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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

938-941

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baasland, Ernst

Titel/Untertitel:

Radical Philosophy of Life. Studies in the Sermon on the Mount.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XXII, 663 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 454. Lw. EUR 189,00. ISBN 9783161598685.

Rezensent:

Matthias Konradt

Nach seiner Studie »Parables and Rhetoric in the Sermon on the Mount. New Approaches to a Classical Text« (WUNT 351, Tübingen 2015, Rezension von H. D. Betz, ThLZ 142 [2017], 756–760) legt Ernst Baasland mit dem vorliegenden Werk eine weitere voluminöse Arbeit zur Bergpredigt vor. Schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis gibt dabei zu erkennen, dass es sich bei dem vorliegenden Band weniger um eine monographische Abhandlung als um eine Sammlung von Einzelstudien handelt und das sich im Titel des Buches spiegelnde Anliegen, die Bergpredigt als »radical philosophy of life« aufzuweisen, streng genommen nur einen Teil der Kapitel abdeckt. B. beginnt mit einem forschungsgeschichtlichen Abriss, den er trotz seiner Länge von 125 Seiten zurückhaltend als »Remarks on the History of Research« überschreibt. Neben den etablierten diachronen und an Interpretationstypen orientierten forschungsgeschichtlichen Darstellungen sucht B. einen dritten Weg, indem er zum einen im historischen Längsschnitt die Schlüsselprobleme fokussiert und zum anderen zwischen »influence and interpretation« (6) im Sinne einer idealtypischen Differenzierung zwischen Wirkungsgeschichte (influence) und Rezeptionsgeschichte (interpretation) unterscheidet. Auch wenn die Darstellung notgedungen nur eklektisch sein kann und die Ansätze im Regelfall nur kurz angerissen werden, ist das Kapitel eine Fundgrube für alle, die sich für die Interpretations- und Wirkungsgeschichte der Bergpredigt interessieren.

Auch die Kapitel 2–4, in denen B. sich der dreigliedrigen his-torischen Frage nach »sources, orality and authenticity« (Kap. 2, 127–246), der Erörterung von Komposition und Gattung (Kap. 3, 247–290) und dem Aspekt der Zielgruppe bzw. der Adressaten (Kap. 4, 291–323) zuwendet, sind stark forschungsgeschichtlich informiert. Im Blick auf die vor Mt 5–7; Lk 6,20–49 liegende Vorstufe der Rede in Q geht B. davon aus, dass diese »was most likely longer than the SP, and was briefer than the SM« (148). Charakteristisch ist für B.s Zugang, dass er in Matthäus und Lukas nicht Autoren der Rede sieht, sondern deren erste Rezipienten und Interpreten (159.170). Damit verbindet sich nicht nur, dass die kompositorische Einbettung der Bergpredigt als integraler Bestandteil der mt Erzählung nicht näher verfolgt wird, sondern B. unterbaut seinen Zugang auch damit, dass die Differenz zwischen der Bergpredigt und dem Rest des Mt betont wird (163–165, s. auch 301).

Fragen kann man, wie belastbar die für die Differenz zum Rest des Mt beigebrachten Indizien sind. Das Fehlen eines Reflexionszitats in der Bergpredigt (erneut betont als »significant difference« in Kap. 6.6, 421) kann kaum verwundern, weil diese stets Kommentardes Erzählers und nirgends Teil einer Rede Jesu sind (auch nicht in 13,35). Der Christustitel kommt nicht nur in Mt 5–7, sondern auch in den Reden in Mt 10; 13; 18 nicht vor. Auch das Fehlen von μετανοεῖν ist schwerlich auffällig, denn es handelt sich hier nicht um eine mt Vorzugsvokabel. Dass in der Bergpredigt ὀφειλήματα (6,12, im Vaterunser!) und παραπτώματα (6,14.15) gebraucht wird, nicht aber ἁμαρτία, wird man ebenfalls kaum für allzu signifikant halten können, da die synoptische Konkordanz auch ἁμαρτία nicht als eine mt Vorzugsvokabel zu erkennen gibt. Und zeichnet 5,20 wirklich ein grundlegend anderes Bild (»totally different« [164], vgl. 423) von den Pharisäern als der Rest des Mt?

