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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

877–879

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Zulehner, Paul M.

Titel/Untertitel:

Kirche hört auf die Menschen. Eine Pastoraltheologie von unten.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2020. 544 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783786732433.

Rezensent:

Christian Hennecke

Paul Zulehner ist seit Jahrzehnten einer der bekanntesten Pastoraltheologen
im deutschen Sprachraum. Wie kein anderer hat er
Entwicklungen beschrieben, Optionen ausgelotet und kritischsolidarisch
die pastoralen Wege kirchlicher Entwicklung begleitet
und ihnen zukunftsträchtige Impulse geliefert. Dabei war Z. auch
immer auf einer empirischen Fährte pastoraler Soziologie. Er ist
auch ein renommierter Religions- und Kirchensoziologe, der sein
Handwerk bei Thomas Luckmann lernte. Viele Studien zur Entwicklung
der katholischen Kirche verdanken sich seiner Initiative.
Auf diesem Hintergrund lässt sich auch sein neuestes Werk lesen,
eine umfangreiche Zusammenschau mehrerer Fallstudien aus den
letzten zwanzig Jahren. Z., geboren 1939 und seit 2008 emeritiert,
legt in seinem neuen Buch in beeindruckender Breite den Entwurf
einer »Pastoraltheologie von unten« vor. Seinem Entwurf liegen soziologische
Fallstudien zugrunde, die sich unterschiedlichen Problemfeldern
und Herausforderungen der katholischen Gegenwart
stellen. Die Ergebnisse dieser Fallstudien bestätigen den Kairos
und die Radikalität des Umbruchs, in dem die katholische Kirche
steht.
Dabei greift Z. auf, was weltkirchlich durch Papst Franziskus
vorangebracht werden soll und was parallel im deutschen Sprachraum
mit dem Projekt eines Synodalen Weges versucht wird. Synodalisierung
heißt das zentrale Stichwort, mit dem Z. das zentrale
Reformanliegen des derzeitigen Papstes beschreibt: »Synodalisierung
hat mit dem Wirken des Geistes Gottes zu tun. Dieser ist jedem
Kirchenmitglied gegeben, und nicht nur den Amtsträgern […]
Eine klerikale Kirche ist eine verarmte Kirche. Sie blendet das Wirken
Gottes in allen Mitgliedern fahrlässig aus und entzieht sich
damit dem, was sie über die Menschen für ihre Arbeit in Leitung
und Seelsorge wissen muss und erfährt.« (11) Die Stoßrichtung des
Papstes, und die Stoßrichtung Z.s in seinen Überlegungen, wird
deutlich: Es geht um eine »Entklerikalisierung der Kirche« (11), so
beginnt Z.s Werk programmatisch.
Damit ist die Methode der folgenden mehr als 540 Seiten beschrieben:
Es geht um ein systematisches »Hineinhorchen« in die
Menschen, »die das Evangelium inmitten ihrer Freude und Hoffnung,
ihrer Trauer und Angst zu leben versuchen« (12). Ein erstes
Hineinhorchen, das versteht sich von selbst. Denn aus diesem
Hineinhorchen erwächst ein Auftrag, der – wie schon im Zitat
angedeutet – auf die weiterhin richtungsweisende Pastoralkonstitution
des II. Vatikanums verweist: Das Konzil selbst hatte diese
Pastoraltheologie von unten im Blick: »Zur Erfüllung dieses ihres
Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen
der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.«
(Gaudium et spes – GS 4). Es geht um ein Ernstnehmen des Geistes
Gottes, der in dieser Welt wirkt: »Im Glauben daran, daß es vom
Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich
das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen,
die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu
unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der
Absicht Gottes sind.« (GS 11) Das Konzil selbst ist sich bewusst, dass
das auch bedeutet, eine lernende Kirche zu sein: »Es ist jedoch Aufgabe
des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und
Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen
Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden,
zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die
geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfaßt, besser verstanden und
passender verkündet werden kann.« (GS 44)
Damit wird deutlich, worum es Z. geht. Er möchte anhand der
