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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

856–858

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Brunner, Petra

Titel/Untertitel:

Arbeitswelt in der Kirche. Gesellschaftliche und theologische Perspektivenwechsel zu ehrenamtlicher (Mit-)Arbeit in Kirche und Diakonie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 481 S. m 5. Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 96. Kart. EUR 75,00. ISBN 9783525564899.

Rezensent:

Dierk Starnitzke

Petra Brunner legt eine sehr umfangreiche Studie vor, die 2018 von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen wurde. Darin wird ein weiter Argumentationsbogen gespannt. Er reicht von Ausführungen über gesellschaftliche und theologische Perspektiven in der inner- und außerkirchlichen Ehrenamtsdebatte (Kapitel 1) über einen Perspektivwechsel zu »lohnabhängiger« und »freiwilliger« Arbeit in Kirche und Diakonie (Kapitel 2) bis zu Überlegungen über das Reich Gottes als Hoffnungsperspektive für die Arbeit in Kirche und Diakonie. Die Arbeit ist damit nicht nur thematisch recht breit angelegt, sondern sie weist auch eine sehr detaillierte Gliederungstiefe über insgesamt fünf Ebenen auf (siehe die ausführliche Inhaltsangabe 7–15!).

Im 1. Kapitel werden Ehrenamt und freiwillige Arbeit einerseits im Professionalisierungsdiskurs als defizitär und professionalisierungsbedürftig wahrgenommen (27–46). Andererseits werden im Diskurs über Macht und Teilhabe im freiwilligen Engagement vielfältige Teilhabechancen und Alternativen für eine demokratische, mündige Gesellschaft gesehen (47–67). Ehrenamt wird dann im Diskurs über Arbeit in dreifacher Weise als Sozialstaatsgarantie, als Ersatz für Erwerbsarbeit und als Anregung für ein neues Arbeitsverständnis wahrgenommen (67–83). In der kirchlich-theologischen Diskussion zum Ehrenamt identifiziert die Vfn. zudem noch die drei theologischen Motive Priestertum aller Gläubigen, Charismen und Nächstenliebe (83–117). Die Analysen des 1. Kapitels führen zu der These, dass es sich in den verschiedenen Diskursen beim freiwilligen Engagement um einen weitgehend unterbestimmten »Container-Begriff« handelt (115).

Nach einer definitorischen Unterscheidung von »lohnabhängiger« und »freiwilliger Arbeit« (119–137) beschäftigt sich die Vfn. mit dem Begriff der Dienstgemeinschaft als »theologischer Chiffre« (137–164), den sie für ihre eigene Forschungsarbeit zum Thema als ungeeignet bezeichnet, weil er keinen theologischen Ursprung besitzt und in der aktuellen Diskussion zu sehr auf arbeitsrechtliche Fragen fokussiert ist. Bei der Betrachtung der kirchlich-diakonischen Erwerbsarbeit zeigen sich für die verschiedenen Berufe deutliche Zeichen von Arbeitsüberlastung, die nach einer Modifikation der Arbeitsbedingungen in Kirche und Diakonie verlangen (164–178). Aus Sicht der Vfn. steht dabei die Ökonomisierung der kirchlich-diakonischen Arbeitswelt mindestens in Spannung oder in ihrer »neoliberalen« Ausprägung sogar im Widerspruch zum Auftrag der Kirche bzw. Diakonie (178–190). Sie versucht demgegenüber einen Arbeitsbegriff zu entwickeln, der sowohl freiwillige als auch lohnabhängige Arbeit umfasst und Leitlinien für gelingende Arbeit vorgibt (191–248). Theologisch leitend ist dabei, dass Gott menschlicher Tätigkeit unabhängig von Status und Entlohnung Wertschätzung zukommen lässt.

