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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

953-956

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Heath, Jane M. F.:

Titel/Untertitel:

Clement of Alexandria and the Shaping of Christian Literary Practice. Miscellany and the Transformation of Greco-Roman Writing.

Verlag:

Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2020. VIII, 428 S. Geb. £ 75,00. ISBN 97811088434

Rezensent:

Dietmar Wyrwa

Mit der hier anzuzeigenden Arbeit beabsichtigt Jane M. F. Heath, Assiociate Professor at the University of Durham, das Werk des Clemens von Alexandrien im Spektrum der in der Zweiten Sophistik blühenden literarischen Beschäftigung mit miscellanies, wie es im Englischen heißt, bzw. mit der »Buntschriftstellerei«, wie es im Deutschen im Anschluss an einen Buchtitel von Claudius Aelianus gängig ist, näher zu verorten. Die Idee ist naheliegend, hat doch Clemens selbst schon durch die Wahl des Titels »Stromateis« für eines seiner Werke dessen Zugehörigkeit zu dieser Art von Literatur signalisiert. Doch das Vorhaben ist nicht leicht. Denn miscellanies ist keine durch formale Kriterien klar definierbare literarische Gattung (was die deutsche Benennung auch nicht suggeriert, jedenfalls weniger als die englische), sondern eine vage Sammelbezeichnung für Werke, die alle erdenklichen Inhalte in recht ungeordneter Abfolge zum ästhetischen Vergnügen, zur Präsentation von Polymathie und zur Bekräftigung der eigenen Bildungsidentität der Leser und Leserinnen umfassen und die grundlegend von Interaktionen zwischen den Verfassern und den Erwartungen der Leserschaft sowie den historisch-kulturellen Gegebenheiten geprägt sind (so K. Oikonomopoulou, in: The Oxford Handbook of the Second Sophistic, ed. D. S. Richter, W. A. Johnson, Oxford 2017, 448; Vfn, ebd., 26–31, stützt sich auf entsprechende Ausführungen von W. Fitzgerald, Variety: The Life of a Roman Concept, Chicago 2016).

