenso hervor, wie er auch freimütig einräumt, mit seinem Kommentar eine antirömische Zielsetzung zu verfolgen.21 Schon mit der vermeintlich unscheinbaren Redeeinleitungsformel von Mt 12,36 – »ich aber sage euch« – sieht er die altgläubigen Gegner ins Visier genommen, nämlich diejenigen, »die unser [!] Evangelium und seine Wirkungen mit ihrer übel klingenden Sprache dem Satan zuerkennen«.22 Inwiefern das Wort »unnütz« ist, bemisst Sarcerius daher auch nicht an der Förderung des sittlichen Wohls oder der Erbauung des Nächsten, sondern vielmehr an der Begünstigung des Wortes Gottes und seiner Wirkungen. Das verbum otiosum müsse als »unnützes, vergebliches und sinnloses Wort« (ociosum, inane & frustraneum uerbum) verstanden werden, denn die, die es äußern, d. h. die Gegner des Evangeliums würden sich gegen nichts Geringeres als »die Kraft und Macht Gottes« (nach Röm 1,16 f.) erheben und sich daher »selbst das Urteil zuziehen«.23 Dessen eingedenk bezieht Sarcerius auch die rechtfertigungstheologischen Spitzen aus Mt 12,37 auf die Haltung des Sprechers zum Evangelium und betont, »dass die äußerlichen Worte und Taten Anzeichen der bösen und schlechten Seele sind, d. h. ob sie gut oder schlecht über das Wort und seine Wirkungen urteilt« und dass »die Menschen […] aus ihren Worten und Taten gerecht sind, d. h. so erkannt werden, gleich wie sie vom Wort abhängen oder eben nicht«.24 Damit setzt Sarcerius das verbum otiosum und das verbum Dei bzw. das verbum praedicatum in ein enges Erschließungsverhältnis und löst eine Äquivokation ein, die der lateinische, jedoch nicht der griechische Text hergibt, insofern in Mt 12,36 von dem ῥῆμα, nicht vom λόγος die Rede ist, auch wenn ῥῆμα in Mt 12,37 nachträglich mit dem (bei Joh christologisch konnotierten) λόγος assoziiert wird (ἐκ γὰρ τῶν λόγων σου δικαιωθήσῃ). Folglich bemisst sich bei Sarcerius die Nutzlosigkeit des Wortes an der Einstellung des Sprechenden zum Einen Wort – Jesu Drohung richtet sich gegen diejenigen, die ihn, seine Lehre und sein Werk zurückweisen. Mt 12,36 f. rückt damit ein fundamentales, reformatorisches Entsprechungsverhältnis ins Licht: Die Annahme des Wortes Gottes und seiner Wirkung bringt das nützliche, am Wort Gottes orientierte Wort hervor.

Den elenktischen Charakter der Verse betont auch Martin Luther in seinen Annotationes in aliquot capita Matthaei aus dem gleichen Jahr (1538), unterlegt seine Auslegung aber mit einem soteriologischen Universalanspruch. Jenseits jeder philologisch rabulistischen Erkundung der semantischen Reichweite einzelner Begrifflichkeiten möchte der Reformator den Zusammenhang von Person und Werk, Herz und Wort in den Mittelpunkt seiner Kommentierung stellen. Luther klammert die Frage nach dem Kriterium einer Beurteilung des Wortes (als »nützlich« oder »unnütz«) aus seiner Auslegung aus, ihm geht es vielmehr um die Entlarvung der Beschaffenheit der es äußernden Seele:

»Darum soll man nicht auf das Wort und die Silben schauen, sondern die Worte Christi dem Sinn und Geist nach verstehen: ein böser Mensch kann niemals Gutes sagen d. h. er kann niemals in gutem Geist und guter Absicht und aus gutem Herzen sprechen; und ein guter Mensch kann nicht Böses reden d. h. er kann nicht aus bösem Herzen und in böser Absicht reden. Vielmehr wie das Herz ist, so ist auch die Rede, nach dem Sprichwort: die Rede zeigt einer Seele Charakter.«25

Hier deutet sich nicht nur Luthers schrifthermeneutische Grundunterscheidung von Geist und Buchstabe an, der Reformator er- innert mit seiner Kommentierung auch an die Dialektik von Gesetz und Evangelium: Dem Menschen würde in Anbetracht von Mt 12,36 f. zweierlei aufgehen, einerseits: »mitten in meinem Leibe ist solche Pest, solch Gift und Sammelbecken aller Übel und böser Säfte, sodaß ich nichts Gutes sagen und tun kann, ja auch das Gute, das andre sagen und tun, nicht gut sein lassen kann«; andererseits verheiße ein gutes Herz, »Quelle, Born und Schatz von Güte« zu sein – ein solches Herz nehme das Böse gelassen hin und fahre dem Nächsten, selbst wenn er Sünder ist, nicht über den Mund.26 Die Sprache erscheint also als untrüglicher Bewährungsraum für die Sündhaftigkeit oder Heiligkeit des Menschen, für seinen zerstörerischen Hochmut wie auch seine duldsame Sanftheit. Feinere Erörterungen zur Bedeutung des verbum otiosum verbittet sich der Reformator unter Hinweis auf die Unmittelbarkeit und Radikalität des Drohwortes:

»Hier hat sich nun wieder ein Meer von Fragen erhoben darüber, was das ›unnütze Wort‹ sei. Und man hat die Gewissen gar sehr damit geplagt, weil man das unnütze Wort äußerlich definiert hat. Aber Chris-tus definiert es innerlich. […] Summa, Christus will seinen Widersachern, die ihn abweisen, nichts gut sein lassen, weil sie ihm auch nichts gut sein lassen. Umgekehrt will er auch jedermann alles gut sein lassen, die ihm auch alles gut sein lassen d. h. die ihm glauben.«27

