Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

921-923

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cramer, Malte, u. Peter Wick [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Alter und Altern in der Bibel. Exegetische Perspektiven auf Altersdiskurse im Alten und Neuen Testament.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 204 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170388970.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die beliebte Redewendung von einem »biblischen Alter« suggeriert, dass die Schriften Israels und der frühen Christenheit für gerontologische Fragestellungen eine Fundgrube sein müssten. In der exegetischen Fachliteratur findet das Thema jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Erst unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Diskurses wendet sich ihm inzwischen auch die Theologie zu, allen voran die Praktische Theologie. Von exegetischer Seite aber ist hier nach wie vor noch ein Defizit zu verzeichnen. Dem will der vorliegende Sammelband, der auf eine Bochumer Fachtagung von 2020 zurückgeht, abhelfen. Er versucht, verschiedene biblische »Altersbilder« zu identifizieren und auf ihre Wechselbeziehungen hin zu untersuchen. Drei alttestamentlichen stehen sechs neutestamentliche Beiträge zur Seite, was bereits eine Schwerpunktsetzung markiert: Grundsätzliche Wertungen des Alters, wie sie dem gesamten Alten Orient zu eigen sind, fächern sich in der frühen Christenheit weiter auf. Malte Cramer, maßgeblicher Initiator der Tagung, leuchtet dafür in seiner Einführung das Feld aus und präsentiert eine erste Zusammenstellung wichtiger Literatur.

Der alttestamentliche Teil beginnt mit Thomas Pola, »Alter und Altern im Alten Testament«. Er geht den Fragen nach, wer genau als »Ältester« gilt, worin seine Funktion besteht und wie der Prozess des Alterns bewertet wird, wobei auch die üblichen Einteilungen von Lebensphasen diskutiert werden. Das Altertum kennt nur Kindheit und Erwachsenenalter; das »Jugendalter« ist eine Erfindung der Moderne. Zum Kreis der »Ältesten« gehört, wer die sekundären Geschlechtsmerkmale aufweist bzw. (wie der hebr. Begriff andeutet) »Bartträger« ist. Die »Ältesten« repräsentieren somit keine reine Gerontoarchie, sondern »die Männer der aktiven Generation« (23). Greise als solche werden durch nähere Bestimmungen gekennzeichnet. Menschen hohen Alters sind fester Bestandteil des Familienverbandes, weil sie für Erfahrung stehen und dadurch Achtung verdienen. Die Bewertung des Alters ist grundsätzlich positiv; dennoch wissen die Texte auch von der Mühsal zunehmender Beschwerlichkeiten zu berichten. Kathrin Liess, »Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Lebensalter und Lebenserwartung im Alten Tes-tament«, geht der Frage der »biblisch« hohen Lebenserwartung und der realen, sozialen Verhältnisse nach. Die Begrenzung der Lebenszeit wird in Gen 6,3 theologisch begründet. Ein Lebensalter von 120 Jahren gilt als ideale Zahl; mit 60 ist eine Zäsur markiert; die allgemeine Lebenserwartung dürfte darunter liegen. Vor allem im Psalter wird die Vergänglichkeit der Lebenszeit thematisiert; in der Heilszeit dehnt sie sich von neuem, worin noch einmal der Segen langen Lebens aufleuchtet. Entscheidend ist jedoch nicht die Quantität, sondern die Qualität »erfüllter« Lebenszeit. Katharina Pyschny, »Jugend und Alter in der alttestamentlichen Weisheitskonzeption« nimmt nicht das Gegeneinander, sondern die Zuordnung von Jugend und Alter in den Blick. Dabei stehen vor allem die Lebensphase eines Vollbesitzes an Kräften und eine solche schwindender Kräfte im Mittelpunkt. Beide Phasen sind positiv bestimmt (Prov 20,29), beide sind im Zusammenleben wechselseitig auf-einander bezogen. Erzählungen wie 1Kön 12,1–20 zeigen, dass der verhängnisvolle Rat der Jungen nicht ihrer Jungend, sondern ihrer Ignoranz gegenüber den Alten anzulasten ist.

