Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2022

Spalte:

835–837

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Reckwitz, Andreas, u. Hartmut Rosa

Titel/Untertitel:

Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? 2. Aufl.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. 314 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783518587751.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Der Band umfasst neben einer Einleitung zwei größere Beiträge, in denen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa ihre Konzepte einer Theorie der modernen Gesellschaft vorstellen. Darin folgen sie einem ähnlichen Aufbau: Zunächst werden Grundfragen erörtert, um sich dann Darstellungen der eigenen materialen Theorie zu widmen. Die Texte lassen sich in manchen Teilen auch als Kommentar zur Position des jeweils anderen lesen, ohne dass das explizit gesagt werden würde. Den Band beendet ein von Martin Bauer moderiertes Gespräch.

Beide teilen den Horizont einer »spätmodernen« Gesellschaft in der Krise vor dem Hintergrund eines spezifischen Verständnisses der Moderne überhaupt. Nicht die grundsätzliche Frage, wie soziale Ordnung überhaupt möglich sei, sondern wie sich »praktisch« sozialer Wandel vollziehe, steht im Fokus. Gemeinsam sei ihnen, so Martin Bauers Diagnose am Ende, eine »antinaturalistische Haltung«, die Gesellschaft letztlich geradezu physikalisch deuten würde (279). Sie sei von den Menschen – unter von ihnen nicht selbst geschaffenen Bedingungen – gestaltet. Rosas Diktum, dass Menschen immer selbstinterpretierende Wesen seien, die sich anhand einer Landkarte mit starken Wertungen orientieren, könnte deswegen wohl auch Reckwitz zustimmen. Und was »Beschleunigung« bei Rosa mit den fatalen Folgen der Entfremdung meint, wäre bei Reckwitz nüchterner unter einer »andauernden Bewegungsdynamik« zu fassen, die Gewinne und Verluste produziere.

Schon im Stil der Texte wird allerdings die Differenz der eher distanziert analysierenden Haltung Reckwitz’ (»Theorie als Werkzeug«) vom normativen Herangehen Rosas (»Hier stimmt etwas nicht!«) deutlich. Sie ist insbesondere auch darin fundamental, dass Rosa auch »Heilungsvorschläge« macht: »Resonanz mit der Natur würde in der Tat wechselseitige Verwandlung meinen, aber nicht im Modus von zerstörender Allmacht und monströser Ohnmacht, sondern in einer Weise transformativer Lebendigkeit.« (250) Dagegen Reckwitz: »Im Rahmen einer kritischen Analytik kann es nicht um die Realisierung einer allgemeingültigen politischen Utopie gehen, sondern immer allein um temporäre und situative Strategien: Man setzt dort an, wo sich Kontingenzhorizonte schließen, und arbeitet an deren erneuter Öffnung.« (143)

Reckwitz hält drei Prozess-Dimensionen der Moderne für grundlegend: die Dialektik von Kontingenzöffnung und -schließung, die Rivalität zwischen einer sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen und zwischen Rationalisierung und Kulturalisierung, sowie Fragen einer paradoxen Zeitstruktur mit einem Regime des Neuen und einer Dynamik der Verluste (28). Modern sei das Verallgemeinern und das Besondern in einer spezifischen Radikalität: dem Dauerkonflikt zwischen Rationalismus und Romantik (267). Eine soziale Formation bricht auf, wird mit eigenen Widersprüchen konfrontiert, verdichtet sich in neuer erstarrter Ordnung und unterliegt dann wieder einer radikalen Veränderung. Aber dahinter stehe weder ein Verfalls- noch ein Emanzipationsprozess: Es sei eine Dialektik ohne Telos (269), wenn auch durchaus mit der Kraft von Revolutionen. Die »Sozialtheorie« sei mit einem empirischen Forschungsprogramm eng verknüpft, gehe aber über die »Fakten« hinaus. Im Fokus der Analyse stehe die Praktik als »wiederholte und zugleich räumlich verstreute, wissensabhängige Aktivität von Körpern und Dingen« (52), die aber allein im »doing matter« existiere. Dazu zählen Diskurse, Affekte, Subjekte und Lebensformen. In der Spätmoderne werde das Regime des Neuen ekzessiv. Die Subjekte sollen nicht mehr nur ihrem Gewissen folgen, sondern die Besonderheit ihrer jeweiligen Existenz realisieren. Der kritische Akzent seiner Theorie besteht im Aufzeigen von Kontingenz. Es geht nicht um Bewertungen, sondern darum zu zeigen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen.

