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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

824–826

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Buss, Hansjörg

Titel/Untertitel:

Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit.

Verlag:

Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2021. XVI, 659 S. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783863955274.

Rezensent:

Aneke Dornbusch

Eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte der Göttinger Theo-logischen Fakultät im Nationalsozialismus war ein für die Fakultät selbst lang bestehendes Desiderat. Dass sich Göttingen in dieser Zeit nicht als Bastion des Widerstands erwiesen hatte, war bekannt, doch ging die bisherige Forschung oft kaum über die Rolle des prominenten decanus perpetuus Emanuel Hirsch hinaus. Um endlich eine umfassende Sicht auf die Rolle der Fakultät und ihrer Mitglieder im NS-Staat zu gewinnen, wurde von der Fakultät 2015 ein Stipendium für ein ebensolches Forschungsprojekt ausgelobt. Der Historiker Hansjörg Buss, durch einschlägige Arbeiten zur Kirchengeschichte im Nationalsozialismus ausgewiesen, nahm sich der Aufgabe an und legt mit diesem Buch die Ergebnisse seiner Forschung vor. Erfreulicherweise ist die Publikation der Öffentlichkeit im Open access verfügbar (https://publications.goettingen-research-online.de/handle/2/106290).

B. nimmt die Erkenntnis ernst, dass die NS-Zeit isoliert nicht verstanden werden kann, und bezieht die Weimarer Republik und frühe Nachkriegsgeschichte in seine Darstellung mit ein. Im ers-ten Kapitel, das die Weimarer Zeit behandelt, kann B. plausibel machen, wieso die NS-Ideologie 1933 bei der Göttinger Theologenschaft auf fruchtbaren Boden fiel. Dem folgenden, natürlich größten Kapitel zur NS-Zeit merkt man in seiner komplexen Gliederung an, wie viel Material B. gesichtet hat. Unklar bleibt, wieso die individuelle Darstellung des Lehrkörpers nicht den Auftakt bildet, sondern fast am Ende des Abschnitts eingereiht wird. Die lebens- und werkgeschichtlichen Miniaturen wären eine gute Ausgangsbasis gewesen, um darauf aufbauend die Konflikte innerhalb der Fakultät und die personellen Veränderungen besser zu verfolgen. B. wählt aber auch keine chronologische Anordnung, sondern trennt die Felder Berufungspolitik, Kirchenkampf sowie Lehre und Forschung. Trifft man das erste Mal mit der Göttinger Fakultätsgeschichte dieser Zeit zusammen, ist daher zur Orientierung zunächst die Lektüre einer kürzeren Einführung wie Robert P. Ericksens Darstellung in »Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus« von 1998 oder Rudolf Smends »Eine Fakultät in kritischer Zeit« aus dem Göttinger Jahrbuch 2002 zu empfehlen. Auf dieser Basis macht es dann regelrecht Freude, B. bei der detaillierten Aufarbeitung einzelner Aspekte zu folgen – hier liegt die Stärke der feingliedrigen Präsentation des Materials, die es ermöglicht, das Inhaltsverzeichnis fast schon als Register zu nutzen. Daneben ist aber auch ein nützliches Personenregister beigegeben.

Das Abschlusskapitel über die Nachkriegszeit zeigt, wie wichtig es ist, dass auch diese Periode deutscher Theologiegeschichte vermehrt in den Blick genommen wird. Hier spannt sich der Bogen zur Gegenwart, denn B. illustriert, wie der Neuaufbruch gelang und die Göttinger Fakultät »ihren Beitrag zum protestantischen Aufbruch der Nachkriegszeit« (536) leistete.