Indem Luther das Verständnis des verbum otiosum als eines Indikators für die Beschaffenheit von Herz und Charakter des Menschen forciert, kann er auch Mt 12,37 einen doppelten Sinn abgewinnen: Im »Zusammenhang dieses Textes [secundum tenorem]« weise das Gerichtswort darauf hin, dass sich keine noch so kleine Untat dem Richterspruch Gottes entzieht,28 über seinen engeren Kontext hinaus ziele es aber darauf, zu erweisen, dass sich alle Selbstrechtfertigungsversuche des Menschen als solche entlarven würden, da sie sich über kurz oder lang als widersprüchlich herausstellen. Wenn etwa die Pharisäer Christus, welcher den stummen und tauben Besessenen exorziert hat, »zu einem Teufel und sich selbst zu Heiligen machen«, würden sie in einen Selbstwiderspruch geraten, sofern »sie gestehen müssen, daß der böse Geist von Christus ausgetrieben sei«.29 Ähnliche Selbstverurteilungen entdeckt Luther in der Kreuzigungsszene – die Hinrichtung Jesu werde von jenen gebilligt, die sich darüber im Klaren seien, dass »er anderen geholfen habe« (Mt 27,42) – oder aber in der Kain-Erzählung: Indem sich der Bruder seines Behütungsauftrags entledigen möchte, klage er sich selbst an (Gen 4,9).30 Die Sprache entlarve die Sprechenden: Die Bösen erweisen sich in ihren Selbstrechtfertigungsversuchen als scheinheilig und werden darob verdammt, die Guten hingegen bekennen mit ihren Äußerungen ihre Sünden und werden erst dadurch der Rechtfertigung teilhaftig.31 In Luthers Auslegung von Mt 12,36 f. artikuliert sich also nicht nur sein Sprachverständnis – die Sprache ist lebensschaffende Macht und scharfes Schwert zugleich –, sondern auch die fundamentale forensische Unterscheidung des wahrhaften Gottes- vom Lügenwort des Menschen, wie sie sich bereits von Paulus her nahelegt (vgl. Röm 3,4).

Während sich bei Sarcerius und Luther ein elenktisches Grundverständnis des verbum otiosum abzeichnet, verschafft sich im reformierten Spektrum eine sublim gesetzesobservante Stimme Gehör. Grundsätzlich teilen die Schweizer Ausleger die elenktische Deutung, dass Jesus mit dem Drohwort von Mt 12,36 f. seine pharisäischen Gegner zu brüskieren sucht, um ihnen ihre Sündhaftigkeit bzw. Gottlosigkeit vor Augen zu führen. Ohne die reformatorische Prämisse der unbedingten Erlösungsbedürftigkeit eines jeden Menschen preiszugeben, reformulieren sie jedoch den sprachasketischen Auslegungsansatz der Alten Kirche wie auch das moralisch-optimistische Anliegen des Humanismus.

Heinrich Bullingers Bibelkommentare zählen ohne Zweifel zur reichhaltigsten reformatorischen Auslegungsliteratur. Der Zür- cher Exeget beleuchtet nicht nur mit großer Sorgfalt die literarische, historische und philologische Kontextgebundenheit der biblischen Bücher, methodisch reflektiert und argumentativ wohl distinguiert bringt er auch deren überzeitlich-theologisches Potential zur Geltung.32 Dies gilt auch für seine Auslegung von Mt 12,36 f. (aus dem Kommentar von 1542), die in drei Stufen angelegt ist. Auf der ersten Stufe erörtert Bullinger die literarische Einbindung der Verse in ihren Kontext, vor allem ihren Zusammenhang mit der Sünde gegen den Heiligen Geist. Auch Bullinger meint, dass das unnütze Wort in einem doppelten Sinne zu verstehen ist, und auch er argumentiert a minore ad maius, wenn er feststellt, dass das gotteslästerliche Wort erst recht bestraft werden würde, wenn schon das überflüssige Wort vor Gottes Gericht nicht bestehen könne.33 Auf einer zweiten Ebene widmet sich Bullinger der semantischen Reichweite des »unnützen Wortes«. Mit dem Singular verbum werde kein spezifisches Lästerwort, sondern vielmehr die »faule Sprache«34 als solche anvisiert, da wir es – eine originelle Beobachtung! – mit einer für das Hebräische typischen Emphase zu tun hätten, mit der der – ursprünglich auf Hebräisch schreibende – Evangelist35 auf den Universalanspruch Jesu hinweisen wollte.36 Auf der dritten Stufe formuliert Bullinger unter der Überschrift »Auf welche Weise das leere Geschwätz vermieden wird« eine ethisch-moralische Handlungsanweisung, mit der er an die sprachasketischen Deutungen der Alten Kirche und des Humanismus anknüpft und die schon in der patristischen Literatur bemühten Parallelstellen im Corpus Paulinum und im Psalter umfänglich heranzieht.37 Eigene Akzente setzt Bullinger, indem er die hamartiologischen und soteriologischen Voraussetzungen dieses (sprach-)asketischen Ideals dahingehend konturiert, dass er darauf hinweist, dass es Jesus keineswegs um die Einübung in einen asketischen Habitus gegangen sei, sondern vielmehr um eine stete Rückbesinnung auf Gott als diejenige Macht, die das Redevermögen des Menschen reguliert, hemmt und auf das Gute hin lenkt. M. a. W.: Es geht Bullinger um den Glauben an das Wort Gottes als Movens des nützlichen Wortes und Wirkursache der beata vita38:

»Also dürfte es wohl das allerwirksamste Heilmittel sein, das Wort Gottes zu hören, dem Wort Gottes zu glauben, Gott aus der [ganzen] Seele zu fürchten, das sittliche Gute zu lieben, zu wollen, dass das verdeckt bleibt, was die Natur bedeckt, d. h. nicht jene Dinge auszusprechen, von denen die Natur wünscht, dass sie verborgen sind. Außerdem wird es nicht wenig nützen, wenn wir erkennen, dass tatsächlich das Sünde ist, was der Allergerechteste Sünde nennt und zur Sünde erklärt. Dazu erklärt dieser, dass jedes unnütze Wort Sünde ist; derselbe verbietet alles an Lügen, alle Nichtigkeit, und alles, was aus den Affekten des Fleisches geboren wird. Wir wollen uns von diesem wie gehorsame Söhne abwenden. […] Jeder möge erwägen, was ihm, d. h. einem Christenmenschen, ziemt, und was die Zuhörer erbaut. Und wenn deine Rede mehr hinderlich ist als nützt, ist es besser, mit Frucht zu schweigen als unheilbringend zu sprechen.«39

In seiner didaktisch aufgebauten Auslegung – von der Erhebung der kontextuellen, literarischen Funktion über die Erläuterung des Adjektivs otiosum hin zur biblisch verankerten, frömmigkeits-praktischen Reflexion – phrasiert Bullinger das elenktische Leitmotiv der Auslegung heiligungstheologisch, insofern er unterstreicht, dass die Sprache des Menschen durch den Glauben, d. h. durch das Bewusstsein der Gegenwart Gottes und seiner Liebe, gelenkt und reguliert wird.

