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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

815–817

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Bachmann, Michael

Titel/Untertitel:

Das Freiburger Münster und seine Juden. Historische, ikonographische und hermeneutische Beobachtungen.

Verlag:

Regensburg: Schnell + Steiner Verlag 2017. 222 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 49,95. ISBN 9783795432621.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Gerade ist ein umfangreiches Festprogramm zu Ende gegangen, das »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« erinnert und würdigt (2021/22). Frühe Spuren dieses Lebens haben sich besonders nachhaltig dort etabliert, wo bildliche Darstellungen der biblischen Geschichte zugleich die spannungsreiche Beziehung zwischen Christen und Juden widerspiegeln. In dieser Hinsicht kommt dem Freiburger Münster mit seinem reichen figürlichen Schmuck eine herausragende Bedeutung zu.

Michael Bachmann, emeritierter Neutestamentler und Freiburger Bürger, ist mit dem Münster seit vielen Jahren vertraut. Sein Buch stellt die ikonographische Analyse von Figuren, die in Gestalt von Skulpturen oder Malereien als Juden dargestellt sind, in einen weiten geschichtlichen Horizont. Am Anfang liegt eine Art literarischer Stolperstein aus dem baulichen Umfeld des Münsters (Kapitel I): Er führt das Schicksal der Familie Mayer aus der Schusterstraße als einen wesentlichen Teil Freiburger Alltagswirklichkeit vor Augen, der mit der Shoa verloren gegangen ist. Dieser Miniatur schließt sich die Erinnerung an zwei Frauen an, deren Biographie exemplarisch für die christlich-jüdische Beziehung steht: Gertrud Luckner, Pazifistin, Katholikin, Quäkerin und Diplom-Volkswirtin an der Freiburger Universität, die bedrohten jüdischen Zeitgenossen zur Ausreise oder Flucht verhalf, Ravensbrück überlebte und ab 1948 zur Mitbegründerin der »Freiburger Rundbriefe« wurde; Edith Stein, die Jüdin, die in Freiburg Philosophie studierte, sich taufen ließ, in den Karmeliterorden eintrat und 1942 in Auschwitz umkam, 1998 heiliggesprochen wurde und im Münster mit einem Glasfenster geehrt wird.

Den Hauptteil des Buches (Kapitel II) stellen verschiedene Rundgänge durch das Münster dar, die das Augenmerk auf die Darstellung jüdischer Charaktere richten. Wie sind sie überhaupt als solche zu erkennen? Durch beigefügte Attribute, deren Arsenal freilich begrenzt bleibt: In der Regel handelt es sich dabei um die Form der Kopfbedeckung – den spitz zulaufenden »Judenhut« (pileus cornutus) oder eine Art Kappe mit Zipfel (Gugel); bei der Gewandung verrät gelegentlich ein auffälliges Gelb den Träger; weitere Kennzeichen des vorgeschriebenen Kleidercodes lassen sich nur schwer identifizieren. Die detaillierten Analysen folgen einer thematischen Ordnung, die Wertschätzung und Abwertung gleichermaßen aufzuspüren versucht. Zunächst (II.1) tritt Maria, die Patronin des Münsters, als eine jüdische Mutter in den Blick; nicht weniger als 123-mal kann man ihr hier begegnen. Durch die Einbindung in das Motiv der Wurzel Jesse wird ihr Platz in der Geschichte Israels sinnenfällig inszeniert. Breiten Raum (II.2) nimmt sodann die Darstellung jüdischer Gestalten aus der biblischen »Heilsgeschichte« ein: Bereits in der Darstellung der Sieben freien Künste oder der eigenwilligen »Wolfsschule« kommen gesamtbiblisch-heilsgeschichtliche Themen zum Tragen; das gilt auch für verschiedene Szenen zur biblischen Urgeschichte. Jüdische Kopfbedeckungen tagen einige der Propheten; auffällig sind sie bei Jesu Nährvater Josef, in der Szene vom zwölfjährigen Jesus bei den Lehrern im Tempel, bei Josef von Arimathäa, bei der Figur des Judas Cyriakus aus der Kreuzauffindungslegende oder bei den Disputanten der heiligen Katharina. Die Grundhaltung ist dabei eine positive. Die so Gekennzeichneten werden weniger ausgegrenzt als zugeordnet; sie sind Teil eines gemeinsamen, zusammengehörigen Geschehens. Zahlreich finden sich jedoch auch Darstellungen, in denen Unheilsmomente gezielt mit jüdischen Figuren besetzt werden (II.3): Das betrifft vor allem die Passionsgeschichte; eine legendarische Episode aus der Grabtragung Marias; verschiedene Martyrien aus der hagiographischen Tradition; schließlich die Bekehrungsgeschichte eines Juden aus der Nikolauslegende. In den Analysen dieser Szenen spielt B. seine umfangreiche exegetische Sachkenntnis aus und macht die zahlreichen Bezüge zwischen Ikonographie und Textüberlieferung sichtbar. Dabei stellt er den Beispielen aus dem Freiburger Münster immer wieder auch Analogien von anderen Orten zur Seite, die das Material erweitern.