Nach dem vokabelstatistisch unterfütterten und mit zahlreichen Tabellen und Übersichten illustrierten synoptischen Quellenvergleich bezieht B. in Abschnitt 2.5 die Bedeutung der mündlichen Überlieferung mit ein und greift in diesem Zusammenhang »the so-called ›Jesus memory approach‹« (189) auf, um dann in den Abschnitten 2.6–8 mit Bezug auf die Frage, ob Bergpredigt und Feldrede nicht bloß authentisches Jesusgut versammeln, sondern sich in ihnen auch eine historisch zutreffende Erinnerung an eine programmatische »inaugural speech« Jesu in Galiläa bewahrt hat, methodologische Aspekte der Jesusforschung zu erörtern. Forschungsgeschichtliches nimmt hier recht breiten Raum ein (Abschnitt 2.7 zu den Phasen der Jesusforschung, in Abschnitt 2.8 zur Kriterienfrage in der Jesusforschung). Im Blick auf die Gattung präferiert B. ein Verständnis der Rede als »protreptic speech« (261). Hinsichtlich der Komposition verbindet sich damit, dass sich B. an rhetorische Zugänge anschließt und die Rede in 5,3–12 als exordium, 5,13–16.17–20 (5,12–16 ist wohl ein Tippfehler) als propositio, 5,21–7,12 als in sich viergliedrige (5,21–48; 6,1–18; 6,19–34; 7,1–12) probatio (argumentatio) und 7,13–27 als peroratio untergliedert (276). Bei der Erörterung der Zielgruppe steht nicht die Frage im Zentrum, wie die Angaben in Mt 4,25–5,2; 7,28 f. genau zu verstehen sind und welche Funktion der Bergpredigt damit innerhalb der matthäischen Darstellung des Wirkens Jesu in Israel 4,17–11,1 zukommt. Das primäre Interesse von B. richtet sich vielmehr auf die dem Mt vorausgehende Rede, und B. schließt von den Volksmengen als Auditorium auf die offene, ja universale Adressierung der Grundrede Jesu.

In den Kapiteln 5–7 treten theologische und ethische Fragen in den Vordergrund. Der Titel des Buches wird erst jetzt eingeholt. Kapitel 5 (325–355) adressiert das klassische Thema der Radikalität der Bergpredigt. Wiederum nehmen forschungsgeschichtliche Einlassungen breiten Raum ein (5.2–4, 329–341), bevor B. exegetische Anmerkungen zum Problemfeld folgen lässt (5.5–7, 341–348). B. ortet radikale Aussagen in allen Quellenschichten, die in der Bergpredigt greifbar werden. Darüber hinaus eigne der Lehre Jesu aber auch anderorts ein radikaler Charakter. Gedeutet werden die radikalen Forderungen als »ethos for pilgrims and sages« (5.8, 349–355). Zum Ende des Kapitels führt B. schließlich aus, was er unter »radical philosophy of life« verstanden wissen möchte: »a consistent attitude based on a foundational philosophy of life, developed in a dialogue with Jewish concepts and patterns of thought. Radicalism is foundational thinking concerning what life is all about« (355, Hervorhebungen im Original). In Kapitel 6 (357–428) geht B. die Aufgabe an, »to reconstruct the philosophy of life behind the text« (357). Mit dem Terminus »philosophy of life« will B. die Verbindung der Bergpredigt zur jüdischen Weisheitsliteratur und zur zeitgenössischen hellenistischen Philosophie zur Geltung bringen und zugleich vermeiden, das Verhältnis von Theologie und Ethik als eine dogmatische Frage aufzufassen (ebd.). B. skizziert, zuweilen stichpunktartig, das jüdische Kolorit der Bergpredigt (»essentially Jewish in content and character« [373]) und setzt sie zugleich zu zentralen Inhalten »christlicher« Theologie – wie der Zentralität der Vatermetapher in der Gottesvorstellung, dem Anspruch Jesu, der Vorstellung vom Reich Gottes – in Beziehung (Kap. 6.3 und 6.4). Im Ergebnis sieht er die Bergpredigt ebenso als »a particular form of Jewish self-presentation« im Sinne einer Erneuerung jüdischer Identität wie auch als »a ›Christian‹ self-presentation, but not in terms of the cognitive-propositional views in the Early Church« (388). Deutlich am ausführlichsten fällt die Erörterung der Bergpredigt als »philosophy of life« (Kap. 6.5) auf der Basis eines »cultural-linguistic approach« aus, worunter B. die Fokussierung auf »the ›grammar‹ of faith, the inner logic, the myths, the typical expressions, world view, etc.« versteht (358).