Kaum ein Ausleger des 16. Jh.s dürfte dem pädagogischen Anspruch der Verse größere Aufmerksamkeit geschenkt haben als der Berner Reformator Wolfgang Musculus. Nachdrücklicher noch als Bullinger bemüht er sich in seinem Kommentar (1551)40 darum, Jesu Warnung vor dem »unnützen Wort« in ein christliches Heiligungsethos zu übersetzen und ihr gewissermaßen einen tertius usus abzugewinnen.41Auch für ihn steht fest, dass das verbum otiosum Inbegriff einer jeden lebensfeindlichen Äußerung des Menschen ist,42 und mit Bullinger und der Wittenberger Auslegungslinie teilt er die Auffassung, dass die Sprache die Person ihres Charakters überführt43. Die Ankündigung des Gerichts versteht Musculus wiederum als eine streng präsentisch-eschatologische Ermahnung: Mit seinem Drohwort »zähmt [Jesus] unsere Nachlässigkeit, und mahnt dazu, die Leben zu erneuern«44. Insofern kann Musculus nicht nur die Vielgestaltigkeit des unnützen Wortes hervorheben:

»Was gibt es in unserem Leben, worüber wir uns weniger Rechenschaft ablegen als über die Worte? Und dennoch werden wir über jene, d. h. die unnützen, Rechenschaft ablegen müssen. Wenn schon über die unnützen, was dann erst über die schändlichen? Was erst über die lügnerischen? Was über die Widerrede? Was über die Flüche? Was erst über den Spott? Was wird erst geschehen mit den Eidbrüchen?«45

Auch setzt er sich mit der Frage auseinander, welche religiöse Grundhaltung der Vermeidung des unnützen Wortes entsprechen müsste: Dass Jesus entschieden vom »unnützen« und nicht vom »bösen« Wort spreche, strafe diejenigen Lügen, die meinen, dass es im Sprechen eine ethisch-moralische Grauzone gebe, die sich Gottes Gericht entziehe. Musculus weist darauf hin, dass Jesus mit seiner Warnung weniger das »unnütze Wort« verbiete als vielmehr das nützliche einfordere: »Der Baum wird ausgerissen, nicht nur derjenige, der böse Früchte trägt, sondern auch derjenige, der keine guten Früchte trägt.«46 Auch der – auf der Ebene des matthäischen Textes durchaus nachvollziehbare – »Einwand«,47 dass man dem »unnützen Wort« durch die Praktizierung einer quietistischen Lebenshaltung entgehen könne, kommt Musculus auf dieser Linie bei: »Der gute Mensch wird aber nicht so von Christus bestimmt, dass er einer ist, der aus seinem Herzen bloß die bösen Dinge nicht vorbringt, sondern einer, der die guten Dinge hervorbringt. Schließlich zeigen auch jene mit ihrem Schweigen, dass sie nicht von guten Herzen sind, denn es wird gefordert, dass jeder mit seiner Gabe den übrigen nützt.«48 Die von Jesus kaum eingegrenzte, ja völlig unterspezifizierte Rede vom verbum otiosum nimmt der Ausleger zum Anlass, über die fortschreitende, sittliche Vervollkommnung der Christen zu reflektieren, insofern die Achtsamkeit für die Nutzlosigkeit der Worte das Auge auch für die schwerer wiegenden Verfehlungen schärft:

»Es ist die Natur der Gläubigen [Ingenium piorum est], dass sie mit gro-ßem Eifer ihr Leben so einrichten, dass sie sich nicht nur der großen Sünde enthalten, sondern dies auch entsprechend leidenschaftlich tun; sich nicht allein Rechenschaft über die großen, sondern auch über die guten Dienste geben. […] Sie wissen nämlich, dass derjenige an größeren Dingen erkrankt, der die geringeren Dinge verachtet. Aber auf welche Weise werden wir, während wir uns nicht vor den größeren Dingen in Acht nehmen, vor den kleineren Dingen in Acht nehmen? Wer sich nicht fürchtet, zu lügen, zu täuschen, zu widersprechen, zu verfluchen, einen Meineid zu schwören, wann fürchtet er sich, unnützes Zeug zu reden? Also wollen wir uns bemühen, sorgsamer in den kleineren Dingen zu sein, damit wir um so wachsamer in den größeren sind.«49

An dieser Stelle muss der Durchgang durch die reformatorischen Auslegungen der Verse Mt 12,36 f. bereits abgebrochen werden. Statt den Befund durch die Auswertung weiterer Kommentare zu verfeinern, sollen die präsentierten Auslegungen in zwei Richtungen – und notwendigerweise wiederum nur stichprobenartig – kontextualisiert werden, um ihr historisches Profil deutlicher zu konturieren.

