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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

875–877

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wasmuth, Jennifer [Hg.]

Titel/Untertitel:

Fundamentalismus als ökumenische Herausforderung.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. XXII, 289 S. Geb. EUR 79,00. ISBN 9783506704580.

Rezensent:

Martin Hailer

Patriarch Kyrill von Moskau bejahte den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit dem Hinweis, dass die russische Welt vor dem alle Werte gefährdendem Relativismus des Westens zu schützen sei. Ist das – Fundamentalismus? Der Band, der auf eine Tagung am Institut für Ökumenische Forschung in Strasbourg zurückgeht und dessen Herausgeberin zwischenzeitlich dem Ruf von dort an die Universität Göttingen folgte, ist zwar vor dem Krieg entstanden, liest sich aber erschreckend aktuell. Denn ökumenische Verständigung besteht (auch) in der Kunst, die eigene Position nicht dranzugeben, aber durch die des anderskonfessionellen Gesprächspartners infragestellen und bereichern zu lassen. Was geschieht, wo diese Haltung auf Dispositionen trifft, die dies nicht einmal im Ansatz können?

Den Anfang macht nach kurzer Einleitung der Herausgeberin R. Scott Appleby, der vom von ihm mit ausgearbeiteten, groß angelegten The Fundamentalism Project berichtet (M. E. Martin/R. S. Appleby [Hgg.], The Fundamentalism Project, 5 Bde., 1991–1995; dt.: Dies., Herausforderung Fundamentalismus, 1996). Er warnt davor, Fundamentalismus zum finsteren vormodernen Gegner zu erklären. Fundamentalismus ist vielmehr ein dezidiert modernes Projekt, das auf eine – vermeinte oder tatsächliche – Marginalisierung der Religion reagiert, und zwar modern und rational. Ein Set von Wahrheiten wird als irrtumslos angenommen, mit dualistischem Zug verteidigt und eschatologisch aufgeladen: Wer hier dabei ist, nimmt an nichts weniger als einem »battle for the soul and for the future of humanity« (9) teil. Organisationen des Fundamentalismus sind hierarchisch, charismatisch und autoritär strukturiert. Sie sind mitnichten auf den Protestantismus beschränkt. Letzteres nachzuweisen treten nicht wenige der anderen Beiträge des Bandes – in deutscher, englischer und französischer Sprache – an.

Zunächst berichtet Mark Granquist von der Entwicklung des US-amerikanischen Fundamentalismus, dessen Wurzeln er in der Zeit des Second Great Awakening (Ende 18. Jh. bis ca. 1835) ansetzt, über die Formulierung der »Fundamentals« in den 1910er Jahren und bis zu Großorganisationen wie der Moral Majority und einflussreichen Fernsehpredigern verfolgt. Für die ökumenische Verständigung rät er vor allem dazu, das millenaristische Selbstverständnis im Fundamentalismus zu studieren und ernstzu-nehmen.

Ndanganeni P. Phaswana kombiniert einleitende Überlegun-gen zum Phänomen des Fundamentalismus überhaupt mit verstreuten Beobachtungen zur Situation in afrikanischen Ländern. Die Konklusion, dass nicht alle Fundamentalisten kirchlich wie politisch konservativ sein müssten, ist freilich eher allgemein. Im Beitrag von Sivin Kit geht es um die politisch-religiöse Gemengelage in einigen asiatischen Regionen, wobei er gesellschaftliche Verhältnisse untersucht, die durch zahlenmäßig dominierende Religionsgemeinschaften bestimmt werden, so etwa die evangelikal befeuerte Islamophobie in Südkorea. Gisa Bauer nimmt Strömungen im evangelischen Fundamentalismus Europas in den Blick. Sie bestimmt ihn als politisierte Religion mit apokalyptischer Tendenz. Die klassisch gewordenen Protestbewegungen wie »Kein anderes Evangelium« und alternative Ausbildungsstätten zeigen einen Fundamentalismus, der sich als »›Dauerprotest‹« einrichtet (87). Nicht frei von Fundamentalismus ist auch der Katholizismus, was der Beitrag von Sonja Strube eindrücklich vor Augen führt. Hier geht es nicht nur um die Piusbruderschaft und um Strömungen in den neuen Medien – so etwa bis 2012 www.kreuz.net, heute deutlich weniger extrem, aber mit einiger Reichweite www.kath.net –, sondern um deren Wurzeln in der »pianischen Epoche« 1850–1950, in der die Pius-Päpste sich auf einen robusten Antimodernismus festlegten, der gegenwärtigen Fundamentalisten als Vorbild dient. Beunruhigend sind für sie neben der religiösen Übervereinfachung und dem gefeierten Autoritarismus die Nähen zum politischen Rechtsextremismus. Für den Protes-tantismus rät David Bouillon zu einem gelassenen Umgang, da es schließlich auch befreiende spirituelle Praktiken zu entdecken gebe. Dem können sich die restlichen Autoren des Bandes nicht anschließen: Vasilios N. Makrides untersucht für den Bereich der byzantinischen Orthodoxie die dort für das Phänomen Fundamentalismus stehenden Termini Rigorismus, Orthodoxismus und Hyper-Orthodoxie, die je auf ihre Weise Alleinvertretungsansprüche formulieren und so bereits orthodoxieintern der ökumenischen Hermeneutik das Wasser abgraben. Für den Bereich des Islam finden sich im Band die Beiträge von Ghassan el Masri und Alexi Chehadeh (†). Der erste legt eine umfangreiche Studie zu fundamentalistischen Strömungen im sunnitischen Islam vor, nach der die apokalyptischen Züge etwa in der Selbstdeutung des sogenannten Islamischen Staates sich nicht auf herkömmliche sunnitische Theologie berufen können und als Angleichungen an den christlichen Zionismus und schiitischen Mahdismus zu verstehen seien. Dies zu beurteilen muss Islamwissenschaftlern überlassen bleiben. Letzterer analysiert Äußerungen des sudanesischen Staatsgründers (wohl eher: Hauptautors der Verfassung von 1983) H.asan ‘Abdallah at-Turābī: Dieser betont die Vorordnung der muslimischen Gesellschaft vor dem Staat und entwickelt ein Dialogverständnis, das sich zwar dialogisch gebe, aber auf die Weitergabe islamischer Lehre hinauslaufe.

Abstracts aller Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache, sowie Bibel-, Qur’ān- und Sachregister sind dem Band beigegeben.

Dass die Erinnerung an die Fundamentalismus-Studie von Appleby und Marty den Band eröffnet, ist gewiss richtig. Die Aufsätze zu islamkundlichen Fragen erweitern den Horizont hin zur »großen Ökumene«, lassen dann aber fragen, wie es um entsprechende Dialogbemühungen mit jüdischen Strömungen stehen mag. Nicht alle Beiträge, wohl aber die von Granquist, Strube, Makrides und Chehadeh bündeln ihre Einzelergebnisse auf die titelgebende Frage des ökumenischen Dialogs hin. Das freilich wird immer nötiger werden. Denn hat man den Band studiert, wird die Eingangsfrage, ob Patriarch Kyrill fundamentalistisch denke, wohl nur bejaht werden können.