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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

860–861

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Scheidegger, Martin [Hg.]

Titel/Untertitel:

Die Predigtlehre von Robert C. Dykstra. Entdeckung einer Predigt – persönlich seelsorglich predigen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 216 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783374069187.

Rezensent:

Bernhard Lauxmann

Robert C. Dykstra ist Pastoraltheologe am Princeton Theological Seminary und forscht primär pastoralpsychologisch. Dass er mit Discovering a Sermon (2001) einen homiletischen Entwurf vorgelegt hat, blieb hierzulande weithin unbemerkt. Wer von R. C. Dykstra also noch nicht gehört hat, mag zwar etwas verpasst haben – war jedoch bis zuletzt mit A. Deeg (vgl. 143) in bester Gesellschaft. Mein Tipp: Legen Sie sich M. Scheideggers Version von Discovering a Sermon zu, auch wenn Sie 20 Jahre lang gut darauf verzichten konnten. Es ist ein zeitloser und psychoanalytisch informierter Augenöffner für homiletisch Interessierte. Verwerfen Sie den Gedanken, das englischsprachige Original zu erwerben! Das mag häufig Sinn machen, hier aber nicht: Die Scheidegger-Version ist mehr als eine Übersetzung.

Martin Scheidegger, Assistent von R. Kunz, reformierter Pfarrer und Projektverantwortlicher für die Jazzkirche Zürich, hat Discovering a Sermon nicht nur übersetzt, sondern seine kundige und sehr gut lesbare Übersetzung auch um die kenntnisreiche Kommentierung durch deutschsprachige Experten ergänzt. Konkret kommen A. Deeg (143–159), H.-M. Gutmann (161–172), M. Meyer-Blanck (173–184) und R. Kunz (185–195) zu Wort. Sie widmen sich je einem Kapitel des Entwurfs. Ihre Positionierungen fallen eher kritisch aus. Dies hat den Herausgeber zu einer Replik (197–216) veranlasst, die als Versuch der Ehrenrettung R. C. Dykstras missverstanden werden könnte. M. Scheidegger nimmt darin vor allem auf H.-M. Gutmanns Analyse Bezug und berührt die anderen bloß kursorisch. Die Replik ist von der Hoffnung geleitet, dass sich der schärfste Kritiker womöglich doch noch »zu einem homiletischen Zusammenspiel verlocken lässt, welches nicht nur aus Dissonanzen besteht« (197). Die Replik lässt erkennen, dass es sich bei dem Buch um ein Leidenschaftsprojekt des Herausgebers handelt.

Das Buch beinhaltet also nicht nur R. C. Dykstras »Originaltext in Übersetzung« (9–141), sondern auch fachkundige »Reaktionen« darauf (143–216) und eine ordentliche Portion Leidenschaft. Der Herausgeber erweist sich mit dieser Veröffentlichung, die (nota bene!) neben einem Promotionsprojekt entstanden ist, als Überzeugungstäter; von solchen bräuchten wir eher mehr als weniger.

Die Kontroversität auch der Reaktionen – am wohlwollendsten urteilt noch R. Kunz – ist eine Stärke des Buches. Die Leser lernen erst Dykstras Position kennen und werden mit seiner Argumentation vertraut. Sodann laden die weithin treffsicheren Reaktionen zur Distanznahme ein. Zuletzt macht die Replik noch einmal die Position Dykstras stark, angereichert um Impulse des Herausgebers – etwa zur homiletischen Bedeutung des Modells »Thinking at the Edge« (213–216). Diese Anlage begünstigt die Positionierung der Lesenden und ermöglicht einen inspirierenden Erkenntnisweg.

M. Scheidegger spielt mit Dykstra eine Position in die deutschsprachige Homiletik ein, die etwas aus der Mode gekommen ist. Um den Dialog mit Psychologie und Psychoanalyse stand es schon besser. Zwar lässt sich eine homiletisch-psychologische Spur von O. Haendler über H.-Ch Piper bis W. Engemann ziehen, wie es A. Deeg in seinem Beitrag tut (vgl. 153), doch diese Spur ist heute eher dünn – mehr Kopfsteinpflaster als Autobahnzubringer. Viele im Dialog mit der Psychologie und der Psychoanalyse generierten Erkenntnisse bleiben ohne Rezeption und selbst Basiswissen kommt oft nicht in der Breite an. Der Status der Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum gibt hierzu ein beredtes Zeugnis ab. Dass A. Deeg die Scheidegger-Übersetzung würdigt, weil dadurch nun ein homiletischer Dialog mit D. W. Winnicott erfolgt sei, verwundert nicht. Man muss in der deutschsprachigen Homiletik heute nicht wissen, dass D. W. Winnicott bereits häufiger homiletisch rezipiert worden ist. Fast zeitgleich mit der Erstveröffentlichung von Discovering a Sermon hat etwa H. Santer seine Studie Persönlichkeit und Gottesbild veröffentlicht (2003). Diese religionspsychologisch und praktisch-theologisch ausgerichtete Untersuchung, bis heute homiletisch rezipiert, setzt bei Theorien von D. W. Winnicott und A.-M. Rizzuto an und gipfelt in einer homiletischen Leitformel: »Ich rede mit dem Hörer über seine persönlich bedeutsame Gottesbeziehungserfahrung« (vgl. Santer, 301–303). Diese Formel lenkt den Blick auf eine Dimension, die bei Dykstra insgesamt zu wenig Raum einnimmt: die Hörerinnen und Hörer. Der Entwurf Dykstras ist auf die Predigtperson als Subjekt der Predigt enggeführt, was R. Kunz zu Recht kritisiert (188).

Dykstras Entwurf kann ein homiletischer Augenöffner sein. Er wirft ein anregendes Schlaglicht auf das manchen Predigenden selbst langweilig gewordene Phänomen »Predigt«. Sein Entwurf ist keine traditionelle Predigtlehre: Er bietet nichts Überblicksartiges, nichts Abschreitendes. Vielmehr nutzt er die Objektbeziehungstheorie und die psychoanalytische Theorie als Werkzeuge, mit deren Hilfe die Predigtarbeit von Pfarrern und Pfarrerinnen in ein erfrischend neues Licht rückt. Gleich fünf eigene Predigten sind zur Illustration (40 ff.68 ff.99 ff.118 ff.134 ff.) beigefügt. Wer sich dieser Perspektivierung aussetzt, den Spuren von D. W. Winnicott, A. Philips, H. Kohut, M. R. Khan, J. Kristeva oder N. Coltart homiletisch folgen will und bereit ist, in »die dominante, alles durchdringende Grundmelodie der Beschäftigung mit dem eigenen Selbst« (173) einzustimmen, wird das Buch als das lesen können, was es ist: ein Gewinn – vor allem für die homiletische Debatte im deutschsprachigen Raum.