Rosa plädiert dafür, Grundbegriffe der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung zu verändern, um einen bestmöglichen (Selbst-)Deutungsvorschlag zu entwickeln, und weiß, dass schon dies die gesellschaftliche Wirklichkeit verändere (161). Der Antrieb hierzu sei die Erfahrung einer zunehmenden Krisenanfälligkeit der Gesellschaft. Es sei eine in die gesellschaftliche Struktur eingebaute aggressive Grundhaltung, die alles in eine nicht mehr zu beherrschende Steigerungslogik treibe. Grundlegend sei, dass diese Gesellschaft beständig wachsen, beschleunigen und innovieren müsse, was sich in den Antriebsenergien (Ängste, Wünsche) der Subjekte artikuliere. Die »dynamische Stabilisierung« sei mit einer beständigen Weltreichweitenvergrößerung verbunden: Das Gute sei nicht mehr die Erfüllung einer besonderen Möglichkeit, sondern die dauernde Erweiterung von Möglichkeiten. Dieses Bewegungsgesetz treibe alles »zu schnell« voran: die Wirtschaft, die Politik, die Ökologie, die Seele. Die Folge sei Entfremdung als Beziehungsverlust und »Weltverstummen«. Die Therapie bestehe in der Entlastung von intrinsischen Eskalationszwängen durch Postwachstum (= bedingungsloses Grundeinkommen), Wirtschaftsdemokratie und einer generellen Pazifizierung der Existenz. Sie stelle sich ein, wenn man sich auf Erfahrungen der »Teilmächtigkeit«, d. h. einer aktiv-passiv kombinierten Lebenshaltung einlasse, wie in der Liebe (244). Ebendies sei Resonanz: »eine soziale Welt, die in ihrem unverfügbaren Anderen im Äußeren wie im Inneren nicht im Modus der Aggression und der Verfügbarmachung, sondern im Gestus eines transformativen Hörens und Antwortens begegnet« (250).

Fazit? Reckwitz kommt mit einer »Minimalnormativität« des Aufweisens von notwendigen Kontingenzöffnungen aus. Weitere »Betroffenheiten« braucht er als Antrieb seiner Theorie nicht. Sie sei ein Werkzeug, das eine reflektierte Praxis unterstütze und so normativ neutral. Letztendlich kultiviert er die Distanz zur Praxis in der Tradition Webers oder Luhmanns. Rosa kapriziert sich von vornherein auf eine dezidiert bewertende Sicht der Moderne. Und er hat auch eine Lösung parat: die Resonanz. Sie greife allerdings auch zur Beschreibung dessen, was bei Goebbels Rede im Sportpalast geschehen wäre, so Reckwitz (297). Und in der Tat klingen einige Formulierungen so, als wäre mit Resonanz allgemein die Erfahrung (irgendeiner) Beziehung bzw. der sozialen Teilhabe an einem »Resonanzkreislauf« gemeint (194). Zudem hätte Resonanz »das Streben nach Ausweitung des Verfügungshorizontes schon mit motivationaler Energie versorgt, bevor es zu einem strukturellen Zwang wurde« (246). Um dem zu begegnen, zieht Rosa normative Elemente ein und erkennt Resonanz nur noch dort, wo es sozusagen um ein gutes Gespräch geht (inkl. Selbstverwirklichung, Transformation, Ergebnisoffenheit, 299). Hass und Mordlust seien keine Effekte von Resonanz (300). Damit aber behält Reckwitz Recht mit seiner Kritik, dass sich Rosa eindeutige Verhältnisse unter Ausblendung der Realität schaffen will. Letztlich nähert sich Rosa an – ehrwürdige – sozialphilosophische Traditionen eines Martin Buber oder Erich Fromm an.

Die Differenz zwischen dem Analytiker und dem Moralisten ist mithin nicht zu überbrücken. Man muss sich entscheiden, was man haben will: Werkzeuge zur Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit oder existentielle Auferbauung. Andere namhafte Theoretiker, die hier Brücken bauen, wie Axel Honneth und Hans Joas, kommen leider nur wenig vor.