B. liest die Seligpreisungen vor dem Horizont der in der hellenistischen Philosophie grundlegenden Vorstellung vom guten Leben bzw. von der Eudämonie als dem höchsten Gut, auch wenn der Begriff Eudämonie, wie B. selbst notiert, nirgends im Neuen Tes-tament und also auch nicht in der Bergpredigt fällt. Er sucht – zu Themen wie böse Mächte, Aggression/Zorn, Verhältnis von Innerem und Äußerem, Vergebung und Versöhnung, Gerechtigkeit etc. – die in der Bergpredigt implizit bleibenden anthropologischen Grundlagen (und die mit ihnen verbundenen ethischen Orientierungen) zu heben und im Kontext hellenistischer philosophischer Traditionen zu beleuchten. Da B. keine detaillierteren Vergleiche von Texten und Konzeptionen anstrebt, deutet sich hier eher ein reiches Forschungsfeld an, als dass dieses bereits umfassend vermessen würde. B. konstatiert »a philosophical awareness« (420) in der Bergpredigt, um schließlich aber zu Recht festzuhalten: »At the end the SM is a dialogue primarily with Jewish ethical thinking« (420). Kapitel 7 (429–496) ergänzt die Studie um eine vergleichende Deutung der Bergpredigt und des Jakobusbriefs als Manifestationen weisheitlicher Ethik, wobei zunächst einige Vorfragen wie Gattung, Komposition und Adressaten diskutiert werden, bevor dann die jeweilige ethische Argumentation und die jeweiligen Begründungen der ethischen Anweisungen untersucht werden. Beide Texte – B. spricht in beiden Fällen von speeches – seien »formulated from ›within Judaism‹ in a Hellenistic context. Jewish identity is the starting-point, but it is reformulated through ›Christian‹ convictions in a language that a Graeco-Roman audience was able to follow« (496).

In Kapitel 8 (497–544) und Kapitel 9 (545–573) folgen mit ausführlichen Erörterungen von Mt 6,34 und 5,23 f. noch zwei Tiefenbohrungen zu Einzeltexten, von denen hier exemplarisch die Auseinandersetzung mit 6,34 herausgegriffen sei. Die zweigliedrig begründete Mahnung, nicht um den morgigen Tag besorgt zu sein, wird von B. ausführlich traditionsgeschichtlich eingebettet, überzeugend von einer hedonistischen carpe diem-Mentalität abgegrenzt und als ein philosophisch reflektiertes Logion interpretiert, mit Unsicherheiten, wie sie mit der Zukunft immer verbunden sind, gelassen umzugehen. Abgeschlossen wird das Werk durch »Brief Concluding Remarks« (575–582), mit denen B. knapp auf die vorangehenden Kapitel zurückblickt.

Überblickt man das Ganze, ist anzumerken, dass die Funktion der Bergpredigt als Teil der mt Jesuserzählung, als welcher sie überliefert ist, weitestgehend ausgeblendet bleibt. Das leitende Interesse von B. gilt der Bergpredigt als solcher – die Bergpredigt sei »a sermon on its own« (164) – und ihren postulierten Vorstufen. Zu diesen Bereichen bietet die vorliegende Studie eine große Menge von thematischen Aspekten, interpretatorischen Perspektiven und forschungsgeschichtlichen Gesichtspunkten, die zu weiterer Forschung inspirieren.