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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

926-927

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias, and Jens Schröter [Eds.]

Titel/Untertitel:

Authoritative Writings in Early Judaism and Early Christianity. Their Origin, Collection, and Meaning.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VI, 356 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Tes-tament, 441. Geb. EUR 139,00. ISBN 9783161560941.

Rezensent:

Florian Wilk

Die Dokumentation einer Tagung vom Mai 2017 in Barcelona versammelt nach einer knappen Einleitung [1–4] 15 Beiträge zu Sammlungs-, Deutungs-, Neuschreibungs- und Rezeptionsprozessen, die zur Autorisierung von Schriften(sammlungen) im antiken Judentum und frühen Christentum führten. Die Register [315–356] zeigen die Vielfalt der behandelten Perspektiven an.

K. Schmid [5–21] benennt für den Autorisierungsprozess der Thora drei Eckpunkte (Rolle des Tempelkults bis 70 n. Chr., Wechselspiel von Anspruch und Zuschreibung, Prägung durch die politischen Verhältnisse) und vier textinterne Strategien (Erhebung des Mose über die Propheten, Integration von Auslegung, Übertragung kultischer Aspekte, Konzeptionierung der Theokratie).

J. Frey [23–48] wertet die nach Form, Inhalt und Herkunft der Texte vielfältige, insgesamt das literarische Erbe des palästinischen Judentums vor 70 n. Chr. repräsentierende Bibliothek von Qumran aus. Mit Indizien einer relativen Fluidität von Umfang und Wortlaut, Aussagen zum autoritativen Status sowie Hinweisen auf Gebrauch und Deutung diverser Schriften (Pentateuch, Propheten inkl. Daniel, Psalmen, einige Geschichts- und Weisheitsbücher, Jub, evtl. 1Hen) bezeuge sie die Vielstufigkeit des komplexen, zunächst ergebnisoffenen kanonischen Prozesses.

M. Henze [49–65] zeigt, wie 2Bar und 4Esr sich auf wenige biblische Figu-ren und zugehörige Traditionen konzentrieren, dabei als Pseudepigrapha, mit dem Rekurs auf Offenbarung, der Nachahmung biblischer Redeweisen und Textsorten sowie der Präsentation als öffentlich zu lesendes (2Bar) bzw. esoterisches Buch (4Esr) Autorität beanspruchen und so einen eigenen, teils wirkmächtigen Zweig des antiken Judentums repräsentieren.

N. Fernández Marcos [67–77] stellt die Septuaginta mit ihren Spezifika in Umfang und Wortlaut, ihrer reichen handschriftlichen Überlieferung und ihren – teils am Masoretentext orientierten, teils den griechischen Stil verbessernden – Rezensionen als eigene Version der Bibel vor, die dem Neuen Testament wie den Schriften vieler Kirchenväter als Basis und Bezugsgröße diente.

A. Puig i Tàrrech [79–113] legt anhand einiger zum Teil historisch-kritisch evaluierter synoptischer Texte dar, wie Jesus im Kontext seiner Gottesreich-Predigt relativ wenige populäre Kerntexte der Schriften jenseits menschlicher Lehrtraditionen als autoritativen Ausdruck des ursprünglichen Gotteswillens genutzt habe: Alle Gebote seien, im Einklang mit Gottes Schöpfungshandeln, am Gebot der Liebe auch dem Feind gegenüber auszurichten. Ferner hätten einzelne Schriftworte die eschatologischen Taten Jesu am Sabbat, im Tempel und beim Abschiedsmahl inspiriert und die Deutung seiner Wunder, seiner Verwerfung durch Israels Autoritäten, seiner Messianität und seines Sterbens bestimmt.

D. T. Roth [115–128] geht anhand des Streitgesprächs Jesu mit den Sad-duzäern den hermeneutischen Überzeugungen der Synoptiker nach. Rechtes Verstehen der Schriften sei nach Mk und Mt mit der Anerkenntnis der Auferweckungsmacht Gottes verknüpft, nach Lk aber – wie auch Lk 16,29–31; 24, 13–49 anzeigten – speziell mit der Erfahrung der Auferweckung Jesu Christi.

J. Schröter [129–164] relativiert die praktische Bedeutung des neutestamentlichen Kanons im 2./3. Jh. mittels einer Analyse von Manuskripten. Die Überlieferung – vor dem 4. Jh. meist – einzelner, durchaus auch nicht-kanonischer Texte in Kodexform lege die Nutzung durch kleine Gruppen und Individuen nahe. Das Thomas-Evangelium werde bis ins 6. Jh. in diversen Lektürekontexten bezeugt. Amulette mit biblischen und nicht-biblischen Voten sowie Blätter mit Erläuterungen zu Einzelversen des Joh dienten offenbar zur Gefahrenabwehr und Katechese.