In diesem Sinne wird im 3. Kapitel der Gedanke des Reiches Gottes als »Hoffnungsperspektive« für kirchlich-diakonische Arbeit eingeführt. Nach biblisch-theologischen und theologiegeschichtlichen Überlegungen wird besonders auf die Theologie der Hoffnung Jürgen Moltmanns eingegangen. Als »Kernqualitäten« des Reiches Gottes werden dann Teilhabe, Frieden, Recht und Gerechtigkeit herausgearbeitet (249–301). Daran anknüpfend wird auf das Konzept der partizipatorischen Parität (»Teilhabe auf Augenhöhe«) von Nancy Fraser zurückgegriffen. Darin sieht die Vfn. einen diskursiven Rahmen, der die Entgegensetzung von Ökonomie und Kultur zu überwinden versucht (301–346). Danach werden die beiden Ansätze des Reiches Gottes und der partizipatorischen Parität zur kirchlich-diakonischen Arbeitswelt in Bezug gesetzt. Dazu wird ein Rahmenmodell für Aushandlungsprozesse beschrieben, die mehr partizipatorische Parität der verschiedenen Personen und Gruppen in der kirchlich-diakonischen Arbeitswelt ermöglichen sollen (346–364). Abschließend wird dieses Modell am Beispiel der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland besonders in Bezug auf freiwillige Mitarbeitende konkretisiert. Dabei plädiert die Vfn. für eine Allgemeine Vokationshandlung für alle, sowohl die freiwilligen als auch die beruflichen Mitarbeitenden in der kirchlich-diakonischen Arbeitswelt (365–418).

Die Untersuchung endet mit einem Schlusswort (419–422), in dem die gesamte Argumentation noch einmal rückwärts vergegenwärtigt wird, sowie einem umfangreichen Anhang mit Texten über Dienst und Dienstgemeinschaft aus verschiedenen Verfassungen, Ordnungen und Grundordnungen deutscher evangelischer Landeskirchen (423–432).

Die Publikation hat damit insgesamt das Interesse, die Gemeinsamkeiten von bezahlten und nicht bezahlten Tätigkeiten in Kirche und Diakonie zu fördern, und bietet dafür einen breit angesetzten Argumentationsbogen, der sich am Ende um praktische Konkretionen bemüht. Nicht schlüssige Argumentationsmuster wie das der »Dienstgemeinschaft« werden klar identifiziert. Das theologische Defizit, in der modernen Arbeitswelt mit ihren differenzierten Diskursen eine prägnante und überzeugende Orientierung speziell für die kirchlich-diakonische Arbeit zu bieten, wird deutlich herausgearbeitet. Auf diesem Hintergrund wird mit den Ansätzen von Moltmann und Fraser ein eigener Ansatz entwickelt, »Teilhabe auf Augenhöhe« von beruflich und ehrenamtlich Tätigen in Kirche und Diakonie herzustellen.

Die dabei gewählte Unterscheidung von »lohnabhängiger« und »freiwilliger« Arbeit steht dabei in der Gefahr, die Freiwilligkeit und hohe persönliche Motivation für die bezahlte Arbeit in Diakonie und Kirche zu unterschätzen. Die eher kritische Betrachtung der Ökonomisierung der kirchlichen und diakonischen Arbeit könnte außerdem dazu führen, die großen Chancen und Vorteile geringzuschätzen, die sich gerade in der deutschen Kirche und Diakonie durch die enge Einbindung in gesellschaftliche Finanzierungslogiken ergeben, weil sie eine sehr umfangreiche und akzeptierte kirchlich-diakonische Arbeit in unserer Gesellschaft garantiert. Auch die spezifischen Unterschiede zwischen der Arbeit im verfasst-kirchlichen Bereich und der eher unternehmerisch organisierten Diakonie kommen dabei nicht besonders in den Blick.

Insgesamt gelingt es der Studie aber, zum Thema Ehrenamt den unscharfen »Container-Begriff« freiwilliges Engagement klarer zu differenzieren und für eine wertschätzende Zusammenarbeit von bezahlt und unbezahlt Tätigen in Kirche und Diakonie hilfreiche Impulse zu liefern, indem sie die dortige Arbeit in den Horizont des Reiches Gottes stellt, durch den sich beide Gruppierungen auf eine gemeinsame Berufung (Vokation) beziehen und in dieser Perspektive zusammenfinden könnten.