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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

811–813

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Standhartinger, Angela

Titel/Untertitel:

Der Philipperbrief.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. IX, 308 S. = Handbuch zum Neuen Testament, 11/1. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161601026.

Rezensent:

Heiko Wojtkowiak

Fast einhundert Jahre, nachdem Martin Dibelius (1925) den ersten und bisher einzigen Kommentar zum Philipperbrief innerhalb der Reihe »Handbuch zum Neuen Testament« veröffentlichte, legt Angela Standhartinger einen neuen, hochdetaillierten Kommentar zu diesem Brief vor.

S. erachtet den kanonischen Philipperbrief als Resultat einer redaktionellen Verbindung dreier ehemals eigenständiger Paulusbriefe (vgl. 20 f.; Brief A: Phil 4,10–20; Brief B: Phil 1,1–3,1; 4,1–7.9b.21–23; Brief C: Phil 3,2–21), welche »vermutlich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Philippi« (21) erfolgt sei. Beim Tugendkatalog mit anschließender apostolischer Mahnung in Phil 4,8.9a handle es sich um eine von nachpaulinischer Theologie beeinflusste Glosse. Als Abfassungsort der Einzelbriefe rechnet S. mit Ephesus während einer dortigen Haft des Paulus. Die Abfassung in Haft gehe zwar explizit nur aus Brief B hervor, lege sich aber für alle drei Briefteile nahe (vgl. 34 f.). Dieser Entstehungssituation komme eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des Briefs zu, sie sei »der hermeneutische Schlüssel« (29). Insbesondere wirke sie sich insofern aus, dass Paulus angesichts potentiell mitlesender Wachen und Verfolgungsbehörden nicht allein zum Selbstschutz, sondern auch zum Schutz seiner Adressaten häufig mit Andeutungen arbeite (vgl. 29.75 u. ö.). Vor diesem Hintergrund erklärt S. z. B. das Fehlen einer näheren Schilderung der Haftsituation (vgl. 97) und namentlicher Grüße (vgl. 308).

Der Kommentar besticht durch seine hohe Detailliertheit. Hierzu zählen die breite Darlegung in der Forschung vertretener Auslegungsoptionen zu sämtlichen umstrittenen Stellen, die umfangreiche Anführung jüdischer und paganer Quellen zur Erhellung des Hintergrunds einzelner Aussagen, Motive und Termini sowie die Berücksichtigung der Textentwicklung in den biblischen Handschriften. Auf einzelne für das Verständnis des Briefs zentrale Themen (religionsgeschichtlicher Hintergrund von Phil 2,6–11, Funktion von Gesandtschaften u. a.) wird in insgesamt 18 Exkursen ausführlich eingegangen. Der Kommentierung vorangestellt ist eine umfangreiche Einleitung zu den historischen Hintergründen und zur Entstehung des Briefs. S.s Kommentar stellt auf diese Weise ein Kompendium zum Philipperbrief dar, welches für die weitere Forschung unverzichtbar sein dürfte.

Den üblichen breiten Raum nimmt auch in diesem Kommentar die hoch umstrittene Frage nach Herkunft, religionsgeschichtlichem Hintergrund und Verständnis des sogenannten Philipperhymnus (Phil 2,6–11) ein. S. plädiert für eine vorpaulinische Herkunft, wobei sie insbesondere auf die für Paulus ungewöhnliche Terminologie verweist (vgl. 156). Ein einzelner religionsgeschichtlicher Hintergrund lasse sich nicht aufzeigen. Der Hymnus reflektiere hingegen »vielfältige Einflüsse aus seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt« (167). Ein ethisches Verständnis lehnt S. für das Traditionsstück sowie für dessen paulinische Verwendung ab. Sein Zweck sei vielmehr die Vergegenwärtigung des »Heilsereignis[ses], das die Welt, Zeit und Gemeinde grundlegend verändert hat« (181).

Bezüglich des in der Forschung ebenfalls breit diskutierten his-torischen Hintergrunds von Phil 3,2–21 rechnet S. nicht mit der Möglichkeit, aus den knappen Angaben eine oder mehrere Gegnerfronten rekonstruieren zu können (vgl. 258). In diesem Briefabschnitt sieht S. das Fragment eines Abschiedsbriefs, in welchem Paulus seinen Lebensweg im Stile einer »weisheitliche[n] Christusbiographie« (244) schildere und zu deren Nachahmung aufrufe (vgl. 248–251). Paulus orientiere sich dabei »an der Biographie des idealen Weisen aus der jüdischen Weisheitstheologie« (243).

