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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

978-979

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Heidemann, Astrid [Hg.]

Titel/Untertitel:

Lebensfülle – experimentelle Erprobungen eines theologischen Leitbegriffs.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 280 S. = Quaestiones disputatae, 315. Kart. EUR 45,00. ISBN 9783451023156.

Rezensent:

Frederike van Oorschot

Der Band behandelt eine Grundfrage christlicher Lebenshaltung: Ausgangspunkt ist die Metapher der Lebensfülle, geprägt von dem katholischen Theologen Ralf Miggelbrink, Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen. Miggelbrink entfaltete die Metapher 2009 in einer gleichnamigen Monographie im Anschluss an Joh 10,10, wo Leben in Fülle als der Kern der Sendung Jesu beschrieben wird. Der vorliegende Band dokumentiert ein Symposium von 2019, das der Diskussion und Vertiefung von Miggelbrinks Konzepts im Licht der theologischen Disziplinen gewidmet war.

Entsprechend ist der Band gegliedert: Nach einer Einführung und einer thematischen Hinführung folgen in vier Einheiten biblisch-theologische, philosophie- und theologiegeschichtliche, systematisch-theologische und praktisch-theologische und interkulturelle Perspektiven. So eignet sich der Band sowohl als Einführung in das Konzept der Lebensfülle als auch zur vertieften Auseinandersetzung aus spezifischen fachlichen Perspektiven.

Einführung ist, neben der Einführung der Herausgeberin, zum einen der Beitrag von Ulrike Link-Wieczorek: Hinführend beschreibt sie Fülle als leiborientierte Theologie, die auf »communio und gegenseitige Anteilnahme« zielt (23). Gegen die »menschliche Verzerrung der gottgegebenen Fülle des Lebens« versteht Miggelbrink das »Leben im Zusammenhang mit anderen Leben« (28) und hält der »Mangelobsession« (30) die Dynamik des Empfangens entgegen. Ob – wie Link-Wieczorek weiterführt – Miggelbrink und die Story-Theologie als zwei Formen weisheitlicher Theologie, also einer »Theologie als Lebensweisheit« (33) und des Lebenswissens, verstanden werden können, wird im Kontext des Bandes nicht diskutiert. Zum anderen stellt Miggelbrink sein Konzept in einem Kapitel vor: Fülle versteht er im Kontext eines »dynamischen, eschatologischen Daseinskonzepts« (233). »Sinnspuren der alltäglichen Fülle« (239) liegen nach Miggelbrink in der Gabe und der Subjekt-Setzung des Menschen. Während eine Mangel-orientierung für endliches Leben nicht sinnstiftend ist, betont das Konzept der Lebensfülle eine sich verschenkende Güte vor dem Hintergrund der biblischen Botschaft.

Wie das Konzept der Lebensfülle mit den biblischen Texten resoniert, führen Kathrin Gies und Markus Tiwald aus. Zwar findet sich der Begriff im Alten Testament nicht, wie Gies einführt, aber die Idee und entsprechende Narrative sieht sie durchaus: Anhand der Elischa-Erzählung führt sie aus, wie dieser die Logik des Mangels und der Konkurrenz durch eine Fülle überwindet, die sich auf Gottes Offenbarung beruft. Gott kann daher als »ein Gott der Fülle und des Segens« beschrieben werden und »die sich schenkende Fülle« und »Erfahrung des göttlichen Überflusses« wird »als Prinzip des Lebens« erkennbar (53). Tiewald erörtert die jesuanische Rede von der Lebensfülle im Kontext frühjüdischer Eschatologie: Angesichts der für Jesus gebrochenen Macht Satans zielt sein Wirken darauf, »niemanden vom gottgeschenkten Heil aus[zu]schließen« (62). Daraus resultiert eine »Grundhaltung einer proaktiven Heiligkeit und ansteckenden Reihnheit« (63), die den Zugang zur Fülle für alle Menschen eröffnet.