Insgesamt ist das Buch eine gelungene, den Ansprüchen kritischer Distanz gerecht werdende Forschungsleistung. Gemäß dem Titel »Wissenschaft – Ausbildung – Politik« steht nicht mehr länger nur der Lehrkörper im Fokus, sondern der Rolle der Theo-logiestudierenden wird fast genauso viel Raum gegeben. Die Darstellung der verschiedenen christlichen Kooperationen, Wohnheime und Vereine und deren Haltung zum Nationalsozialismus ist der große Mehrwert von B.s Darstellung. Der Bedarf an Aufarbeitung dieser Art ist offensichtlich: Man muss sich schließlich vor Augen halten, dass es sich bei den Studierenden dieser Jahre gerade um die Akteure handelt, die in der späteren Bundesrepublik Theologie und Kirche bestimmen sollten. B. kann für die verschiedenen christlichen Studentenvereinigungen in der Weimarer Republik durchaus Nuancen der Politisierung aufzeigen, muss aber resümieren, dass letztendlich alle durch »ein autoritäres, antidemokratisches Denken« (125) erfasst wurden. Für die NS-Zeit schildert er die organisatorische Umstrukturierung der theologischen Studierendenschaft, deren bloße Existenz für die NS-Ideologie ein Problem darstellte. Für Göttingen kann er durchaus eine aktive Bekenntnisgruppe unter den Studierenden nachweisen, während die deutschchristliche Ideologie lediglich in der theologischen Fachschaft präsent war, wobei »ihr tatsächlicher Einfluss gering blieb« (283). Am Beispiel des Theologischen Stifts wird allerdings deutlich, dass selbst ein Wohnheim, in dem der Konflikt zwischen bekenntniskirchlichen und deutschchristlichen Anhängern offenkundig ausgelebt wurde, als »politisch […] unbedenklich« (274) galt. In Opposition zum NS-Staat gingen die Göttinger Studierenden nicht. Eines abschließenden Fazits zur Studierendenschaft in der NS-Zeit enthält B. sich – vermutlich, da sich solche Aporien nicht auflösen lassen.

B. hat auch in Bezug auf den Lehrkörper breite Archivarbeit betrieben und kann akribisch einzelne Konflikte und Details aufzeigen, wobei nicht selten auch ein Blick in die Fußnoten noch lohnt. Insgesamt kommen hier keine neuen Skandale ans Licht. Innerlich in Kirchenkampffragen gespalten, konnte der Dekan Hirsch die Fakultät nach außen nur mit Mühe als einheitlich präsentieren. Das politische Spektrum der Ordinarien reichte von klarer Unterstützung des Nationalsozialismus (Hirsch) bis hin zur Distanzierung (Bauer), die kirchenpolitischen Einstellungen reichten von Deutschen Christen (am eindeutigsten: Birnbaum, Behm, Hirsch, Hempel) über Zwischenpositionen bis zur Bekennenden Kirche (Dörries, Jeremias). Die zentralen Konfliktfelder waren Berufungsverfahren sowie die Beziehung zur Hannoverschen Landeskirche, die durch die Berufung des nicht qualifizierten DC-Theologen Walter Birnbaum erheblich verschlechtert wurde. Hirsch konnte sich hier oft nur mit Hilfe staatlicher Rückendeckung durchsetzen, was die Fakultät jedoch innerlich zerrüttete (246). B. resümiert, dass »entgegen dem eigenen Anspruch von einer einheitlichen Linie oder gar Ausrichtung der Fakultät nicht gesprochen werden kann. Sie war kaum mehr als eine Arbeits- und Zweckgemeinschaft“ (323). Damit ist die Göttinger Fakultät keinesfalls rehabilitiert, doch die internen Vorgänge haben deutlich mehr Gestalt angenommen.

B.s Darstellung wird Bestand haben, da er die zurzeit zugänglichen Akten erschöpfend ausgewertet hat. Neue Erkenntnisse sind eventuell noch aus dem Nachlass von Emanuel Hirsch zu erwarten, der zurzeit noch vom Landeskirchlichen Archiv Hannover katalogisiert wird. Es wäre zu wünschen, dass in Zukunft noch mehr Fakultäten und Institutionen die Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit in Angriff nehmen. Im Vergleich wäre auch die Göttinger Geschichte noch besser einzuordnen.