III Konfessions- und exegesegeschichtliche Weitung



Um die konfessionelle Bindung der Exegese des 16. Jh.s deutlicher herauszustellen, ließe sich ohne Schwierigkeiten ein eigener römisch-katholischer Auslegungsansatz eingrenzen. So hebt z. B. der (reformorientierte50) Mainzer Domprediger Johannes Wild (gen. Ferus) in seinem Mt-Kommentar (1559) Jesus als Vorbild für die Gläubigen hervor – ein Verständnis, das manche Reformatoren als Einfallstor einer kompetitiven Werkgerechtigkeit gesehen und problematisiert haben.51 Das eigentümliche römische Profil seiner Auslegung zeigt sich zudem darin, dass Wild als eigentliche Adressatin des Drohworts die ratio als souveräne innerseelische Entscheidungsinstanz ausmacht und damit an thomistische Traditionen anknüpft,52 während sich die Reformatoren in ihrer Auslegung einer anthropologischen Tiefendiskussion enthalten, und dass er die Verdienstlichkeit des »lebensförderlichen Wortes« im Angesicht des eucharistisch-realpräsenten und als Weltenrichter urteilenden Christus unterstreicht.53

Die historische Eigentümlichkeit der reformatorischen Bibel-auslegung, d. h. ihre exegetische Originalität und methodische Flexibilität, wird wiederum deutlich, wenn die altprotestantisch-orthodoxe Auslegungskunst vergleichend eingeblendet wird. Ein illustratives Beispiel bietet hier der Mt-Kommentar (1594) des weithin berühmten, reformierten Herborner Theologieprofessors Johannes Piscator.54 Er möchte aus den fluiden Streitgesprächen Jesu stringente Argumentationsketten rekonstruieren, indem er die einzelnen Verse verschiedenen Erkenntnisbereichen zuordnet – d. h. Fall (propositio), Regel (assumptio) und Schlussfolgerung (consequens bzw. conclusio) –, um eine ratiocinatio, eine logische Gedankenbewegung nachzuvollziehen, wie sie dem Text vermeintlich zugrunde liegt. Piscators formstrenge Exegese entspricht nicht nur seiner Auffassung der »historia Evangelica« als einer Geschichte der angefochtenen Wahrheit, insofern die Inkarnation des Gottessohns von Pharisäern und anderen durchweg in Zweifel gezogen werde.55 Seine Kommentierung – bestehend aus »logischer Analyse, Scholien und Beobachtungen zu Lehrartikeln« – richtet sich auch gegen die Bestreitung der evangelischen Wahrheit durch die jesuitische Schulexegese, insbesondere Robert Bellarmin.56 Piscators formallogische Kommentierung des Evangeliums konkretisiert sich auch in der Auslegung des zwölften Kapitels.57 Mt 12,36 f. bestimmt Piscator zum Schlussstein der gegen die Pharisäer gerichteten Doppelrede Jesu, welche sich von Mt 12,25 bis 12,37 erstrecke. Im ersten Teil jener Rede (Mt 12,25–30) konterkariere Jesus den Beelzebub-Vorwurf, als »Skopus« des zweiten Teils (Mt 12,31–37) bestimmt Piscator die Abschreckung derer, »die die Verleumdungen seiner offenen Gegner gutzuheißen«58 gedachten, d. h. die schwankenden Zuschauer des Streitgesprächs. Von Mt 12,31 ausgehend, wo Jesus die Vortrefflichkeit des Heiligen Geistes und die Abscheulichkeit der Sünde wider denselben prononciert und thetisch hervorbringe,59 ergebe sich eine dreigliedrige Argumentation. Im ersten Glied (Mt 12,31 f.) amplifiziere Jesus die Warnung vor der Sünde wider den Heiligen Geist, indem er sie von »allen übrigen Verfehlungen und Sünden«, selbst von der »Beleidigung gegenüber dem Menschensohn« (Mt 12,32), abgrenze und damit drohe, dass jene Beleidigung »weder in dieser Zeit noch in der künftigen« vergeben werden könne.60 Im zweiten Glied bestimme Jesus als »Quelle oder hervorbringenden Grund« der Sünde der Pharisäer »die Bosheit ihres Herzens«, indem er auf das Beispiel von »Baum und Früchten« (Mt 12,33), die »Listigkeit der Schlangen« und das Herz als »sprudelnde und überfließende Quelle« (Mt 12,34), schließlich aber auf das Herz als »Schatz oder Vorrat, aus dem etwas hervorgeholt wird« (Mt 12,35), hinweise.61 Diese Beispiele wähle Jesus aufgrund ihrer unanfechtbaren Allgemeingültigkeit: »Diese Sätze aber, die aus jenen Vergleichen bestehen, sind sprichwörtlich, und sie werden mit Zustimmung des Volkes bekräftigt.«62 Das dritte Glied umfasse die Verse Mt 12,36 f. Sie bilden die eigentliche Pointe der Argumentation, denn erst hier stellt Jesus als Ursache der Sünde wider den Heiligen Geist die nicht erfolgte Rechtfertigung der Sprechenden heraus. Ihre Validität beziehe diese finale Entgegnung aus der a minore ad maius-Konstruktion in Mt 12,36 und der Ehrwürdigkeit des Verdammungsurteils in Mt 12,37:

»Es folgt das dritte [Glied], das die Wirkung aus den früheren beiden sichtbar macht, nämlich die Ankündigung der Strafe Gottes. Er verkündet nämlich wegen dieser Lästerung und wegen dieser Bosheit den Pharisäern die ewige Verdammung. Dass diese sicher ist, zeigt er zuersta minore, dann aus einem sprichwörtlichen Satz.A minore in Vers 36, wo er nahelegt, dass die Menschen (nämlich die, denen die Sünden bisher nicht vergeben sind) verdammt werden wegen jeden unnützen Wortes, d. h. wegen jeden unnützen Wortes hinsichtlich der Ehre Gottes oder der Erbauung des Nächsten; weswegen zu verstehen übrig bleibt, wie viel mehr die Menschen wegen der Lästerung des Heiligen Geistes verdammt werden, die ohne Zweifel aus Worten besteht, die Gott die Ehre entziehen und den Nächsten zugrunde richten [derogantia gloriae Dei & proximum destruentia]. Mit einem sprichwörtlichen Satz in Vers 37. Er wird erläutert mit einer [dema minore-Argument] ebenbürtigen Zusammenstellung der Gegensätze. Denn wie der Mensch aus den frommen Worten gerechtfertigt wird, d. h. aus solchen, die die Ehre Gottes und die Erbauung des Nächsten betreffen, d. h. für fromm und unschuldig erklärt wird, so wird er aus den gottlosen und lästerlichen Worten für gotteslästerlich erklärt, d. h. verdammt.«63

Das verbum otiosum bezieht Piscator damit konsequent auf die Sünde gegen den Heiligen Geist; die ethisch-moralischen Bedeutungspotentiale der Wortverbindung werden in den Hintergrund gerückt.

