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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

936-938

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Krause, Joachim J., u. Kristin Weingart [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Exegetik des Alten Testaments. Bausteine für eine Theorie der Exegese.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 287 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 127. Kart. EUR 84,00. ISBN 9783161565441.

Rezensent:

Uwe Becker

Die acht Aufsätze des Bandes gehen auf eine Tübinger Tagung aus Anlass der Emeritierung Erhard Blums im Juni 2018 zurück. Sie verstehen sich als »Bausteine« (V) zu einer Theorie der Exegese, wie sie von Blum seit seiner Tübinger Antrittsvorlesung von 2001 immer wieder mit substanzreichen programmatischen und methodischen Beiträgen eingefordert wurde (vgl. Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche »Exegetik« [2005], in: Ders., Grundfragen der historischen Exegese. Methodologische, philologische und hermeneutische Beiträge zum Alten Testament, hg. v. W. Oswalt und K. Weingart, FAT 95, Tübingen 2015, 1–29). In ihrem einführenden Essay »Exegetik des Alten Testaments. Ein Problemhorizont« (1–9) weisen die beiden Herausgeber (beide aus dem Schülerkreis Blums, nun in Bochum und München), auf die Gründung der Projektgruppe »Theorie der Exegese« innerhalb der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie hin, die von C. Hardmeier und H. Utzschneider – beide Autoren des Bandes – begründet wurde. Der vorliegende Band dokumentiert insofern einen methodischen Diskussions- und Präzisierungsprozess, an dem E. Blum einen entscheidenden Anteil hatte und immer noch hat.

Auf der Linie des von E. Blum formulierten Desiderats einer »alttestamentlichen Exegetik« stellt der 2020 verstorbene emeritierte Greifswalder Alttestamentler Christof Hardmeier »Elementarbausteine einer bibelwissenschaftlichen Exegetik – mit einer textempirisch-narratologischen Sinnerschließung von Genesis 22,1–19« vor (11–89). Der mit Abstand längste Beitrag des Bandes beginnt mit einem umfänglichen Theorieteil (12–46), in dem der Vf. seinen eigenen »textempirischen und sprachphänomenologischen Methodenansatz« (20) anhand seiner zahlreichen eigenen Studien noch einmal resümierend darlegt und seine Kritik an einem »herkömmlichen Textpositivismus, der alttestamentliche Texte insbesondere in der Text- und Literarkritik nur als verschriftete Sprachobjekte von außen betrachtet« (20), erneuert. Seine Kritik an denen, die seinen Ansatz nicht bzw. falsch verstanden oder ihn gar nicht rezipiert haben, überhaupt an denen, die nicht auf dem Pfad der linguistischen Literaturwissenschaft mit ihrer teils komplexen Begriffsbildung wandeln, erscheint gewiss verständlich, doch in einem auf Dialog angelegten Band nicht ganz angebracht. Die eigene Analyse der »Bindung Isaaks« in Gen 22,1–19, die sich an den Theorieteil anschließt (46–78), beruht auf einem (anderwärts bereits ausführlich begründeten) Neuverständnis der Aufforderung zum Opfer in V. 2b, die gar nicht zwangsläufig auf die Opferung des Sohnes abziele, denn es müsse heißen: »und führe ihn hinauf dort bezüglich eines Brandopfers« (54). Kurzum: In der Bewältigung der Aufgabe von V. 2 ging es »erzählimmanent nicht um Abrahams Gehorsam gegenüber einem absurden Gottes-Auftrag zum Sohnes-Opfer« (71). Das wäre in der Tat ein Neuverständnis der so häufig ausgelegten, strittigen Erzählung. Ob die Polemik gegen die Kritiker eines textempirischen Ansatzes – sie betrachteten die Texte bloß als »statische Sprach-Gebilde« (85) – die exegetische Wirklichkeit trifft, bleibe einmal dahingestellt.

Einem weiteren Text aus den Vätererzählungen der Genesis wendet sich Matthias Köckert (Berlin) zu, indem er explizit an Blums Auslegung(en) anknüpft: »Was träumte Jakob in Genesis 28? Möglichkeiten und Grenzen historischer Exegese« (91–108). Köckert rekonstruiert eine alte Erzählung, in der Jakob nur von einer Himmelstreppe mit Engeln, aber ohne Selbstvorstellung Jahwes und ohne die Verheißungen träumt (Gen 28,11 f.17–19a), und sieht in ihr einen ältere Gründungslegende eines Jahwe-Heiligtums, vielleicht aus dem 8. Jh. Ob mit der Analyse Grundsätze einer von Blum geforderten »Exegetik« gewonnen werden können, beantwortet Köckert mit einem klugen Satz seines Greifswalder Lehrers Traugott Holtz, nach dem die Aufgabe der Exegese darin bestehe, »das Wahrscheinlichere vom weniger Wahrscheinlicheren zu unterscheiden« (107). Endgültige und unumstößliche Wahrheiten sind nicht zu gewinnen.