Um einen sicheren Ausgangspunkt zu gewinnen, geht die Vfn. von vier Fallstudien aus, die in den anschließenden Untersuchungen als Leitfaden für den Vergleich mit Clemens‘ Werken (Prot., Paed., Strom.) dienen sollen: Plinius Secundus, Quaestiones naturales (das Werk wäre jedoch besser als enzyklopädische Naturkunde zu bestimmen), Athenaios, Deipnosophistai, Plutarch, Quaestiones convivales und Aulus Gellius, Noctes Atticae. So mus-tert sie die genannten Schriften unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Relation zwischen dem Autor, seinem Werk und der intendierten Leserschaft durch, um zu zeigen, inwiefern der Vergleich mit ihnen für das Verständnis der als geplante literarische Abfolge zu sehenden Werke des Clemens von Relevanz ist (Kap. 3 u. 4). Sodann untersucht sie die von Fall zu Fall in ihnen anzutreffenden Passagen der Selbstpräsentation, die faktisch gewählten, als Paratexte aufzufassenden Buchtitel und die von den Autoren selbst gebotenen Auflistungen anderer gängiger, aber verworfener Titel der Buntschriftstellerei. In allen diesen Punkten ergibt der Vergleich mit Clemens der Vfn. zufolge, dass er sich bewusst und für seine Leserschaft unübersehbar in diese Tradition der literarischen Kultur einstellt, sie aber tiefgreifend christlich transformiere: Seine autobiographische Einführung an Anfang der Strom. sei nicht his-torisch biographisch gemeint, sondern wolle seine miscellanische Aktivität im Sinne einer selbst erfahrenen geistigen Begegnung, in welcher der Logos-Christus zu den Lesern spricht, konturieren. Die Wahl der auf den ersten Blick zusammenhangslos scheinenden Buchtitel (Prot., Paed., Strom.) signalisiere tatsächlich in der innertextlichen Perspektive ein Programm der Anleitung zu einem stufenweise fortschreitenden geistlichen Entwicklungsprozess, durch den die Leser und Leserinnen dank göttlicher Intervention in immer größere Nähe zu Gott geführt werden. Was die miscellanische Praxis der Aufzählung ungenutzter buntschriftstellerischer Titel betrifft, so beabsichtige Clemens damit keine Ausgrenzung alternativer Bezeichnungen, sondern schaffe nach Art von Paratexten ein Netzwerk von metaphorischen Bezügen, die sein Werk im Ganzen durchziehen und assoziativ an biblische Symbolsprache anklingen. Auch das dornige Problem des evozierten »Didaskalos« möchte die Vfn. nach Art eines »non-title« lösen (Kap. 5–7). Um die im engeren Sinn religiöse Dimension zu fassen zu bekommen, die der Buntschriftstellerei nach Meinung der Vfn. ungeachtet aller Unterschiede im Einzelnen durchaus zugeschrieben werden darf, wendet sie sich im Weiteren den Themenkomplexen der Musen, der Verhüllungstendenz und der Mysterien-Metaphorik zu (Kap. 8–10). Clemens habe die religiös-spirituelle und soziale Bedeutung der inspirierenden und Erkenntnis gewährenden Musen in der miscellanischen Literatur klar wahrgenommen und deshalb diese Tradition bewusst, aber in stillschweigender Überbietung ersetzt durch das christliche Konzept des Logos-Christus (Kap. 8). Die Verhüllungstendenz, oft als eine Eigentümlichkeit von Clemens angesprochen, sei, wie die Vfn. (240.279.328) mit Verweis auf K. Eshleman, The Social World of Intellectuals in the Roman Empire, Cambridge 2012, versichert, auch der paganen Buntschriftstellerei nicht fremd gewesen, doch sie selbst verfolgt das nicht näher, sondern richtet den Fokus auf Clemens’ Gebrauch esoterischer Tropen zunächst in systematisch-theologischer Hinsicht (Kap. 9). Clemens’ »imagistic discourse« diene nicht der Ausgrenzung der Vielen, sondern stehe im Zusammenhang mit der Heilsökonomie der Offenbarung Gottes, um auf die Erlangung der rechtgläubigen Gnosis hinzuführen, was die Vfn. in zum Teil weit abführenden Darlegungen ausbreitet. – Sie selbst spricht S. 266 von »a rather complex discussion«.

Wenn in einem weiteren Schritt die bereits angesprochenen Fragen in einen zeitgenössischen grammatisch-rhetorischen Bezugsrahmen eingeordnet werden sollen (Kap. 10), behandelt die Vfn. den Komplex der Mysterien-Terminologie ebenfalls in weit ausgreifender Breite. Sie thematisiert deren kulturellen Kontext in Bezug auf die Rhetorik der Paideia, sie präsentiert ferner die drei ihr zufolge zusammengehörigen clementinischen Werke (Prot., Paed., Strom.) als mystagogisches Curriculum und interpretiert zum Schluss Clemens’ Buntschriftstellerei als Instrument einer christlichen Paideia (im Blick auf die Bewertung der Philosophie und der enzyklopädischen Studien) und als Illustration für das Kriterium rechtgläubiger Bibelexegese (in Fragen der Ehe- und Sexualmoral) sowie deren Praktizierung. Das letzte Kapitel wendet sich, wie die Überschrift lautet, der ästhetischen Poikilia zu (Kap. 11), berücksichtigt aber ebenso die psychologischen, ethischen, theologischen, literarischen und pädagogischen Aspekte des Begriffs. Die Vfn. beobachtet, wie die im griechischen Sprachgebrauch und zumal im philosophischen Bereich ambivalent gewertete Wortgruppe zu Bunt-Sein in der Abfolge der clementinischen Werke an Häufigkeit zunimmt und in Verbindung mit anderen verwandten Begriffen oder Vorstellungen eingebracht wird in die philosophische Grundproblematik des Einen und Vielen und wie dadurch ein Assoziationsgefüge zwischen der Vielgestaltigkeit des heils- geschichtlichen Wirkens der göttlichen Weisheit, der Mannigfaltigkeit des eigenen miscellanischen Werkes und der Verschiedenheit der Erfahrungspotentiale der Leser entsteht (Kap. 11). Es folgen eine nochmalige Zusammenfassung (Kap. 12), ein Annex zur weiteren Begründung der Zusammengehörigkeit der drei Schriften (Prot., Paed., Strom.), eine ausführliche Bibliographie sowie ein Register.