In Piscators Kommentierung zeichnet sich ein deutlicher his-torischer Abstand zur reformatorischen Exegese ab: Während Piscator mit seinem logisch-diskursiven close reading die Funktionalität der Verse innerhalb ihres literarischen und argumentativen Kontextes tiefer als die reformatorischen Autoren erfasst, steht ihr transkontextueller und universaler Anspruch eher zurück. Gerade in ihrer apologetischen Abzweckung entfernt sich seine dialektisch-rhetorische Erschließungsmethode von der theologisch fluideren, lebensweltlich unmittelbareren reformatorischen Exegese. Indem Piscator die Geschlossenheit des Redegangs und die logische Durchschaubarkeit der Argumentation Jesu hervorhebt, betont er die theologische Selbsterschließungskraft und Genügsamkeit des biblischen Textes, wie er von römisch-jesuitischer Seite bestritten wird.

IV Mt 12,36 f. aus auslegungsgeschicht- licher Perspektive –



Zusammenfassung und Schlussfolgerungen



Hinsichtlich der eingangs skizzierten Erschließungsperspektiven lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung folgender Weise bündeln.

Aus einer historischen Perspektive wirft die Studie ein Schlaglicht auf die exegesegeschichtliche Eigentümlichkeit der reformatorischen Auslegungen, wobei sich markante konfessionelle und methodologische Differenzen abzeichnen. Die Wittenberger Auslegung (Sarcerius und Luther) konzentriert sich eher auf die theologisch-überzeitliche Reichweite des Textes und seine soteriologischen bzw. rechtfertigungstheologischen Bedeutungsvalenzen, während die reformierten Kommentatoren eine literarisch-argumentative Exegese praktizieren, die methodologisch kontrollierter von der spezifischen binnentextuellen Funktion des Verses Abstand nimmt, um sich zu einer heiligkeitstheologischen Schlussfolgerung durchzuringen.

In Hinblick auf den biblischen Text, d. h. aus exegetischer Perspektive wird die Interaktion zwischen Auslegung und Textstrategie in den Blick genommen: Bestimmte Reizpunkte eines Textes veranlassen Ausleger und Auslegerinnen dazu, logische, grammatikalische oder theologische Leerstellen auszugleichen (oder aber zu amplifizieren). Die für Wolfgang Isers wegweisendes, rezeptions-ästhetisches Konzept zentralen »Unbestimmtheitsbeitr[äge]«64 bzw. Umschaltungsinstanzen »zwischen Text und Leser«65 kommen hier zum Tragen: Insofern die Auslegungsgeschichte reflektiert, wie weit Ausleger ein »Beteiligungsangebot« und einen »Auslegungsspielraum« des Textes wahrnehmen und mit einer dem Text inhärenten Strategie interagieren oder kooperieren,66 markiert sie ein exegesegeschichtliches und damit zugleich exegetisches Problemfeld. Es ist ja bemerkenswert an allen Auslegungsoperationen des 16. Jh.s (wie auch der Antike), dass nicht etwa der schillernde, mehrdeutige Begriff »Rechenschaft« (ratio) oder der »Tag des Gerichts« (dies iudicii) und nicht einmal die Rechtfertigungsterminologie in Mt 12,37 das vordringliche exegetische oder theologische Interesse der Ausleger erheischen – als besonders »projektibel« erweist sich durchweg das verbum otiosum. So erschließen die Ausleger mehr oder weniger offensiv die philologischen, historischen oder literarischen Kontexte des verbum otiosum, versuchen etwa, die argumentative Architektur von Mt 12 zu erfassen, um ein Bedeutungsgefälle zu rekonstruieren, vor dessen Hintergrund sich Funktion und semantischer Umfang des »unnützen Wortes« bestimmen lassen.

In hermeneutischer Hinsicht fällt auf, dass die Ausleger den Übergang zwischen einer historischen und theologischen Erschließung von Mt 12,36 f. unterschiedlich stark reflektieren und gewichten. Die Ausleger beziehen die Warnung vor dem »unnützen Wort« auf die Sünde wider den Heiligen Geist, auf die Erlösungsbedürftigkeit der Pharisäer oder aber – unter Verweis auf den weiter gefassten neutestamentlichen Horizont – auf die Infragestellung des Heilswillens Gottes oder die Verleumdung des Nächsten. Auf diese Weise erschließen die Ausleger den transkontextuellen, theologischen Mehrwert der Rede vom »unnützen Wort« und übertragen das Drohwort aus seinem literarischen Kontext – dem Streitgespräch mit den Pharisäern – auf die rhetorische Entgleisung des ungerechtfertigten Sünders: Wie die Pharisäer müssen sich auch diejenigen, die Christus als das inkarnierte Wort Gottes fortwährend verkennen, als Untäter bzw. Schwätzer erweisen. Der Transfer zwischen literarischer und theologischer Bedeutungsebene wird nicht immer hermeneutisch reflektiert, wohl aber wird zwischen einer hamartiologischen und soteriologischen Universalisierung der Argumentation vermittelt: Die Pharisäer personifizieren dann diejenigen Ungläubigen, die sich der Macht des Wortes Gottes entziehen, welches die Sprache des Menschen ergreifen und beanspruchen will – Gott zur Ehre und dem Nächsten zum Wohle.