Unter den Stichworten »Korporatives und Eschatologisches« (Kapitel III) wird jene Beziehung thematisiert, die in der Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge zum Ausdruck kommt. B. sieht darin auch ein Miteinander angedeutet. Das ist nicht unstrittig. Immerhin sind beide Figuren etwa in der westlichen Vorhalle den zehn Jungfrauen aus Mt 25 zugeordnet, was im Bild der geschlossenen Tür (»Ich kenne euch nicht!«) die Konstellation von drinnen und draußen festschreibt; in dieser Kontrastierung erscheinen beide Figuren geradezu programmatisch als die in Stein gehauene Substitutionstheorie. Anders sieht die Situation hinsichtlich der bemerkenswerten »Kindbettszene« aus, in der zur Geburt Jesu Josef mit Judenhut am Fußende von Marias Lager sitzt und eine als Ecclesia zu identifizierende Figur an das Kopfende herantritt. Bekannte Stereotypen zeigen sich in der jüdischen Stilisierung von Konsolfiguren oder Wasserspeiern. Doch allen Abwertungen steht wiederum eine Hoffnungsperspektive entgegen – dort, wo das endzeitliche Kommen Gottes und das himmlische Jerusalem in Erscheinung treten.

Das Buch schließt mit einer hermeneutischen Reflexion (Kapitel IV): Wie ist heute mit einem solchen ambivalenten Befund umzugehen? Die Shoa erweist sich in dieser Hinsicht als ein Wendepunkt, der die Augen öffnet und zur theologischen Sachkritik nötigt. Was die Debatte um Antijudaismus im Neuen Testament seither im Blick auf die Texte erarbeitet hat, gilt umso mehr für deren ikonographische Rezeption. Die Einsicht in die »bleibende Erwählung Israels« begründet eine neue Wahrnehmung der Beziehung zwischen Christen und Juden und hat weitreichende Konsequenzen für Exegese und Theologie. Doch was bedeutet das z. B. für den Umgang mit bildlichen Zeugnissen, die nicht nur auf Abgrenzung, sondern unverhohlen auf Diffamierung aus sind? Als ein besonders provozierendes Beispiel wird in diesem Zusammenhang die »Judensau« an der Stadtkirche zu Wittenberg diskutiert. Zu deren Geschick hat der Bundesgerichtshof während der Niederschrift dieser Rezension (im Juni 2022) gerade ein Urteil gefällt. Das Relief darf aufgrund der positionierten Einbindung in ein Mahnmal an seinem Ort verbleiben. B. warnt vor Bildersturm und einem Übermaß an beigefügten Erklärungen. Dennoch kann man Zeugnisse dieser Art gerade im öffentlichen Raum nicht unkommentiert stehen lassen. Ob korrespondierende Kunstwerke wie in Wittenberg, Texttafeln oder andere Formen kritischer Auseinandersetzung die notwendige Kontextualisierung herstellen können, bleibt in jedem einzelnen Fall zu prüfen. An vielen Orten gibt es inzwischen informative Flyer, die aufmerksam machen, erklären und einordnen. Für das Freiburger Münster übernimmt der vorliegende Band eine solche Funktion, auf hohem Niveau und mit so reichhaltigen Informationen versehen, dass man auch vergleichbare Bildwerke neu zu sehen lernt.

Der Band ist hervorragend ausgestattet, auf gutem Papier gedruckt, mit 108 gediegenen Abbildungen versehen und in einem ansprechenden Layout gestaltet. Man nimmt dieses Buch behutsam zur Hand, erfreut sich an seiner Aufmachung und legt es, stets reich belehrt, nur vorübergehend zur Seite. So wird jüdisches Leben in Deutschland anschaulich, so wird es auch in seiner ganzen komplexen Geschichte einfühlsam erschlossen und kundig zu der Gesellschaft seiner Zeit in Beziehung gesetzt. Die hermeneutischen Fragen, die sich daraus ergeben, sind jedoch noch lange nicht ausdiskutiert. Man kann dem Band deshalb nur ein zahlreiches Lesepublikum und dem Freiburger Münster eine neue, von seiner Lektüre inspirierte Besucherschar wünschen.