Die neutestamentlichen Beiträge werfen Schlaglichter auf einzelne Erzählfiguren der Evangelien sowie die Figur des Paulus. Peter Wick, »Alte und Älteste in der neutestamentlichen Literatur. Eine Übersicht« stellt ein Pendant zu dem Beitrag von Pola dar; er referiert vor allem die Terminologie im Blick auf ihre Verwendungsweisen und arbeitet dabei die Unterschiede zwischen Funktions-, Ehren- und Altersbezeichnung heraus. Stefan Zorn, »Wohltäterin, Systemopfer, Hilfsempfängerin oder Glaubensvorbild? Eine Auslegungsdiskussion zur armen Witwe in Mk 12,41–44«, widmet sich einer Figur, die in der Auslegung höchst unterschiedlich bewertet wurde; er selbst entscheidet sich dafür, die Witwe als »Kontrastfigur« (zu den Schriftgelehrten, Geldwechslern, dem reichen Mann) zu verstehen. Aber ist sie überhaupt »alt«? Die Perspektive einer spezifischen »Altersarmut« würde der Erzählung auf jeden Fall eine ganz besondere Brisanz verleihen. Malte Cramer, »Die Alten in der lukanischen Vorgeschichte. Narratologische und intertextuelle Perspektiven auf die minor characters in Lk 1,5–2,40«, geht dem Milieu jener frommen Israeliten nach, die Lk im Umfeld des Kindes Jesus präsentiert. Ihr auffällig hohes Alter fungiert einerseits als Mittel, um sie in die Geschichte des Gottesvolkes einzuordnen; andererseits fungieren sie dadurch als »verlässliche Legitimatoren des (Neu)Anfangs«, als »prophetische Verkündiger des Neuen«, als »Garanten der Kontinuität« und als »Vorbilder bleibender Hoffnung«. Daniel Klinkmann, »Warum ist Jesus in Lk 2,41–52 zwölf Jahre alt?«, thematisiert das Schwellen- alter des zwölfjährigen Jesus als Signal seiner besonderen Reife, die ihn bedeutenden Figuren sowohl der alttestamentlichen als auch der paganen Geschichte zuordnet. Ein Exkurs zur Bedeutung des Alters von 30 Jahren für den Beginn einer öffentlichen Laufbahn (Lk 3,23) schließt den Beitrag ab. Esther Kobel, »Paulus πρεσβύτη. Der alternde Paulus im Kontext antiker Altersdiskurse«, stellt das Selbstbild des Apostels aus Phlm 9 in den Horizont dreier antiker Alterskonzepte (nach Rosenmayr): Altern als Verlustprozess, als Lernprozess oder als Wechselbeziehung zwischen Verfall und Wiedergeburt. Paulus, der aufgrund seiner Parusienaherwartung nur andeutungsweise über das Altern nachdenkt, lässt in verschiedenen Äußerungen immerhin Konzept eins und zwei erkennen. Seine gelegentliche Todessehnsucht verrät zudem eine bewusste Reflexion des eigenen Alters. In den Past wird dieses Bild noch einmal intensiviert sowie mit Blick auf die Weisheit und Autorität des Alters weiter qualifiziert. Emmanuel L. Rehfeld, »Der Leib zwischen Verfall und Verwandlung. Gerontotheologisch-eschatologische Erwägungen im Anschluss an 2. Korinther 4,7–5,10«, unternimmt den Versuch, aus dem Nachdenken des Paulus über die Verwandlung der Leiblichkeit im Tod gerontologische Impulse zu gewinnen und damit Paulus »weiterzudenken«: »in Christus« (Gal 3,28) gibt es weder Alt noch Jung; die Identität der Christusgläubigen ist außerhalb ihrer selbst und damit ihrer körperlichen Verfassung begründet; Leiblichkeit ist in allen Lebensphasen Teil der Christuszugehörigkeit; sie ist damit auch Gegenstand der seelsorgerlichen Wahrnehmung; der Prozess des Altern erfolgt im Lichte einer Hoffnungsperspektive auf das Kommen Christi; die gegenwärtige Existenz ist in ihrer ganzen »psychophysischen Dramatik« ernst zu nehmen; die Spannung zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit in der eschatologischen Konzeption des Paulus motiviert zum Handeln. So lässt sich schließlich gerade von Paulus ein »christuszentrierter Hoffnungsrealismus« (192) lernen.

Ein Resümee von Malte Cramer, »›Und bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet‹ (Jes 46,4). Exegetische Impulse für eine interdisziplinäre Theologie des Alters«, legt eine abschließende Systematisierung vor. Gerontologische Fragen werden durch die Exegese biblischer Texte in anthropologischer, sozialethischer, ekklesiologisch-kirchentheoretischer und schließlich eschatologischer Perspektive vertieft. Allen vier Bereichen werden jeweils drei Impulse entnommen, die sich aus den Beiträgen des Sammelbandes speisen und somit die vielen einzelnen, in Tiefenbohrungen angestellten Beobachtungen miteinander verbinden.

Der Band hält, was sein Untertitel verspricht. Altersdiskurse prägen die Welt der biblischen Schriften auf vielfältige Weise. Ihr Niederschlag in verschiedenen Textzusammenhängen erschließt Perspektiven, die auch die aktuellen gerontologischen Diskurse zu bereichern vermögen. Dazu leistet der Band einen wichtigen Beitrag.