Einem weiteren Themenfeld der gegenwärtigen Exegese, den innerbiblischen Parallelen und ihrer literargeschichtlichen Auswertung, geht Shimon Gesundheit (Jerusalem) in einem Beitrag nach, der bereits in deutscher Sprache veröffentlicht worden ist (vgl. ZAW 131 [2019], 58–76) und hier in englischer Übersetzung vorliegt: »The Comparison of Innerbiblical Parallels as a Starting Point for Synchronic Exegesis and as an Instrument to Control Dia-chronic Analysis.« (109–126) Ein intensiver Vergleich der drei Landnahmetexte Num 32,1–33; Dtn 3,18–20 und Jos 1,12–15 zeigt auf, wie notwendig die Verbindung synchroner und diachroner Ansätze ist, um literarische Abhängigkeiten von Texten zu evaluieren. Zudem belegt der Vf., dass den biblischen Autoren die »textual inconsistencies« (124) ihrer Vorlagetexte durchaus bewusst waren; man habe es also keineswegs mit modernen Fragestellungen zu tun.

Aus seinem Hauptforschungsgebiet, dem Jeremiabuch, stellt Hermann-Josef Stipp (München) eine Fallstudie vor, die ihn zugleich zu einer kleinen »Abrechnung« mit exegetischen Mode-erscheinungen wie übertriebenen Textschichtungen, »pandeuteronomistischen« Tendenzen, einer Verabsolutierung der kanonischen Endgestalt oder – heute – der Intertextualität veranlasst: »Die Erkennbarkeit intentionaler innerbiblischer Intertextualität am Beispiel von Jeremia 26 und 36.« (127–160). Im Kern handelt es sich bei dem Beitrag um eine Rezension der (bei Eckart Otto gearbeiteten) Dissertation von Harald Knobloch über »Die nachexilische Prophetentheorie des Jeremiabuches« (Wiesbaden 2009), in der Jer 26 und Jer 36 als literarisch einheitliche prophetentheologische Rezeptionen von Ex 32 und 34, selbst bereits »endredaktionelle« Texte, verstanden werden. Man bewegt sich hier in sehr späten literarischen Sphären, und es ist das Interesse Stipps, die Leitfrage nach tatsächlich intendierter Intertextualität sehr differenziert und mit Hilfe eines Kriterienkatalogs zu beantworten (vgl. 155).

Einen auslegungsgeschichtlichen Impuls steuert Walter Groß (Tübingen) bei: »Augustins Umgang mit der Heiligen Schrift als aktuelles Modell der Schriftauslegung? Eine Gegenthese im Blick auf seine quaestiones in heptateuchum« (161–176). Die These des Wiener Alttestamentlers Ludger Schwienhorst-Schönberger, man solle die Auslegung Augustins (wie überhaupt der Patristik) für die gegenwärtige Exegese (wieder) fruchtbar machen, wird mit sehr bedenkenswerten Argumenten als wenig hilfreich abgewiesen.

Mit einer weiteren Renaissance befasst sich Helmut Utzschneider (Neuendettelsau). In seinem Beitrag über »Performativität und Mündlichkeit als Kategorien alttestamentlicher Exegese« (177–198) möchte er die in der 1. Hälfte des 20. Jh.s hoch im Kurs stehende und seither in den Hintergrund getretene Kategorie der »Mündlichkeit« für die Exegese wiederbeleben, und zwar im Sinne der Performanz bzw. der Dramentheorie: Viele Stücke des Alten Testaments – nicht nur aus der prophetischen, sondern auch der erzählenden Literatur – erschließen sich neu, wenn man sie als dramatische Texte neu lesen und verstehen lernt.

Dem bereits mehrfach angesprochenen Mit- bzw. Gegeneinan-der von »diachron« und »synchron« geht David M. Carr (New York) – in Ergänzung zu seinem neuen Kommentar über Gen 1-11 (Stuttgart 2021) – innerhalb der Flutgeschichte Gen 6–8 nach: »On the Meaning and Uses of the Category of ›Diachrony‹ in Exegesis« (199–238). Seine detaillierte quellenkritische Analyse nimmt Anregungen Blums zur Funktion der Diachronie und ihrem Verhältnis zur Synchronie auf.

Am Schluss des Bandes greift der Geehrte selbst noch einmal in die Diskussion ein und bezieht sich mehrfach auf seine eingangs genannte Tübinger Antrittsvorlesung zurück: »Von der Notwendigkeit einer disziplinären Selbstverständigung in der Exegese des Alten Testaments« (239–273). Als »grundlegendes Strukturproblem« benennt Blum damals wie heute »die Diastase zwischen hochgesteckten Erklärungsansprüchen und einer dafür defizienten Datenbasis« (239). Daran hat sich, wie Blum anhand einer Reihe neuerer Studien etwa zur Frage der »empirical evidence« (R. Müller, J. Pakkala u. a.) belegt, nicht viel geändert. Vor allem die Kritik an einer unzureichend begründeten Literarkritik und deren »Triftigkeit« (241) wird hier erneuert.

Der anregende Band sei jedem, der sich mit dem gegenwärtigen Stand der Methodendiskussion in der alttestamentlichen Exegese beschäftigt, zur intensiven Lektüre ans Herz gelegt. Das Sachre-gister am Schluss leistet dabei gute Hilfe.