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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

981-983

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rommel, Herbert

Titel/Untertitel:

Globale Verteidigung der Menschenwürde. Zum Wert des Menschen im Judentum, Christentum und Islam.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020. XIV, 383 S. m. 5 Abb. Geb. EUR 89,00. ISBN 9783506704535.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Noch ein Buch über Menschenwürde? Herbert Rommel, katholischer Theologe und Ethiker in Weingarten, unternimmt eine interreligiöse Reflexion auf die Menschenwürde, die gleichermaßen Christentum, Judentum und Islam gilt (XIII). Dabei fällt schon zu Anfang auf, dass merkwürdig substantialistisch, gar personalisierend über Menschenwürde geredet wird: »Die Menschenwürde steht unter Druck. Es ist nicht davon auszugehen, dass dieser Druck abnehmen wird.« (1) Dieses Unbehagen setzt sich fort, als juristische Konzeptionen von Menschenwürde, ihre Ein- und Zuordnung zu Grundrechten in den Hintergrund treten, während R. eher praktische Gefährdungen in der Ökonomie, argumentative Gefährdungen in der naturalistischen Philosophie sieht (1 f.). Er nutzt Menschenwürde, um sich gegen soziale Gefährdungen durch zunehmende soziale Ungleichheit zu wenden (15 ff.362). Als Ziel seiner Ausführungen postuliert er eine Allianz (oder Koalition) zur globalen Verteidigung der Menschenwürde (2 vgl. 31), was sich am Ende als eine politische Formel erweisen wird.

R. geht von einer »Standardversion« der Menschenwürde aus. Er versteht sie als moralischen Begriff, als Beschreibung des höchsten, absoluten Wertes des Menschen, dem ein universaler Geltungsanspruch zukomme (z. B. 3.9–15, passim). Als weitere Merkmale der »Standardversion« gelten ihm die Begründungsoffenheit und die bekannte Objektformel.

Dabei bezieht er sich nicht auf naturrechtliche oder ontologische Begründungen von Menschenwürde, sondern rekurriert zur Bestimmung von Menschenwürde auf den moralisch-psychologischen Begriff der Empörung. Dieser könne nur »sinnvoll erläutert werden, wenn angenommen wird, dass eine Menschenwürde existiert« (3). Menschenwürde wird durch Erfahrungen der »Miss-anerkennung« als Wert bestimmt. Das erinnert sehr an Wilfried Bruggers Rede von exemplarischen Unrechtserfahrungen, die zur Ausbildung von Menschenrechtskatalogen führen, jedoch wird Bruggers sehr viel juristisch-prozeduralerer und psychopolitisch nicht so stark aufgeladener Begriff nicht genannt. Empörung versteht R. als »hochmoralische Reaktionsweise auf physische oder strukturelle Gewalterfahrungen« (59), die aber eben ihrerseits ambivalent ist.

Mit Hilfe dieser Kategorie versucht R. eine Begründung von Menschenwürde zu entwickeln, die von den Einwänden gegen das Naturrecht nicht getroffen wird (63). Diesen neuen Würdebegriff nutzt er, um gegen relativistische und ontologiekritische Würdebegriffe (Luhmann, Wetz u. a.) zu argumentieren (24.26). Dagegen entwickelt er, was er eine »explikative« Begründung der Menschenwürde nennt (34.37), im Gegensatz zur konsensuellen und naturrechtlichen Begründung von Würde. Menschenwürde sei kein »empirisches Faktum«, aber wegen der Empfindung der Empörung ähnele es einem solchen (67). Für R. steht damit fest, dass es einen Standardbegriff der Menschenwürde als absolutem anthropologischem Höchstwert gibt, der universal begründbar ist.

Angesichts der Vielzahl konkurrierender Würdeentwürfe fragt R. sodann nach gemeinsamen Elementen und stellt sich zur Aufgabe, im Medium einer komparativen Theologie (4.87) einen konsensuellen Würdebegriff der Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam zu entwickeln. Komparative Theologie verbinde »religiöse Standortgebundenheit« mit »wertschätzende[r] Offenheit« für andere Religionen (87). Der so erhobene Würdebegriff könne sich mindestens auf die gemeinsame »monotheistische Basis« (5) der drei Religionen berufen. R. behauptet, dass die großen Religionen im Moment gar nicht gegen die vielen globalen Verletzungen der Menschenwürde protestieren (37), was als Aussage angesichts vieler christlicher Initiativen im Bereich Frieden, Flüchtlingspolitik und Klimakrise verwundert.