Wie nützlich ist es nun, so viele Worte um das verbum otiosum zu machen? Tatsächlich konkretisieren sich in den hier dargestellten Auslegungen der Verse Mt 12,36 f. entscheidende exegetische Erschließungsperspektiven und zentrale sprachtheologische und -ethische Prämissen der Reformatoren. Mit unterschiedlichen Nuancen und Akzenten sehen sie in der Warnung vor dem »unnützen Wort« eine dreifache Forderung an die Gläubigen ausgedrückt: Das Drohwort konfrontiert den Menschen erstens – und ganz grundsätzlich – mit seiner kreatürlichen Befähigung zur Sprache und inspiziert die (semipermeable) Barriere zwischen Gedanken und Worten, Innerlichkeit und Äußerung, Selbst und Gegenüber – diese Barriere zu internalisieren erscheint als notwendig und heilsam. Zweitens gemahnt das verbum otiosum zur rhetorischen Selbstachtsamkeit, insofern es die asozialen Automatismen und zerstörerischen Dynamiken zwischenmenschlicher Kommunikation taxiert und entlang der Maximen der Erbauung des Nächsten und der Achtung Gottes regulieren möchte. Zuletzt verpflichtet die Warnung vor dem verbum otiosum den Menschen – vor allem, wenn dieser auf Kanzel oder Katheder offiziöse Verantwortung übernimmt – dazu, die Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen das Wort Gottes vernehmbar ist. Die besondere Pointe der reformatorischen Auslegung von Mt 12,36 f. liegt darin, dass sie als unhintergehbare Bedingung einer Vermeidung des verbum otiosum die Gegenwart des Wortes Gottes ausweist. Insofern stellt die reformatorische Interpretation des »unnützen Wortes« nicht weniger als eine praxeologische Zuspitzung der grundstürzenden reformatorischen Sprachtheologie dar, über welche je- doch – da sie umfassend und bestens erforscht ist –67 an dieser Stelle kein Wort mehr zu verlieren ist, es sei denn, man wolle die Warnung von Mt 12,36 f. leichthin in den Wind schlagen.

Abstract



In this study, the methodological and hermeneutical operations of the History of Exegesis (Auslegungsgeschichte) are exemplified by Reformation approaches to the interpretation of Mt 12:36 f. and attempts to understand the »useless word« (verbum otiosum). From a historical perspective, the study shows the historical specifities and the confessional character of the Reformation interpretations. With regard to the biblical text, i. e. from an exegetical perspective, the interaction between interpretation and textual strategy is examined. Here it becomes apparent that the exegetes try to reconstruct the philological, historical or literary contexts of the verbum otiosum in order to be able to determine the function and semantic scope of the »useless word«. From a hermeneutical point of view, it becomes apparent that the exegetes reflect the transition between a historical and a theological interpretation of Mt 12,36 f. to different degrees when they transfer the logion from its liter-ary context – the argument with the Pharisees – to the rhetorical derailment of the unjustified sinner. It can be seen that in the understanding of the »useless word« Reformation language theology reaches an exegetical culmination.

* Albrecht Beutel zum 65. Geburtstag.

1) WA DB 6; 59 (1546).

2) Als Klassiker der Hermeneutik der Auslegungsgeschichte seien genannt: Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 21966, 9–27; Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987, 393–406; Albrecht Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte: Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, ZThK 94 (1997), 84–110. Auf folgende gewichtige auslegungsgeschichtliche Untersuchungen (zu verschiedenen kirchengeschichtlichen Epo- chen) sei exemplarisch verwiesen: Monnica Klöckener, Die Frau am Jakobsbrunnen in altkirchlicher Johannesexegese. Erkenntnis, Pädagogik und Spiritualität bei Origenes, Johannes Chrysostomos und Augustinus (Adamantiana 19), Münster 2021; Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort: Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), Tübingen (1991) 2006; Arnold Angenendt, »Lasst beides wachsen bis zur Ernte ...«. Toleranz in der Geschichte des Christentums, Münster 2018. Verwiesen sei zudem auf die im Entstehen begriffene Encyclopedia of the Bible and Its Reception (bisher 20 Bde.). Viele Hinweise und Diskussionsimpulse verdanke ich den Mitgliedern des seit 2020 tagenden interdisziplinären Oberseminars zur Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte johanneischer und paulinischer Texte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster.

3) Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Tübingen 51968, 211–235, v. a. 218 f.

4) Vgl. zu diesem sinnerschließenden Begriffspaar Christina Hoegen-Rohls, Zwischen Augenblickskorrespondenz und Ewigkeitstexten. Eine Einführung in die paulinische Epistolographie (BThS 135), Neukirchen-Vluyn 2013.

5) Vgl. zum Begriff »Extravaganz« Kurt Erlemann, Gleichnisse. Theorie – Auslegung – Didaktik, Tübingen 2020, 50 f.

6) Die Abgrenzung und Zusammenhänge der Redegänge in Mt 12 erscheinen einigermaßen konfus. Mt 12,1–8 läuft offenbar auf Mt 12,8 zu; die Wundergeschichte von Mt 12,9–14 kulminiert im Tötungsbeschluss der Pharisäer (Mt 12,14); Mt 12,15–21 dreht sich um ein Verheißungswort Jesajas, welches das Schweigegebot Jesu an die geheilten Kranken erläutert; Mt 12,22–37 enthält mehrere »goldene Worte«, etwa den Beelzebub-Vorwurf, das Urteil über die Sünde wider den Heiligen Geist (12,31 f.), das Bild vom Baum und den Früchten (12,33–35) und zuletzt die Androhung des Gerichts über das unnütze Wort (12,36 f.).

7) Dies wird die auslegungsgeschichtliche Untersuchung im Detail zeigen.

8) Vgl. u. a. Hil. Psalm 118,12. 140,5; Iren. Haer. 2,19,2; Chrys. Phil. 10,5; Orig. Mart. 7; Greg. Reg. Past. 3,14; Hier. Ep. 130,7; Apost. Const. II,1; Athan. Ad Marc. 15; Bas. Caes. Reg. 220; Chrys. In IIThess 4,8; Greg. Ep 18 (34). Die reformatorischen Ausleger nehmen freilich in ihrer Auslegung der Verse nur selten explizit Bezug auf die Kirchenväter, v. a. Hier. in Matt. 2,12,42 findet gelegentlich Berücksichtigung (etwa bei Bullinger, s. u.).

9) Diese elenktische Auslegungsrichtung wird besonders von Johannes Chrysostomos in der 42. seiner Matthäus-Homilien (zu Mt 12,33–37) vorgetragen.

10) Eine solche sprachasketische Auslegungstendenz, mit der unterstrichen wird, dass in Mt 12,36 einargumentum a minore ad maius vorliege, Jesus mit seinem Drohwort also unterstreichen wolle, wie unnachgiebig Gottes Gericht auch hinsichtlich der vermeintlich lässlichen Unworte ausfalle, kommt besonders nachdrücklich in Gregors Pastoralregel zum Ausdruck. Er erhebt die achtsame Selbstzügelung der Sprache zu einem Ausweis priesterlichen Lebens (Greg. Reg. Past. 3,14). Vgl. ebenso programmatisch Greg. Ep. 18 (34).