Studien den grundlegenden Wandel verdeutlichen, in dem die Kirche
im europäischen Kontext steht: »Das Evangelium und die von
ihm inspirierte ›Jesusbewegung‹ werden, so eine begründete futurologische
Annahme, nicht verschwinden, aber die Kirche als institutionelles
Gefäß der Bewegung wird eine neue Sozialgestalt annehmen.
Vermutlich nähert sich die Kirche in Europa nach der Ausnahmezeit
der Konstantinische Äre, in der Christlichkeit so etwas wie ein
unentrinnbares Schicksal war, wiederum dem biblischen Normalfall.
Die Kirchen werden dann aus Suchenden und Angekommenen
bestehen, Pilgern und Konvertiten (Danile Hervieu-Leger).« (14)
Im Mittelpunkt des Buches steht – als Gravitationszentrum–
eine Studie zu den Herausforderungen im Pontifikat von Papst
Franziskus (19–228). Die Amtszeit des Papstes fällt in die Zeit nicht
nur der Missbrauchskrise und ihrer anfänglichen Aufarbeitung –
es geht um eine radikale Dezentralisierung, es geht um Entklerikalisierung
zugunsten von Synodalität. Dieser tiefgreifende Wandel,
den der Papst aufgreift, wird in der breit angelegten Studie
deutlich, in all seiner Ambivalenz und Polarisierung. Z. selbst hat
– zusammen mit dem tschechischen Theologen Tomas Halik –
eine breitangelegte Initiative Pro pope Franziskus auf den Weg gebracht,
die den Papst auf seinem Kurs unterstützen will. Die Breite
der Zeugnisse in der ersten Studie belegt zum einen die Sehnsucht
der Menschen nach einer anderen Gestalt der Kirche jenseits ihrer
klerikalen Verkrustung, andererseits aber auch die Gespaltenheit
und den Widerstand, den diese Transformation mit sich
bringt: »Fans, Sympathisanten und Gegner« (25) sind die drei Typen,
die sich mit einer Vielzahl von Thematiken des Fragebogens
beschäftigen und auseinandersetzen (222–228). Die umfassende
Dokumentation gerät ein wenig überbordend, aber die Richtung
der Zukunftsentwicklung wird deutlich: Es geht um eine entklerikalisierte
und spirituell neu ansetzende Kirchenformation, die
in allen Bereichen wieder zurückkehren muss zum Ursprung des
Evangeliums. Denn das wird allenthalben deutlich: Die Sehnsucht
nach der Quelle, die durch die klerikale und institutionell überbordende
Kirchengestalt eher verdeckt als zugänglich gemacht
wird, ist der von vielen gefühlte Skandal und die größte Herausforderung.
Das gilt auch dann, wenn konservative Gegner in der Studie zu Wort kommen: Auch hier geht es um den Ursprung und
die ursprüngliche Lebendigkeit des Evangeliums.
Die Jugendstudie um Beziehung, Liebe und Sexualität (279–316)
und die im Kontext der Familiensynoden entstandene Studie »Ehe
und Familie« (323–389) bestätigen diese Perspektive. Bei der oft tastenden
Suche nach Liebe und den Formen des Zusammenlebens
wird deutlich, dass der Geist Gottes in den Menschen wirkt, dass
aber klassische moraltheologische Normen und Werte oft den Zugang
zum evangeliumsgemäßen Ursprung eher verhindern als
ermöglichen.
Z. setzt sich aber auch mit den konkreten Veränderungen
pastoraler Strukturen intensiv auseinander (Heimat Kirche,
239–278), vor allem – und sehr polemisch-kritisch – mit den Pastoralprozessen
im Kontext der Strukturreformen der Erzdiözese
Wien (389–502). Hier wird konkret deutlich, dass der Strukturwandel
in »seinem« Bistum eben nicht geprägt zu sein scheint
von jenem Neuaufbruch, der im Pontifikat von Papst Franziskus
widerscheint – sondern eher von einem strukturellen Down-
sizing, das für Christen eher eine defizit- und mangelorientierte
Fortführung klerikaler Strukturen jenseits des Zutrauens zu
einer »grasroot«-Ekklesiologie und Kirchenentwicklung bedeutet.
Wie auch die letzte hier dokumentierte Studie »Raumgerechte
Pastoral« aus dem Jahr 2003 (503–526) votieren die Überlegungen
Z.s hier für eine Kirchengestalt, die zum einen dezentral und damit
lokal organisiert ist und zugleich neue Wege zum ordinierten
Amt beschreibt (ehrenamtliche Teams von »personae probatae«)
sowie zum anderen Zutrauen zum »sensus fidelium« der Gläubigen
hat. Darum geht es ihm – und das ist die Quintessenz des
umfangreichen Buches.