In den folgenden, sehr detailliert ausgearbeiteten Teilen sucht R. in den normativen Schriften von Christentum, Judentum und Islam sowie in der Exegesen und theologischen Interpretationen nach Äquivalenten zur Menschenwürde. Für das Christentum stellt er den Begriff der Gottebenbildlichkeit heraus, aber auch deren Gefährdung durch die Sünde des Menschen. Neutestamentlich gelte, dass die vollständige Gottebenbildlichkeit des Menschen erst noch im Reich Gottes realisiert werden müsse (179). Es fällt im übrigen auf, dass R. die christliche Position im wesentlichen aus der katholischen Theologie entwickelt und die – wenn auch nicht großen – Differenzen zur protestantischen Ethik unbeachtet bleiben. Für die jüdische Theologie untersucht R. weitere Äquivalente der Würdevorstellung, reflektiert über noachitische Gebote und das Verhältnis von Juden und Heiden. Im Koran untersucht R. vor allem die theologische Stellung Adams als Repräsentant der universalen Menschheit.

R. kommt zu dem Ergebnis, dass in allen drei Religionen dem Menschen eine »äußerst hohe Werthaftigkeit« (305) zugesprochen werde. Diese werde von einigen Exegeten ontologisch, von anderen funktional ausgelegt (308). Wegen solcher Gemeinsamkeiten kommt R. am Ende zu der Forderung, dass die Vertreter der drei Weltreligionen, aber auch nicht-religiöse Menschen eine globale Koalition für die Menschenwürde eingehen sollten. Zu diesem Zweck versucht er auch, die theologischen Ergebnisse seiner Untersuchung in eine nicht-religiöse Sprache zu übersetzen (349–352). Danach kommt er zu diesem Fazit: »Die Menschenwürde muss global verteidigt werden: von einer menschenrechtlichen Politik, von einer menschenrechtlich orientierten Zivilgesellschaft und von Religionen, die den Würdewert universal anerkennen. Nur eine ununterbrochene Verteidigung der Menschenwürde ist in der Lage, ihre ethische und rechtliche Inanspruchnahme auch für zukünftige Generationen zu sichern.« (363) Diese Passage ist erneut durch eine merkwürdige substantialisierende Redeweise von der Menschenwürde geprägt.

Die Verdienste dieser Untersuchung liegen in der sehr detaillierten Explikation von Würdeäquivalenten in den einzelnen Weltreligionen. Fragen bleiben bei der Einordnung dieser Fallstudien in einen ethischen und philosophischen Rahmen. Zwar werden die Differenzen zwischen religiösen und nichtreligiösen Konzeptionen stets markiert, aber man wird den Eindruck nicht los, dass R. im Menschenwürde-Diskurs drei Positionen zugleich einnimmt: die des eigenparteilichen katholischen Ethikers, die des komparativen Theologen und die des Schiedsrichters, der sich ein Urteil über Konsens und Differenz in Menschenrechtsfragen erlaubt.

Was den ethisch-philosophischen Rahmen angeht, würde ich folgende Fragen stellen: 1. Genügt es, auf ökonomische Ungleichheiten als Würdeverletzungen hinzuweisen, oder muss nicht noch in ganz anderer Weise der Rechtsdiskurs über Menschenwürde einbezogen werden? 2. Wäre es im Sinne komparativer Theologie nicht nötig, islamische und jüdische Theologien der Menschenwürde nicht aus einer Binnenperspektive darzustellen, will sagen: Vertretern der jeweiligen Theologie zu Wort kommen zu lassen? 3. Trägt die Verknüpfung von Empörung und Würde soweit, dass sie als anthropologische Begründung von Menschenrechten ausreicht? 4. Wie ist mit dem Übergang von ethischer Begründung der Menschenwürde zu politisch-zivilgesellschaftlichen Allianzen zur Durchsetzung von Menschenwürde umzugehen?

Um es auf einen Begriff zu bringen: R. entwickelt in seiner Rahmenargumentation sehr weitreichende Forderungen und Bestimmungen, die im Grunde gar nicht nötig wären, um die Qualität seiner religionsspezifischen Einzeluntersuchungen zu Menschenwürde, Gottebenbildlichkeit, Tötungsverbot, Sünde und theologischem Universalismus zu tragen. Letztere haben ihre Qualität in sich selbst und verdienen auch ohne den Rahmen eine gründliche Lektüre. Eine bescheidenere komparative Theologie wäre hier mehr gewesen.