11) Vgl. etwa Jacques Lefèvre d’Étaples, Commentarii Initiatorii in qvatuor Evangelia in euangelium secundum Matthaeum. In euangelium secundum Marcum. In euangelium secundum Lucam. In euangelium secundum Iohannem, Köln 1521, 62v–65r (mit Paginierungsfehler).

12) Desiderius Erasmus, Paraphrasis in Evangelium Matthaei, Köln 1522.

13) Vgl. nur Erasmus, Paraphrasis (s. Anm. 12), Widmungsbrief an Kaiser Karl V., v. a. a4v.

14) Der Begriff taucht sogar explizit in der Vorrede an den Leser auf (vgl. Erasmus, Paraphrasis [s. Anm. 12], Vorrede, a7r). In der Vorrede macht Erasmus zudem darauf aufmerksam, dass Matthäus daran gelegen ist, Jesus als »huius gratuitae felicitatis nuncius« und als »philosophiae salutiferae doctor, ipse exemplar, ipse praemii & pignus & sponsor & autor« darzustellen (c3v). Diese »heilbringende und wirkreiche Philosopie« stehe über Dogmen, Religion und mosaischer Gesetzesobservanz (vgl. c3v–c4r).

15) Jesus stehe im Matthäus-Evangelium unter dem »Dauerfeuer« pharisäischer Kontrahenten, so dass die Wahl der rechten Worte als ein existentielles Anliegen des ersten Evangeliums erscheint. Vgl. auch hier Erasmus, Paraphrasis (s. Anm. 12), Vorrede, b2v: »Docet, terret, minatur, blanditur, consolatur. Habet & nunc Iudaeos suos, qui non ferunt illius luce observari suum Mosen. Habet scribas & pharisaeos, qui insidientur.«

16) Vgl. Erasmus, Paraphrasis (s. Anm. 12), q2v. Hv. PB.

17) Ebd.

18) A. a. O., q2v–q3r.

19) Erasmus Sarcerius, In Matthaeum Evangelistam iusta scholia, Frankfurt a. M. 1538.

20) Vgl. Sarcerius, Scholia (s. Anm. 19), 3: »Miraculis praemittit doctrinam Christi usque octaum caput, diligentissime monens de praecipuis nostrae religionis capitibus.«

21) Vgl. Sarcerius, Scholia (s. Anm. 19), 3 f: »Alia ratione agit Christus de eleemosynis, quam mundus iudicat. Item de oratione, de thesauris colligendis, de uictu, de iudicio proximi, de falsa & vera doctrina. In miraculis plerumque contentus est Matthaeus effectibus uerae fidei in illis, qui sanantur, raro mentionem faciens, aut auditi uerbi, aut fidei praecedentis. Hinc adorationem, precationem, implorationem & alios huiusmodi effectus & gestus uerae fidei ad-tribuit sanandis, quibus primum accessere ad Christum.« Eine häresiologische Auslegungsrichtung, die unter demverbum otiosum vor allem das Ketzerwort verstanden wissen möchte, formiert sich bereits in der Alten Kirche, besonders im Mt-Kommentar des Hilarius von Poitiers: Er sieht mit dem Bild vom schlechten Baum den arianischen Subordinatianismus und den homöischen Egalismus anvisiert, wobei er das Gleichnis als Sinnbild für die innertrinitarischen Distinktionen und die Substanzgleichheit von Vater und Sohn auffasst, so dass die Güte der Taten des Sohnes (der Früchte) auf die Güte seiner Substanz (den Baum) schließen lasse, welche er mit dem Vater gemein habe (vgl. Hil. Matth. 18). Die prononcierte substanzontologische Deutung von Baum und Früchten wird sich in der weiteren Rezeptionsgeschichte des Textes nicht durchsetzen, v.a. die lutherische Exegese betont die heiligungstheologischen Implikationen des Bildes, vgl. exemplarisch Luthers Freiheitsschrift (WA 7; 32,35–33,28), aber auch AC 4 (BSLK 209,50–210,15), AC 13 (BSLK 311,49–312,9), FC SD 2 (BSLK 886,6–16).

22) Sacerius, Scholia (s. Anm. 19), 166.

23) Ebd.

24) A. a. O., 167.

25) Hier wird die deutsche Übersetzung der Annotationes von Mülhaupt zitiert: D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. v. Erwin Mülhaupt, Göttingen 41973, 452. Der Fundort des lateinischen Text wird aus der WA beigebracht (hier: WA 38; 549,20–24).

26) Luther, Evangelien-Auslegung (s. Anm. 25), 452 (= WA 38; 550,20–32).

27) A. a. O., 453 (= WA 38; 551,12–26).

28) Ebd. (= WA 38; 551,29).

29) Ebd. (= WA 38; 551,38).

30) Vgl. a. a. O., 454 (= WA 38; 551,39–42).

31) Ebd. (= WA 38; 551,42–552,2).

32) Heinrich Bullinger, In Sacrosanctvm Iesu Christi domini nostri Evangelium secundum Matthaeum Commentariorum libri XII, Zürich 1542.

33) Vgl. a. a. O., 124v: »Das hebt er hervor und steigert seinen Ausspruch durch einen Vergleich vom Kleineren zum Größeren [per comparationem a minore ad maius]: Wenn die Menschen, sagt er, Rechenschaft für jedes überflüssige Wort ablegen werden, wie viel mehr werden von jenen die grässlichen, verabscheuungswürdigen und gotteslästerlichen Worte erwogen werden, die sie gegen Gott und sein Wort ausgespien haben. […]«

34) A. a. O., 125r.

35) Die Vorreden der Bibelkommentare Bullingers bündeln eine Fülle von exegetischem Fachwissen, welches Kirchenväter, mittelalterliche Autoren und Humanisten beigebracht haben. Bullinger ist sich unter Auswertung altkichlicher Zeugnisse sicher, dass Matthäus ursprünglich auf Hebräisch geschrieben hat, vgl. Bullinger, Matthaeum (s. Anm. 32), 1r: »[…] primus Matthäus quod hactenus uiua uoce annunciarat Euangelium, non sine domini iussu & inspiratione literis commendat, […] Hebraeoorum gratiam Hebraica linguae conscribit.«

36) Vgl. Bullinger, Matthaeum (s. Anm. 32), 124v–125r.