M. Meiser [165–187] zeigt zumal an Zitaten, mit welchen Mechanismen die Paulusbriefe ausgewählte biblische Schriften als Autorität teils aufriefen, teils zur Geltung zu bringen suchten: durch die Zuordnung zu bestimmten Termini (Schrift, Gesetz, Gebot) und Themen (Daseinsorientierung, Heilsgeschichte, Selbstverständnis), den Gebrauch diverser Modi und Tempi sowie die Präsentation bestimmter Sprecher (Gott, Schrift, Mose).

B. J. Ribbens undM. H. Kibbe [189–207] explizieren die Autorität der LXX als Gottes Wort im Hebr: Durch den Sohn ergehe das vielfältige, einst Israel geltende prophetische Zeugnis von Gottes Treue und dem Leben des Bundesvolkes mit demselben Inhalt in veränderter Zeit neu an die Briefadressaten, da wirklich und möglich geworden sei, was einst erhofft wurde: ewig-himmlisches Priestertum, neuer Bund und vollkommener Gehorsam.

S. Luther [209–223] erläutert, wie der Autor des pseudepigraphen Jak im Gebrauch autoritativer Traditionen für sich selbst Autorität reklamiere: durch die kreative Transformation von Jesusüberlieferung, die weisheitliche Weiterführung paulinischer Motive und den rhetorisch vielfältigen, intertextuell angereicherten Einsatz biblischer Zitate, Anspielungen und Paraphrasen.

J. M. Lieu [225–238] hinterfragt mit kritischer Quellenlektüre die übliche Einordnung Markions in die Kanongeschichte: Primär habe er den Gegensatz zwischen dem destruktiven, in der Schrift bezeugten Demiurgen und dem wahren, in Jesus neu offenbarten, durch Evangelium und Paulusbriefe bezeugten Gott im Kontext platonisierender Philosophie textuell ausgearbeitet.

J.-D. Dubois [239–255] benennt drei Wege einer gnostischen Herleitung der Schrift vom Schöpfergott: die mit Hilfe jüdischer Pseudepigrapha entwickelte antijüdisch-spiritualisierende Genesis-Lektüre (sethianische Apokalypsen); die christlichen AT-Gebrauch negierende Idee, Christus belehre jenen Gott im Zuge der Heilsgeschichte (Basilidianer); die differenzierende Wertung des Alten Testaments unter allegorischer Deutung mancher Texte (Valentinianer).

T. Nicklas [257–270] zeigt, wie zwei zeitweise erfolgreiche christliche Apokalypsen den seinerzeit meist nur als mentale Größe vorhandenen biblischen Kanon teils korrigierten, teils ergänzten: 5Esr im 2. Jh. als prophetischer Neuentwurf einer Geschichte des Gottesvolkes, die Tiburtinische Sibylle im 4. Jh. als römisch orientierte Neuinszenierung christlicher Eschatologie.

J. Chapa [271–288] erhellt die Hintergründe der Bevorzugung des Kodexformats für die Überlieferung der Schriften des Neuen Testaments und seinen Einfluss auf die Entwicklung des NT-Kanons: Nicht die Aufnahme aller Teile in einem Buch sei bedeutsam gewesen, sondern die Verknüpfung sachlich aufeinander bezogener, bestimmten Autoritäten zugeschriebener Texte zu einem Werk.

T. J. Kraus [289–311] illustriert die Vielfalt archäologischer (Sarkophag, Tafel, Anhänger, Armband, Ring) und inschriftlicher (Grabkammer, Türsturz, Wand) Zeugnisse sowie der Manuskripte zum hebräischen (in Qumran) und griechischen Text (auf Papyri) von Ps 90[91]. In diversen Textfassungen, Umfängen und Kontextualisierungen sei er als Medium des Schutzes zum populärsten Bibeltext des antiken Christentums geworden.

Der weithin sorgfältig gestaltete Band liefert bedenkenswerte Impulse zum Verständnis der langen, verzweigten Entstehungsgeschichte autoritativer Schriftenkorpora jüdischer wie christlicher Provenienz und illustriert die Fülle der hierfür zu beantwortenden Grundsatz- und Detailfragen. Die Zusammenstellung von Überblicksartikeln und Spezialstudien wirkt indes eher zufällig. Die in der Einleitung benannte Leitidee des Zusammenhangs der christlichen mit der jüdischen Kanongeschichte kommt nur partiell zur Geltung. Zudem gibt es kaum Querbezüge zwischen den einzelnen Beiträgen, und eine Sichtung des Gesamtertrags der Sammlung fehlt. Im Einzelnen wird die jeweilige Forschungslage in unterschiedlicher Breite und Intensität berücksichtigt. Gleichwohl führt die Lektüre der Aufsätze zu wichtigen Einsichten, Klärungen und Anregungen hinsichtlich des im Buchtitel angezeigten Themas.