Damit hat Jane M. F. Heath eine materialreiche und stimulierende Studie vorgelegt, die die an sich bekannten Verbindungen des clementinischen Werkes mit der buntschriftstelle-rischen Literatur in eine neue, deutlichere Beleuchtung rückt und ihnen die bisher nicht voll zuteil gewordene, gebührende Aufmerksamkeit verschaffen kann. Ihre eher assoziativ vorgehende, durch einen ausgeprägten Sinn für metaphorische Querverbindungen charakterisierte Zugangsweise kommt Clemens’ bilderreicher Schreibweise sehr entgegen und gewinnt ihr manche überraschende Pointe ab (z. B. zu Reisen, Bienen, Bergen, Nahrung, Kindern u. s. w), auch wenn gelegentlich die begriffliche Schärfe darüber etwas zu kurz kommen mag. Eine einlässliche Diskussion ihrer Ergebnisse kann an dieser Stelle nicht erfolgen, nur einige kritische Bemerkungen sollen noch folgen.

Was die Vfn. zum Stand der Forschung vorträgt, wird der seit langem – und nicht erst seit 20 Jahren – intensiv geführten Diskussion zu Clemens in den Augen des Rez. nicht gerecht. So liest sich ihre Gegenüberstellung von »Classics« and »Patristics« fast wie ein Aufguss von ehedem (13 f.17–21). Namentlich aber geht sie viel zu schnell über die grundlegende Arbeit von A. Méhat, der wie kein zweiter allererst die literarischen Bauprinzipien, sozusagen das Gewebe derStromateis freigelegt hat und auch deren Stellung im Rahmen der Buntschriftstellerei behandelt hat – immerhin angekündigt als »the landmark study of the literary form of the Stromateis« (10) –, hinweg. Von seinem umsichtigen und besonnenen Urteilsvermögen hätte die Vfn. in mancher Hinsicht, z. B. beim Komplex der Verhüllungstendenz, profitieren können. Falsch wiedergegeben ist seine vermeintliche Zuordnung von AugustinsDe civitate Dei und unbegründet der Einwand gegen seine Erklärung derkephalaia als elementarster Bauform (11 f.50). Nur die halbe Wahrheit ist es, wenn sie wiederholt Méhat’s Satz, innerhalb der buntschriftstellerischen Literatur nehmen die Stromateis »une place à part« ein, zurückweist (2.21.44), und ihre Erkenntnis dagegenhält: »Every miscellany is different from every other, and the Christian difference is not more thoroughly different just for being Chris-tian.« (21.51) Ersteres hatte A. Méhat selbst exemplifiziert, wenn natürlich auch nicht in dem Umfang, wie es hier geschieht; letzteres widerspricht nun aber ihren eigenen Beobachtungen einer tiefgreifenden christlichen Transformation. Ein kritischer Punkt ist ferner die Verhüllungstendenz. Vehement möchte die Vfn. einer Sicht widersprechen, wonach die Verbergungsmotive Clemens dazu dienten, in mimetischer Orientierung an gewisse Schriftstellen die höhere Gnosis unwürdigen Leuten vorzuenthalten (7.14 f. 239 ff.269.311.327). »The desire is to bring people in, not keep them out.« (244)