Sechs weitere Kapitel dienen dem Gespräch mit ausgewählten philosophie- und theologiegeschichtlichen, systematischen und interkulturellen Perspektiven. So diskutiert Christian Hengstermann Konvergenzen zur gnostisch-patristischen Tradition am Beispiel von Origenes. Katharina Sternberg beschreibt »Lebensfülle im Erkenntnisprozess« bei Spinoza und präzisiert so das Konzept der Lebenserfüllung durch Erkenntnis, die geistige Liebe zu Gott und Benevolenz Anderen gegenüber. Unter der Überschrift »Lebens-fülle im Licht der Ideenlehre Johann Friedrich Herbarts« führt Rainer Bolle die Bedeutung der eigenen Vorstellungswelt aus, die im Sinne eines Gesichtskreises oder Gedankenkreises das Konzept der Lebensfülle erweitern kann. Józef Niwiandomski eröffnet ausgehend vom Roman »The Railway Man« den Ermöglichungsgrund der Fülle in der Hingabe Jesu Christi, da diese die Täter-Opfer-Dynamik überwindet. Konvergenzen zwischen Charles Taylors Beschreibung der Grundsehnsucht des Menschen und des Konzepts der Fülle beobachtet Veronika Hoffmann: Fülle ist bei Taylor eine »anthropologische Richtungsangabe« (222), die zugleich nach Kriterien zur Unterscheidung von »echte[r] und unechte[r] ›Fülle‹« (226) verlangt. Taylors Kriterien externer Ziele der Richtung – also Ziele, die außerhalb des Individuums selbst liegen – und der Bedeutung der Bindung an Andere werfen die interessante Frage nach einer Kriteriologie des Konzepts der Fülle auf. Ein Gesprächspartner in interkultureller Perspektive wird eingebracht: Henry Okeke erläutert die Konvergenzen zur Igbo-Spiritualität (Nigeria), in der das Leben höchsten Wert hat und Leben vorrangig sozial verstanden wird.

Stärker systematisch-theologisch vertiefend lesen sich die Bei- träge von Roman A. Siebenrock, Astrid Heidemann, Michael Qui-sinsky und Kathrin Stepanow. »Wie aber, um es zugespitzt zu sagen, verhalten sich dann Leben, Tod und Ewigkeit in der möglichen Erfahrung des Menschen?« (161), fragt Siebenrock vor dem Hintergrund von Rahners Mystagogie. Siebenrock unterstreicht die Gnade als radikale Selbsthingabe und reflektiert das Verhältnis von Lebensfülle und Selbstentäußerung. Fülle kann in diesem Licht als Verheißung und Hoffnung begriffen werden. Heidemann expliziert eine pleromatische Pneumatologie, die den Geist als Lebensspender zur Vertiefung von Miggelbrinks Lebensfülle-Theologie vorstellt. Quisinsky führt ausgehend von Miggelbrink das Verständnis der Theologie als Lebenswissenschaft aus, die Theo-logie in den Dienst des Lebens stellt. Stepanow führt unter der Überschrift »Flüchtlingskrise und Supererogation« in ethischer Perspektive aus, wie der Sollensüberschuss durch das Vertrauen in die Durchsetzung der von Gott verheißenen Fülle zu universaler Benevolenz führen kann.

Der Band bietet in seiner Anlage vertiefende Perspektiven auf das von Miggelbrink vorgestellte Konzept. Anfragen aus der Diskussion kommen eher am Rande in den Blick: So wird etwa das Problem des Mangels und der myth of plenty (9) in der Einleitung angesprochen, aber kaum aufgegriffen. Die ethischen Implikationen liegen auf der Hand und wären gerade im Blick auf die Klimakrise und Konzepte einer Ethik des Genug oder des Verzichts expliziter zu diskutieren. Auch die biblische erkennbare eschato-logische Färbung des Begriffs klingt nur an (v. a. bei Tiwald und Siebenrock): Inwiefern ist »Fülle […] unter den Bedingungen unserer Geschichte Zeichen und Sakrament, das die Hoffnung nährt« (172)?

Dass der Band diese Fragen zwar punktuell hören lässt, aber nicht aufgreift, etwa in einer Response von Miggelbrink, ist bedauernswert. Insgesamt bietet der Band somit eine Vertiefung und Erweiterung des Konzepts von Miggelbrink im Horizont der theologischen Disziplinen.