Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2022

Spalte:

820–821

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Neu, Rainer

Titel/Untertitel:

Willibrord und die Christianisierung Europas im Frühmittelalter.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 211 S. m. 31 Abb. = Urban-Taschenbücher. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170396463.

Rezensent:

Lutz E. von Padberg

Die Angelsachsen Willibrord (658–739) und Bonifatius (672/675–754) gehören zweifelsohne zu den bedeutendsten Missionaren des frühen Mittelalters der ersten Hälfte des 8. Jh.s. Erzogen und ausgebildet in den Klöstern Ripon und Rathmelsigi sowie Exeter und Nursling führten sie ein spannungsreiches Leben als Glaubensboten, das sie in für die damalige Zeit erstaunlich hohem Alter als Erzbischöfe vollendeten. Die Quellenlage zu ihnen ist höchst unterschiedlich. Von Bonifatius hat sich ein umfangreicher Briefwechsel erhalten, der nicht nur organisatorische und kirchenrechtliche Fragen erörtert, sondern in überraschender Weise auch Einblick in seine innere Motivation und die Grundlagen seines Glaubenslebens gewährt. Deshalb hat sich auch die Forschung immer wieder ausführlich mit Bonifatius befasst. Ganz anders stellt sich die Situation bei Willibrord dar. Als einziges von seiner Hand stammendes Dokument sind einige Einträge am Rand der Novemberseite in seinem liturgischen Festkalender erhalten. Ansonsten sind wir neben einigen Urkunden angewiesen auf sekundäre Quellen, nämlich die Historica ecclesiastica gentis Anglorum des northumbrischen Mönches Beda Venerabilis (abgeschlossen 732, also zu Lebzeiten Willibrords) und die Vita Willibrordi von Alkuin (um 797, als Prosa- und Versfassung), auf die die Lebensbeschreibung des Echternacher Abtes Thiofrid vom Beginn des 12. Jh.s zurückgeht. Dieser Quellenlage entsprechend sind die Forschungsbeiträge überschaubar. So sind neben wichtigen Aufsätzen etwa von Wilhelm Levison und Arnold Angenendt nach wie vor grundlegend die Arbeiten von Camille Wampach (zuletzt Sankt Willibrord, Luxemburg 1953). Zu Recht stellt Privatdozent Rainer Neu, Autor des vorliegenden Büchleins, deshalb fest, dass es »an einer aktuellen, historisch zuverlässigen und übersichtlichen Darstellung der Lebensgeschichte und des Werkes Willibrords« (10) fehlt, obwohl zahlreiche Kirchen sein Patrozinium tragen.

Diese Lücke schließt N., der an der Universität Duisburg-Essen Kirchengeschichte und Religionswissenschaft lehrte, in überzeugender Weise. Der prekären Quellenlage entsprechend hat er seine Arbeit breit angelegt, indem er etwa die Christianisierung Englands vom Ende der römischen Herrschaft an in den Blick nimmt und sich eingehend mit dem abenteuerlichen Leben von Bischof Wilfrid, zeitweilig Lehrer von Willibrord im Kloster Ripon, befasst. Die Darstellung folgt weitgehend der Chronologie von Willibrords Leben und erörtert dementsprechend dessen Missionsaktivitäten in Friesland, zwischen Maas und Schelde, Mainfranken und Thüringen. Daneben stehen Entstehung und Entwicklung seines Klos-ters Echternach sowie die Beziehung zu fränkischen Herrschern und zu Bonifatius im Blickpunkt. Zu Recht urteilt N. abschließend: »Der Glaubenseifer und das charismatische Auftreten irischer und angelsächsischer Missionare hatte im Laufe des siebten und achten Jahrhunderts auf dem Kontinent Unermessliches geleistet.« (195)

Es ist beeindruckend, wie N. angesichts der prekären Quellenlage ein solch umfassendes Lebensbild zu präsentieren vermag. Allerdings geht das bisweilen auf Kosten der Exaktheit. Es ist durchaus verständlich, dass er hin und wieder auf Vermutungen zurückgreifen muss oder die Darstellung sehr breit anlegt. So konzentriert sich der Ausblick nicht, wie zu erwarten, auf Willibrord, sondern weitgehend auf Bonifatius (195 ff.). Verzichtbar ist der Abschnitt über das »Zeitalter Willibrords und der Islam« (161), da entsprechende Kenntnisse oder gar Berührungspunkte nicht nachweisbar sind. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis Willibrords sind die Abschnitte »Missionsmethoden und Verkündigungsinhalte« (123 ff.) sowie »Zerstörung heidnischer Kultstätten« (130 ff.). Bezüglich der Missionspredigt stellt sich das Problem, dass aus dieser Zeit keine authentischen Ansprachen überliefert sind. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Predigten sind Formen mündlicher Kommunikation und werden wohl kaum von Zuhörern mitgeschrieben worden sein. Umso bedeutender ist es, wenn Alkuin in seiner Vita Willibrordi eine Missionspredigt wiedergibt, die Willibrord vor dem Friesenherrscher Radbod gehalten haben soll (c. 11). Natürlich handelt es sich um eine Rekonstruktion, zumal die vor 714 gehaltene Predigt erst um 790 aufgezeichnet worden ist. Aber weil der Text formuliert, welche Inhalte Alkuin für unerlässlich hält, und das sogar zu einer Art Musterpredigt verdichtet, hätte er als herausragendes Zeugnis noch mehr Aufmerksamkeit verdient (vgl. 127 f.).

Insgesamt gesehen handelt es sich um eine solide Darstellung, die die gesamte Zeit Willibrords weitgespannt und kenntnisreich schildert. Hervorzuheben sind auch die zahlreichen, zum Teil farbigen Abbildungen. Das umfangreiche Literaturverzeichnis (201–210) stellt die einschlägigen Arbeiten zusammen, ohne dass sie stets in den spärlichen Anmerkungen erwähnt würden. Zu ergänzen wäre der inhaltsreiche Sammelband Willibrord, zijn wereld en zijn werk, hgg. v. P. Bange/Anton G. Weiler (Middeleeuwse studies 6), Nijmegen 1990. Register und ein chronologischer Überblick zur raschen Orientierung fehlen. Gleichwohl trägt N.s Studie zum Verständnis der Christianisierung Europas im Frühmittelalter bei.