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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

861–864

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schlegel, Thomas, u. Juliane Kleemann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Erprobungsräume. Andere Gemeindeformen in der Landeskirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021 (2. Aufl. 2022). 488 S. = midi- Kontur, 2. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374068869.

Rezensent:

Christian Hennecke

Kirche ist in einem tiefgreifenden Umbruch, in einem Paradigmenwechsel.
Auch hierzulande endet eine volkskirchliche Versorgungskonfiguration.
Die in diesem Buch beschriebene Erfahrung
der »Erprobungsräume« speist sich dabei aus Erfahrungen und
Inspirationen anderer Protagonistinnen und Protagonisten: Die
Erfahrungen der anglikanischen Kirche in England gehören genauso
dazu wie die niederländischen Pioniersplekken, die Erfahrungen
und Reflexionen der AMD/midi ebenso wie die intensiver
Forschungsarbeit des IEEG an der Universität Greifswald. Das
Netzwerk der »fresh expressions« in Deutschland speist ebenso
Impulse ein wie andere ökumenische Bemühungen. Die Literatur
zum Thema ist inzwischen Legion.
Der vorliegende Band dokumentiert intensiv einen Kirchenerneuerungsprozess
in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
– in all seinen Dimensionen. Der beeindruckende Prozess
wird zunächst aus der Sicht der Kirchenleitung beschrieben (21–
116). Eine intensive Zwischenevaluation schließt sich an (117–198).
Besonders spannend sind die theologischen Reflexionen, die aus
unterschiedlichen Perspektiven und in ökumenischer Verbundenheit
ein starkes Stück erfahrungsorientierter induktiver Ekklesiologie
beschreiben (201–290). Immer wieder werden einzelnen
Erprobungserfahrungen dokumentiert und kommentiert. Besonders
spannend geraten dabei die ökumenischen Perspektiven, die
die internationale Konsonanz dieses Prozesses und seine Fruchtbarkeit
bezeugen (401–467).
Wie kann, so die grundlegende Ausgangsfrage, ein Übergang
gelingen von einer gefassten und gewohnten pfarrgemeindlichen
Organisationsstruktur hin zu einer vielfältigen Kirchenlandschaft?
Was braucht es dazu an »rahmender Ermöglichung« seitens
der Organisation und Institution?
Wohlgemerkt. Es soll nicht um den Selbsterhalt einer kirchlichen
Struktur gehen. Der richtige Ausgangspunkt liegt in der
Frage nach der Wirksamkeit des Evangeliums, das Kirche als Beziehungsgefüge
schafft, in dem Menschen gemeinsam das Evangelium
entdecken, sich von ihm anstecken lassen für ihre Sendung
und Berufung und so gemeinsam und als Einzelne wachsen.
»Dass Kirche in die Zukunft geht, ist nicht Teil eines organisationalen
Aufbrechens allein, sondern hängt vielmehr daran, dass
Menschen ihren Ideen vertrauen, zäh sind, dran bleiben und auf
eine Ermöglichungskultur treffen. Erproben bedeutet, neugierig
zu sein und darauf zu setzen und zu vertrauen, dass Menschen sich
aufmachen« (8), so formulieren die Herausgeber. Dem Projekt der
Erprobungsräume geht es darum, »dass die Zukunft einer Kirche
in den Menschen steckt, die sich in ihr, für sie und mit ihr auf den
Weg machen« (8). Dabei ist das Erproben von neuen Formen und
Initiativen davon abhängig, dass Menschen und Gemeinschaften
sich auf den Weg machen: Es geht nicht zuerst um Initiativen
von Hauptberuflichen, sondern um lokale Werdeprozesse, die
von Christen getragen werden und »andere« Gestaltwerdungen
kirchlichen Lebens hervorbringen. Es geht nicht um Optimierung
bestehender Kirchenwirklichkeiten. Umgekehrt hat aber die
Evangelische Kirche in Mitteldeutschland hohe Geldbeträge zur
Verfügung gestellt, um diese Prozesse zu ermutigen.
Deswegen, auch weil es um Geld geht, ist es auch spannend,
intensiver auf die sieben Kriterien der Anträge für diese Erprobungen
zu schauen (30–36). Zunächst geht es darum, dass in der
Zielintention das Werden einer Gemeinde Christi im Blick ist
(1. Kriterium). Schon hier fällt auf, dass diese Herausforderung
vielleicht eine der größten Herausforderungen des gesamten Projektes
ist. Die deutschsprachige Kirche ist in der Tat nicht arm an
konstituierten Pfarrgemeinden und an Einrichtungen, Institutionen
und Initiativen. Aber oft bleibt die Dimension der gelebten
Gemeinschaft in Christus formal vorausgesetzt, aber eben nicht
bewusster Erfahrungsgrund: jenes Gefüge einer wechselseitigen
Gemeinschaft, in der Christus erlebbar und erfahrbar wird – dies
als Ziel zu formulieren, öffnet den Horizont in zwei Richtungen:
Auf der einen Seite geht es dann nämlich wesentlich um Prozesse
und Wege der Glaubensentwicklung – nicht als starre Vorgabe,