37) Vgl. a. a. O., 125r mit Verweis u. a. auf Eph 5,6; Ps 34,13; Jak 1,19 und das bereits erwähnte Diktum des Hieronymus (hier. in Mt. 2,12,42).

38) Vgl. A. a. O., 2r: »Ipsa uero narrationis historiaeve exaedificatio.«

39) A. a. O., 2r.

40) Wolfgang Musculus, In Euangelistam Matthaeum Commentarii tribus tomis digesti […], Basel 1551.

41) Diese Auslegungslinie ist in Musculus’ Vorwort vorweggenommen, vgl. Musculus, Commentarii (s. Anm. 40), 1: »Conveniebat itaque maiori fide ac diligentia apostolorum & Euangelistarum scripta quotidie non legre solum, sed & lecta expendere, expensa in animos recondere, & ad illorum normam cum fidem tum uitam nostram, adiuuante nos spiritu Christi, conformare: nec ab illorum luce uel latum digitum oculos mentis ostrae auertere.«

42) Musculus, Commentarii (s. Anm. 40), 349: »Er spricht nicht von irgendeinem boshaften Wort, sondern vom unnützen. Wenn er aber über das unnütze spricht, was sagt er über das boshafte und schädliche? Er spricht nicht über irgendein unnützes Wort, sondern über jedes unnütze Wort.«

43) Ebd.: »Denn wie beschaffen du bist, so kommen die Worte hervor, die du sprichst. Wenn du gut sprichst, ist das ein Zeichen dafür, dass du von gutem Herzen bist: Also wirst du aus deinen Worten gerechtfertigt, d. h. du wirst gerecht gesprochen (so spricht man nämlich vom göttlichen Gericht – nach menschlicher Sitte).«

44) Ebd., 349.

45) Ebd.

46) Ebd., 349.

47) So die Marginalüberschrift bei Musculus, ebd., 349.

48) Ebd., 349.

49) Ebd.

50) Ferus’ Reforminteresse wird auch in seinem Matthäus-Kommentar aktenkundig: Johann Wild, In sacrosanctvm Iesv Christi Evangelium secvndvm Matthaeum commentatoriorum libri quatuor, Mainz 1559. Hier wird eine gewisse Nähe zur reformatorischen Sprache und Theologie sichtbar, etwa in der sehr prononcierten Verwendung einer der Exklusivpartikel, vgl. nur A2v: »Euangelium graeca dictio est, latine bonum nuncium significam. Ita Christus suam doctrinam bonum nuncium appellauit, quod nullus alius fecit, nec Philosophi, nec Prophetae. Solus Christus. Et huic ideo nouae rei, nouum titulum dedit. Res noua, Euangelium.«

51) Schon in seiner Einleitung deutet sich Wilds christozentrische, soteriologische Interpretationslinie an. Ganz anders als die reformatorischen Kommentatoren hebt er die Annäherung an denzum Fleisch gewordenen Christus als Ziel und Skopus des Evangeliums hervor (vgl. Wild, Matthaeum [s. Anm. 50], A1r). Im Vorwort durchläuft Ferus daher auch die ganze, auf Christus zentrierte Heilsgeschichte vom Sündenfall über das Kreuzesopfer bis zum Ostergeschehen.

52) Vgl. v. a. Wild, Matthaeum (s. Anm. 50), 181v.

53) Eucharistische Tendenzen schimmern vor allem dort hindurch, wo der Ausleger auf das Sühneblut und die Heilsmittlerschaft Christi zu sprechen kommt, vgl. Wild, Matthaeum (s. Anm. 50), 181rf.

54) Johannes Piscator, Analysis logica evangelii secundum Matthaeum una cum scholiis et observationisbus locorum doctrinae […], Herborn 1594.

55) Piscator, Analysis (s. Anm. 54), praefatio, (:) iiir. Vgl. auch (:) iiiv: »quod arcanum illud Dei de salute nostra consilium e sinu Patris protulit, & Judaeis tanquam minister circumcisionis proprio ore exposuit: idque singulari cum gratia & authoritate? […] quod Scribas & Pharisaeos adversantes atque insidiantes sibi, liberrime gravissimeque proptr ipsorum hypocrisin & falsam doctrinam reprehendit?«

56) Vgl. Piscator, Analysis (s. Anm. 54), praefatio, (:) vv–vir: »Quarum illa in Observationibus locorum doctrinae praecipue perspicitur: quos breviter e singulis fere versiculis annotavi: exceptis nonnullis locis, ubi necessitas horum temporum disputationem paulo prolixiorem desiderare est visa: verbi gratia ubi dicta quaedam a sophisticis interpretationibus Jesuitae Bellarmini, propugnatoris Papatus acerrimi, quibus illa ad palliandum errores Papisticos detorquet, vindicantur […] Perspicuitas vero explicationis meae duabus in rebus est posita: in distincta diversarum explicationis partium ordine. Partes explicationis meae sunt tres: Analysis Logica, Scholia, & Observationes locorum doctrinae.«

57) Vgl. auch die bemerkenswerte Auslegung des ersten Teils der Rede, vgl. Piscator, Analysis (s. Anm. 54), 352 f., mit der Piscator die hintergründigen Deduktionen in Jesu Entkräftung des Beelzebub-Vorwurfs ermittelt.

58) Piscator, Analysis (s. Anm. 54), 355.

59) A. a. O., 356.

60) Ebd.

61) Ebd..

62) A. a. O., 357.

63) Ebd.

64) Wolfang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970, 16.

65) A. a. O., 33.

66) A. a. O., 15 f.

67) Exemplarisch verweise ich hier auf Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), Tübingen (1991) 2006; Ders., »Scriptura ita loquitur, cur non nos?« Sprache des Glaubens bei Luther (KuD 40, 1994, 184–202); Ders., Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirklichkeit Gottes bei Luther (in: Luther und Ontologie. Das Sein Christi im Glauben als strukturierendes Prinzip der Theologie Luthers [VLAR 21 = SLAG 31], 1993, 70–93).