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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

826–829

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Fix, Karl-Heinz [Hg.]

Titel/Untertitel:

Zustimmung – Anpassung – Widerspruch. Quellen zur Geschichte des bayerischen Protestantismus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. 2 Bde.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. VI, 1933 S. m. 11 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 21. Geb. EUR 250,00. ISBN 9783525560365.

Rezensent:

Wolfgang Huber

Diese gewichtige Edition wurde vor dem Hintergrund des noch immer auf Empörungsgesten fixierten Streits um Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) erarbeitet. Finanziert von der Ev.-Luth. Kirche in Bayern (ELKB), will sie zur Versachlichung beitragen durch Erkenntnis förderndes Studium von Quellen. Ihr Erscheinen ist daher zu begrüßen. Die Untersuchungen von Lukas Bormann und Nora Schulze haben zwar die apodiktischen Urteile der damaligen Lehrstuhlinhaber Wolfgang Stegemann und Berndt Hamm, die den ersten Entehrungsbeschlüssen im Jahr 2007 zur Rechtfertigung dienten, revidiert, trotzdem wirkt die Brandmarkung Meisers weiter, wie jüngst, eklatant, in der Wagner-Stadt Bayreuth.

Der Blick dieser Edition richtet sich nun nicht allein auf den Bischof, den die Nazis als »Judenfreund« und Hauptfeind persönlich angriffen. Sie versucht vielmehr, die Situation der gesamten ELKB in der NS-Zeit »multiperspektivisch« zu erfassen. Der Abdruck von immerhin 957 Quellenstücken soll zeigen, »weshalb, wie und mit welchen Denkfiguren evangelische Christen die Möglichkeit einer Koexistenz von Kirche und Nationalsozialismus bei gleichzeitiger früher Erfahrung einer konsequent antikirchlichen Politik sehen konnten und welche Widersprüche aus dieser Position resultierten« (9 f.). Dabei gibt die Edition kein vorgegebenes oder scharf abgrenzbares Quellencorpus wieder. Vielmehr hat ihr Herausgeber die Stücke selbst souverän auswählend »zusammengestellt«, um die Breite der Handlungsfelder und das gesamte Spektrum an Stimmen innerhalb der Landeskirche zu berücksichtigen. Der chronologisch und thematisch umfassende Blick schließt auch die »Vorgeschichte« und die frühe Aufarbeitung nach 1945 ein. Das disparate, heterogene, kaum überschaubare Material wird in 13 unterschiedlich umfangreichen Themenbereichen strukturiert, die selbst wiederum eine Untergliederung aufweisen und darin dann chronologisch angeordnet sind: 1. Vorgeschichte (283, Dok. 1–22); 2. Der Kampf um Verfassung und Bekenntnis der Landeskirche (327, Dok. 23–218); 3. Deutsche Christen (695, Dok. 219–256); 4. Politik (752, Dok. 257–360); 5. Antisemitismus, Rassismus und Maßnahmen dagegen (883, Dok. 361–413); 6. Eugenik und »Euthanasie« (958, Dok. 414–431); 7. Kirchliches Leben (987, Dok. 432–692); 8. Presse und Rundfunk (1398, Dok. 693–724); 9. Theologische Arbeit (1441, Dok. 725–768); 10. Diakonie, Innere und Äußere Mission (1556, Dok. 769–793); 11. Konflikte der Kirche mit Staat und Partei (609, Dok. 794–934); 12. Kirchenmitgliedschaft und Kirchlichkeit (1824, Dok. 935–946); 13. Deutungen und Rechtfertigungen 1945 bis 1948 (1835, Dok. 947–957).