Nun ist in der Forschung das Phänomen der Esoterik zwar unterschiedlich akzentuiert worden, aber auf diesen Nenner lässt sich die Diskussion nun wirklich nicht bringen, und ihre Abgrenzung gegenüber J. Kovacs läuft genau besehen ins Leere (15.242 f.245). Was die Vfn. jedoch unter den Motiven, weshalb Clemens die miscellanische Form der Stromateis gewählt hat (311.328), gar nicht berücksichtigt, obwohl es ja direkten Bezug zur Verhüllungstendenz hat, ist das Problem des Übergangs von der Oralität zur Schriftlichkeit und die philosophische Einsicht in die Schwäche der Schrift, die in der stromatischen Form eine literarische, vorzüglich auf Interaktivität angelegte Kompensation findet (in anderem Zusammenhang erwähnt 102.104.110). Die an dessen Stelle von ihr benannten theologischen Prinzipien der Verbergung sind gewiss, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität, zutreffend, aber insgesamt scheint die Zusammenstellung dem Rez. eher einen assoziativen und gesuchten Charakter zu haben. Schließlich und vor allem bleibt beim Rezensenten der Eindruck zurück, dass die Vfn. das Konto der Buntschriftstellerei ganz erheblich überzieht. Man hat schon fast den Eindruck, als könne alles, was während der Zweiten Sophistik geschrieben worden ist, darunter subsumiert werden. Tatsächlich gehört aber der Titel »Protreptikos« seit Aristoteles zu einem philosophischen Werk, und die wunderbar klare Gedankenführung hat mit einem miscellanischen Werk wenig gemein. Das sieht natürlich auch die Vfn., dennoch möchte sie annehmen, dass derProtreptikos »participates in miscellanistic form and praxis« (144). DerPaidagogos, dessen Titel sichtlich die Gestalt des die Knaben beaufsichtigenden und zum Lehrer geleitenden Erziehers evoziert, entwickelt im ersten Buch ein wohl gemerkt philosophisches Programm christlicher Ethik; die Lebensführung, die dann den Tagesablauf entlangschreitend vorgestellt wird, entspricht den bürgerlichen Tugenden – eine besondere Nähe des Werkes und seiner Anlage zu Merkmalen der Buntschriftstellerei ist m. E. nicht zu erkennen. – Die Ratschläge zum Benehmen bei Gastmahlen reichen zu gegenteiliger Annahme nicht aus (vgl. 76).

Die Stromateis sind nun ohne Zweifel miscellanisch, aber sie stellen bekanntlich vor eigene Probleme, auch im Blick auf die weitgehend verlorenen Hypotyposen, die mit der sympathischen Annahme eines non-title »Didaskalos« m. E. nicht gelöst werden. Eindeutig liegt insgesamt die Vorstellung eines geistigen Entwicklungsganges, eines religiös-philosophischen Bildungsweges zugrunde, sowohl in der geplanten Abfolge der Werke als auch innerhalb der Stromateis selbst (31.49.51.61.122.133.304 ff.382–393). Es wäre aber zu fragen, ob ein solches »curriculum«, wie es die Vfn. nennt, als ein Stilelement der Buntschriftstellerei gelten kann – in den Augen des Rezensenten handelt es sich eher um ein philosophisches Proprium, im Grunde gegensätzlich zum bunten und variablen Stil der Miscellanwerke – oder ob es nicht vielmehr Clemens´ kühner, literaturgeschichtlich eigener Beitrag ist. Die Vfn. scheint eher der Entscheidung in ersteren Sinn zuzuneigen; sie spricht von »philosophical curriculum« oder von »mystagogical curriculum«, betont aber, dass nicht die Bedeutung der rhetorischen Praxis im Sinne miscellanischer Betätigung außer Acht gelassen werden darf (304–310).

Diese kritischen Anmerkungen wollen das Verdienst der gewichtigen Studie, die die weitere Forschung sicherlich inspirieren wird, nicht herabsetzen. Die zukünftige Diskussion wird zeigen, wieweit ihre Ergebnisse bestätigt, weitergeführt oder modifiziert werden.