sondern als Motor innerer Entwicklung, die entsprechend gestützt
werden. Ist es – und das ist die andere Seite – letztlich ein Weg,
bei dem Menschen in ihrem Miteinander gestärkt werden, damit
sie neue Wege des Kircheseins gehen können, dann überschreiten
sie leicht Grenzen, die vorher normiert schienen. Bewusst wählen
deswegen die Erprobungsräume den Ansatz, dass mindestens eine
dieser normierten Grenzen zu überschreiten ist (2. Kriterium): die
pfarrgemeindliche und eher vereinsartige Struktur, die hauptamtliche
Fixierung und Verantwortung und schließlich die Frage
nach dem kirchlichen Gebäude. Denn das soll das Ziel sein (3. Kriterium):
Es geht um die Wirkkraft des Evangeliums nicht nur bei
denen, die schon immer dabei waren, sondern bei den vielen, die
bislang von der Wirkkraft des Evangeliums noch nie berührt wurden.
Sie sollen zur Nachfolge eingeladen werden.
Hier gilt es kurz innezuhalten: Denn es wird sichtbar, dass es
zunächst um Nachfolge geht, also um Herzensbildungsprozesse,
die dem Weg des Einzelnen und der Gemeinschaft dienen, die Begabungen
und Berufungen ins Licht rücken. Von daher wird hier
auch deutlich, dass das Beziehungsgefüge von Gemeinschaft, Sendung
und Begabung – also einer Charismenorientierung, die aus
einem Gemeinschaftskontext erwächst, der auf Wachstumsprozesse
der Personen ausgerichtet ist. Daraus ergibt sich natürlich,
dass solche neuen Formen sich an dem gesellschaftlichen Kontext
orientieren, in dem sie wachsen (4. Kriterium). Dabei verändert
sich auch die Konstellation zwischen Hauptberuflichkeit und Ehrenamtlichkeit:
Zu den Kriterien der Förderung gehört nämlich
wesentlich, dass freiwillig Mitarbeitende in der Verantwortung
stehen (5. Kriterium). Wenn hier nicht einfach ein verdoppeltes
Gefüge volkskirchlicher Selbstverständlichkeit entstehen soll,
dann gehört es wesentlich zu diesen Entwicklungsprojekten, dass
die gelebte Spiritualität im Zentrum steht (7. Kriterium). Das ist
deswegen spannend, weil schon vorweg die Rede von der Nachfolge
und die Verkündigung des Evangeliums (3. Kriterium) und die
Bildung einer Gemeinde Jesu Christi (zentrales Zielkriterium) in
den Mittelpunkt rückten, dass es um ganzheitliche Wachstumsprozesse
gehen muss.
Natürlich steckt darin eine Reihe von Herausforderungen: Die
finanzielle Förderung, die die Landeskirche gewährt, ist zeitbegrenzt,
und deswegen gehört die Frage zu diesen Projekten, wie
alternative Finanzquellen gefunden werden (6. Kriterium). »Es ist
unmöglich, Innovationen zu planen« (Steffen Paas), aber es gibt die
Möglichkeit, einen steuernden Rahmen zu erstellen, damit etwas
wachsen kann, was schon anfanghaft und energetisch vorliegt.
Aber eines geht dann nicht: Energie hervorbringen – die muss
in Menschen schon da sein und zeigt sich häufig dort, wo nichts
mehr zu verlieren ist.
Die Erfahrungen der ersten fünf Jahre in den Erprobungsräumen,
bei denen sich wirklich viele Initiativen auf den Weg gemacht
haben, machen einiges deutlich. Offensichtlich wurde unterschätzt,
wie schnell solche Prozesse auf den Weg kommen. Mit anderen
Worten: Es dauert länger als fünf Jahre, vielleicht sogar länger
als acht Jahre, eine solche Kultur nachhaltig zu entwickeln. Es
zeigt sich aber auch, dass solche Erprobungen einen hohen Bedarf
an Begleitung und Beratung und an kollegialem Austausch haben.
Diese Beobachtung macht deutlich, dass hier tatsächliche tiefgreifende
Umbruchsprozesse auf den Weg gekommen sind, die die
Kultur des Christwerdens betreffen: Neue Projekte brauchen dann
mehr Zeit und mehr Beratung, wenn es wirklich darum geht, dass
Menschen in einer Gemeinschaft das Evangelium neu hören und
ihre Sendung, Berufung und also ihre Gaben entdecken. In diesem
Kontext ist – und auch das ist ein wichtiges Learning – die finanzielle
Unterstützung dann hochriskant, wenn neue Hauptberuflichkeit
konstituiert wird: Sie führt in der Regel in alte Paradigmen
zurück, so die Erfahrung in der Kirche von Mitteldeutschland, und
lähmt Wachstumsprozesse Engagierter. Vor allem aber wird ihre
Begabung zur Verantwortung nicht geweckt. Umgekehrt haben
Thomas Schlegel und die Kirchenleitung der EKM auch beobachten
können, dass Menschen, die im Rahmen der Erprobungsprojekte
neu mit dem Evangelium in Berührung kamen und sich auf
den Weg der Nachfolge machen, eine hohe Scheu vor der Organisationsgestalt
der Kirche haben und sich deswegen auch mit den
deutschen Mitgliedschaftslogiken nicht abfinden mögen.
Spannende Einsichten, eine nie langweilige Lektüre – das Buch
ist ein »Muss« für alle Kirchenentwicklungsbemühungen, und die
schnelle und nachhaltige Resonanz in vielen Landeskirchen zeigt,
dass dieser Ansatz an der Zeit ist.