Die Quellen unterschiedlichster Gattungen und Formen stammen aus Archiven, Sammlungen sowie Organen der Publizistik (z. B. Pfarrer- und Gemeindeblätter). Es handelt sich um Privatbriefe, Rundschreiben, Artikel, Denkschriften, amtliche Texte, Anordnungen, Protokollnotizen, Gottesdienstformulare u. a. Keine Aufnahme fanden Stücke, »die bereits in anderen Publikationen nach 1945 gedruckt wurden« (23). Faktisch wird diese Regel nicht konsequent befolgt (z. B. Dok. 160, Dok. 260). Die Edition gibt auch keinen Hinweis, worauf konkret verzichtet wurde (außer auf S. 12: Kurt D. Schmidt, »Bekenntnisse«, 1933–1935). Überhaupt fehlt eine exakte Beschreibung des eigenen Konzepts und der angewandten Auswahlkriterien (11), während ein »Forschungsüberblick« (11–21) etwa die von H. Schmid (1885–1967) und H. Hermelink (1877–1958) vorgelegten Werke (1947 bzw. 1950) historiographisch eingehend charakterisiert. Insgesamt bleibt – trotz markiger Kennzeichnung der Streitparteien um Meiser und der eigenen Position – etwas unklar, wie »repräsentativ« oder gar »vollständig« die Dokumentation als Ganze oder in bestimmten »Teilbereichen« tatsächlich ist.

Karl-Heinz Fix hat sich entschieden, nicht jeweils die einzelnen Stücke einzuleiten, sondern eine »Einführung in den Quellenteil« insgesamt vorzuschalten, mit einem Umfang von 200 Seiten. Diese verortet die Stücke im historischen Zusammenhang und verbindet sie darstellerisch miteinander. So hat es Fix bereits bei seiner Dokumentation zur »Hilfe« der ELKB »für die aus rassischen Gründen verfolgten Protestanten« (Glaubensgenossen in Not, 2012) gehandhabt, wo die thematische Spannweite freilich geringer war. Dieser Einführungsteil bietet zugleich eine pointierende, mitunter (allzu) forsch bewertende Kurzdarstellung der edierten Stücke mit ihren schlaglichtartigen Momentaufnahmen (entsetzlich Dok. 413 [957], dessen Verfasser die »Einführung« [102] in Württemberg verortet). Eine der Urteilsbildung der Leserschaft vorgreifende Interpretation liefert bereits der triadische Titel des Werks, der anscheinend das Spektrum der in den Quellen wahrgenommenen Positionierungen zum NS sowohl in seiner Breite als auch in der zeitlichen Gesamttendenz 1933 bis 1945 grob festhalten will.

Beim praktischen Gebrauch erweist es sich als einigermaßen unbequem, den Bezug vom Einzelstück zur dazugehörenden Einführungsnotiz über hunderte Seiten hinweg (in zwei schwergewichtigen Bänden) herstellen zu müssen. Ohnehin behält man bei der Vielzahl von Stücken nicht mühelos den Überblick. Das detaillierte »Verzeichnis der Dokumente« (223–282) hilft, stünde aber besser am Beginn des Buches. Ebenfalls der Erschließung dienen die Register. Dabei hätte das prall gefüllte »Institutionen-, Orts- und Sachregister« etwas realistischer von den Bedürfnissen der Leserschaft her gestaltet werden können (z. B. findet sich das Stichwort »Gemeinschaftsbewegung« unter »Bayern, Landeskirche«). Die hier angewandte elaborierte Differenzierung hätte auch manche übervollen Einträge im Personenregister transparenter gemacht. Eine pauschale Aufzählung der Seitenzahlen unter »Meiser, Hans« wäre absurd gewesen, aber ausgerechnet bei ihm nur »passim« zu notieren, ist keine Lösung. Die Beigabe einer »Chronologie 1933 bis 1945« würde die historische Einordnung erleichtern. Vor allem aber schmerzt der Verzicht auf Personennachweise und Erläuterungen beim gebotenen Stück. Die Behauptung, die ausgewählten Texte sprächen »für sich selbst« und bedürften »weder einer Kommentierung noch einer längeren Einleitung« (11), erstaunt, hat doch die sorgfältige historisch-kritische Analyse der zunächst nur oberflächlich verstandenen – und voreilig inkriminierten – Meiser-Äußerungen von 1926 und 1943 das Gegenteil erwiesen. Tatsächlich lässt die Lektüre der thematisch so vielfältigen Texte dieser Edition stets nach den Zusammenhängen und biographischen Hintergründen fragen. (Das kommende »Pfarrerbuch der ELKB 1806 bis 1945« kann hier womöglich etwas abhelfen.) Gleichwohl tragen die hier zu entdeckenden Quellentexte wie Mosaiksteine bei zu einem perspektivenreichen, vielschichtigen, der historischen Realität näherkommenden Gesamtbild. Sie eröffnen einen authentischen Zugang zur komplexen Situation der ELKB in der NS-Zeit. Künftige Darstellungen werden diese Quellen ausschöpfen.