An einigen Punkten wirft die Kommentierung Fragen auf, die jedoch nicht zuletzt zur weiteren Diskussion der von S. vertretenen Sichtweisen anregen:

1) Die Annahme, der inhaftierte Paulus berücksichtige die Gefahr möglicher Postkontrolle, eröffnet neue, erwägenswerte Überlegungen zum Verständnis einzelner Stellen, z. B. zur allenfalls andeutenden Schilderung der Haftsituation in Phil 1,12–18. Zu fragen wäre jedoch, wie sich die Verwendung von politischer und militärischer Terminologie sowie von Wettkampfmetaphorik in 1,27–30 hierzu verhält, desgleichen die Bezeichnung des Gemeindegesandten Epaphroditus als »Mitkämpfer« (συστρατιώτης/sustratiotes [2,25]) und die Rede von einer »Bürgerschaft in den Himmeln« (πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς/politeuma en ouranois), von wo ein Retter gesandt werde (3,20). Dürfte Paulus hiermit nicht ein erhebliches Risiko eingehen, eine Reaktion der Verfolgungsbehörden auszulösen? S. geht bei der Auslegung der betreffenden Stellen nicht auf dieses Problem ein.

2) Zuweilen stellt sich die Frage, ob von S. abgewiesene Auslegungen tatsächlich im Widerspruch zur von ihr favorisierten Auslegung stehen. S. versteht die Aufforderung »führt euer (Bürger-)Leben gemäß dem Evangelium Christi« (ἀξίως τοῦ εὐαγγελίου τοῦ Χριστοῦ πολιτεύεσθε/axios tou euangeliou tou Christou politeuesthe [1,27]) als »nach innen gerichtete Aufforderung zu bürgerschaftlichem und regierendem Handeln innerhalb der Gemeinde« (131) und übersetzt diese mit »regiert euch in einer dem Evangelium Christi würdigen Weise«. Schließt dies aber die Mahnung zu einem Verhalten, welches sich »gegenüber der städtischen Öffentlichkeit in Philippi und seiner Mutterstadt Rom« (131) abgrenzt, aus? Kann eine sich in einem anderen Verhalten ausdrückende Abgrenzung nicht vielmehr ein Aspekt der im Sinne S.s verstandenen Aufforderung sein? Eine ähnliche Anfrage ergibt sich beim Verständnis von kenodoxia (leerer Ruhm, Prahlerei) in Phil 2,3. S. lehnt eine kritische Bezugnahme des Paulus auf die in Philippi inschriftlich breit belegte Bedeutung von Status und Ehre ab und verweist demgegenüber auf die Verwendung des Begriffs innerhalb des antiken Eintrachtsdiskurses (vgl. 142 f.). Auch hier wird der Gegensatz nicht hinreichend deutlich. Es ist unklar, warum Paulus den Begriff nicht dem Eintrachtsdiskurs entnehmen sollte mit dem Ziel, diesen einer potentiell der gemeindlichen Eintracht abträglichen Haltung in Philippi entgegenzustellen.

3) Für die durch den Handschriftenbefund nicht gestützte These, bei Phil 4,8.9a handle es sich um eine Glosse, führt S. u. a. an, der Tugendkatalog (V. 8) bleibe anders als die Kataloge in Gal 5,22 f. und 2Kor 6,6–8 »ohne biblisch geprägte Begriffe« (277) und »gleich[e] in Form und Inhalt Tugendlisten aus der ›populären Moralphilosophie‹« (277). Die Frage, ob diese Auffälligkeit mit Paulus’ eventuell sogar ausnahmslos heidenchristlichen Adressaten in Philippi erklärbar sein könnte, bleibt unberücksichtigt.

Bei der zentralen Frage nach einem ethischen Verständnis von Phil 2,6–11 sieht der Rezensent seine eigene Position unzutreffend wiedergegeben. Die Aussage, »der Hymnus begründe an keiner Stelle die Ermahnungen im Kontext« (180), geht daran vorbei, dass der Hymnus dem Rezensenten zufolge die Mahnungen im Kontext zwar nicht soteriologisch, aber sehr wohl ethisch begründet (vgl. Heiko Wojtkowiak, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt [FRLANT 243], Göttingen 2012, 292).

Ungeachtet obiger Anfragen legt S. einen Kommentar vor, der als detailliertes Kompendium zum Philipperbrief in Zukunft eine große Rolle spielen und die Diskussion um das Verständnis des Briefs einschließlich einzelner Stellen befruchten wird. Wie in der Reihe »Handbuch zum Neuen Testament« üblich, ist der Kommentar in edler Leinenbindung sowie als günstigere Ausführung in fadengehefteter Broschur erhältlich.