Die ELKB, oft unverstanden von den Zeitgenossen und der Forschung, unterschied sich durch ihre konfessionelle Prägung bewusst von den anderen Landeskirchen – und bezog gerade daraus Kraft zur Resilienz. Das wird immer wieder deutlich (z. B. Dok. 78; 82; 132; 133; 750), auch wenn intern gelegentlich Kritik am strikten Kurs geäußert wurde (z. B. Dok. 172; 760). Sie wurde z. B. (nicht in der Edition abgebildet) zum Zufluchtsort bedrohter Pfarrfamilien aus anderen Landeskirchen – so für Julius von Jan (1897–1964). Die ELKB stand von ihrer Spitze bis in die Breite der Gemeinden und der Pfarrer unter Dauerstress, in zermürbenden Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichsten NS-Vertretern inner- und außerhalb der Kirche. Auch innerhalb der Bekennenden Kirche musste sie um den richtigen Weg streiten. Die Akteure der ELKB, individuell mehr oder weniger klarsichtig oder verblendet, bewegten sich in einem von Propagandanebel durchzogenen Gefahrenraum mit Drohkulissen und Verführungen, Willkür- und Gewaltakten. Sie konnten nicht sehen, wo es hinauswollte – im Unterschied zu den Nachgeborenen, die im sicheren historischen Abstand es natürlich besser wissen. Ja, es kam auf allen Ebenen zu falschen Einschätzungen und Entscheidungen, zu heute nur schwer nachvollziehbaren, ja unerträglichen »Missgriffen« (Dok. 261), Kompromissen und Irrtümern. Diese gilt es auch vor dem Hintergrund langfristiger Entwicklungen zu untersuchen (Judenfeindschaft, Nationalismus, Männlichkeitswahn, Säkularisierung u. Ä.). Die ELKB war zu sehr mit Selbstverteidigung beschäftigt, es fehlten der Blick und das Engagement für die »anderen«, sogar in ihrer Existenz bedrohten Opfer der totalitären Gewaltherrschaft. Auf ein Terror-Regime der Dimension des NS war die Kirche nicht vorbereitet. Von ihr organisierten »Widerstand« gegen »die Obrigkeit« zu erwarten, wäre unrealistisch. Andererseits galten den NS-Behörden die Oberkirchenräte Prieser, Schieder und Kern als »Verbrecher« und »Landesverräter«. Die Geheimpolizei notierte z. B., dass OKR Georg Kern (1885–1947) 1938 bei der Volksabstimmung gegen den Anschluss Österreichs votierte (Dok. 827). Einzelnen Personen war das Charisma biblisch-theologischer Urteilsfähigkeit, prophetischer Unbedingtheit oder heroischen Mutes gegeben (z. B. Karl-Heinz Becker, Dok. 17 [an OKR W. Rüdel], den Nürnberger Pfarrern im Protest gegen den »Arierparagraphen«, Dok. 65, oder Karl Steinbauer, 204 f.). Ein auf Verlässlichkeit und Rechtlichkeit bedachter Charakter wie Bischof Meiser, der an seiner konkreten Amtsverantwortung für Anbefohlene schwer trug, konnte nur das ihm Mögliche tun. Versagen und Schuld bekannte er, die Ehrungen der Nachkriegszeit wurden ihm angetragen. Nun werden sie ihm, »um Zeichen zu setzen«, leichterhand entzogen. Wissenschaftlicher Forschung geht es aber um mehr als den vergänglichen Ruhm, der an Straßennamen hängt. Darum ist der ELKB und dem Bearbeiter für diese wertvolle Edition zu danken.