Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2022

Spalte:

801–804

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan [Hg.]

Titel/Untertitel:

Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neuformulierung der »Gegnerfrage« jenseits des Historismus. Unter Mitarbeit v. D. Blauth.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. XVI, 509 S. m. 3 Tab. = Beyond Historicism – New Testament Studies Today, 1. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783506760333.

Rezensent:

Günter Röhser

Dies ist der erste Band einer neuen Buchreihe mit dem programmatischen Titel »Beyond Historicism – New Testament Studies Today«. Dementsprechend beginnt er mit einem Vorwort der Reihenherausgeber, auf welches ein Vorwort des Bandherausgebers folgt. Zwei theoretische Grundlegungen zu den Stichworten »Gegnerfrage«, »Konfliktforschung« und »Antagonismen« von Stefan Alkier und Eckart Reinmuth schließen sich an. Den Hauptteil des Buches bilden 15 Fallstudien zu Antagonismen in der neutestamentlichen Briefliteratur, den synoptischen Evangelien und Apostelgeschichten (der Plural soll die apokryphen Apostelerzählungen mit einschließen) sowie dem Corpus Johanneum. Abgeschlossen wird das Werk, das aus einer Tagung des Projekts »Positionierung durch Schrift« hervorgegangen und durch einige weitere Studien ergänzt worden ist, durch ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, Sachregister und Bibelstellenverzeichnis.

Die angestrebte Überwindung des »historistischen« Paradigmas bedeutet vor allem zweierlei: den Primat des kritisch-philologisch analysierten Textes vor der Geschichte und damit das Aufsuchen von Konflikten nicht hinter, sondern in den Texten, sowie den Abschied von vorgefertigten Geschichtsbildern und ihren zumeist dichotomisch und binär angelegten Makrokonflikterzählungen. Alkier nennt hier vor allem die klassischen Gegensatzbildungen von »Judentum« und »Christentum«, »Judenchristen« und »Heidenchristen«, »Christentum« und »Imperium Romanum« sowie »Häresie« und »Orthodoxie« (vor allem Letztere bestimmt unter dem Stichwort der Problematik von »Irrlehrern« die »historis-tische« Behandlung der »Gegnerfrage«) und fordert einen wesentlich differenzierteren Zugang – zumindest eine Unterscheidung »zwischen agonistischen und antagonistischen Konflikten, zwischen Gegnern und Feinden und zwischen Konflikten zwischen Akteuren und solchen zwischen Werten, Ängsten und Begehren« (37) – sowie ein Bewusstsein davon, dass die Texte und ihre Interpretation selbst ein Teil der Geschichte (des Austrags und der Bearbeitung von Konflikten) sind.

Zur theoretischen und zugleich interdisziplinären Fundierung werden durch das ganze Buch hindurch – neben den von Alkier auch früher schon verwendeten semiotischen Konzepten von »Diskursuniversum« und »Enzyklopädie« – die »Konstellationsforschung« (Dieter Henrich) mit ihrer »dichten Beschreibung« von Problemzusammenhängen statt Entwicklungsgeschichten sowie der von Reinmuth dargestellte (und kritisch rezipierte) politiktheoretische Ansatz von Chantal Mouffe herangezogen. Letzterem entstammen vor allem die wichtige Unterscheidung von »Gegnern« und »Feinden« sowie die Einsicht in den »politischen«, d. h. machtförmigen Charakter aller gesellschaftlichen Diskurse – also auch jeder Bibelauslegung.

Wie sieht nun diese Neuformulierung der Gegnerfrage aus und was kann sie konkret leisten? Beginnen wir mit einigen Fallbeispielen: Tobias Nicklas sieht den 2. Thessalonicherbrief in einem kontrovers geführten Diskurs um die Bestimmung von Zeit und kann ihm so theologische Relevanz abgewinnen (105: »Neubestimmung der Gegenwart«), ohne die hinter 2,2 stehende Gegnergruppe oder die einzelnen Größen des »eschatologischen Fahrplans« von 2,3–10 identifizieren zu müssen. Korinna Zamfir kann zeigen, dass der Verfasser des 2. Timotheusbriefes die Zeichnung von Anhängern und Gegnern des (Pseudo-)Paulus sowie von »shared values« einerseits, »antagonistic relationships« andererseits dazu benutzt, eine eigene Gruppenidentität zu konstruieren, ohne dass man daraus weitreichende Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verhältnisse seiner Zeit ziehen kann (163). In ähnlicher Weise zeigt Dominic Blauth – unter dessen Mitarbeit der gesamte Band entstanden ist –, dass für die Verfasser der Johannesbriefe (ausgelegt werden vor allem Mikrotexte aus dem 1. Johannesbrief) zentral »nicht die Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Feinden, sondern der Fortbestand des ›Wir‹« ist (370), und spricht von einer zeitübergreifenden identitätsstiftenden Funktion der Texte (382). Die Fruchtbarkeit des Ansatzes zeigt besonders schön der Beitrag von Anni Hentschel, der sogar noch über die Frage nach Antagonismen hinausführt, indem die Vfn. die angebliche Zusammenhangslosigkeit des Jakobusbriefes als einen häufigen »Perspektivwechsel« (213) zu verstehen lehrt, der den Lesenden – insbesondere in der Sachfrage von »Armut« und »Reichtum« – ein eigenes Urteil abverlangt und das letzte Wort Gott selbst überlässt.

Vor allem aber leitet der skizzierte Ansatz zu einer genaueren Wahrnehmung der in den Texten vorliegenden Konfliktkonstellationen an und führt so zu überraschenden Entdeckungen und Neuansätzen: Michael Rydryck geht es um eine differenzierte Darstellung der Konfliktpraktiken des Paulus, wie sie »im Habitus seines Schreibens als Konfliktschriftsteller« erkennbar werden (75), und kann Strategien der Eskalation (Gal 1–2, Phil 3), der Deeskalation (1Kor 8–11), der Konfrontation (2Kor 10–13), der Mediation (Phlm; die Ausführungen zur »Sklavenflucht des Onesimus« sind allerdings nicht auf der Höhe der Forschung) und der Transformation (Röm 9–11) unterscheiden. Jisk Steetskamp beschreibt antagonistische Verhältnisse (und deren – unvollkommene – Überwindung) im Hebräerbrief und fordert ein Ernstnehmen des Widerspruchs »zwischen levitischer Theologie und dem Anliegen des Hebräerbriefs«, ohne »in alte Harmonisierungsreflexe oder die hergebrachte Herabsetzung des Alten Testaments« zurückzufallen (187). Eindrucksvoll zeigt Reinhard von Bendemann, dass der Befund zur Gegnerfrage im Markusevangelium »sehr viel komplexer ist, als es das Postulat der Rom-Antagonistik« annehmen kann (229). Es gilt viel deutlicher als bisher zu unterscheiden zwischen dem markinischen »Erzählbild« und den tatsächlichen »historischen Gruppierungen«, deren Identität in Teilen überhaupt erst aus dem Evangelium entnommen ist. »Markus schreibt an der Geschichte des antiken Judentums mit.« (240) Der schärfste Antagonismus findet sich bezeichnenderweise »im Blick auf die Desiderate der Jüngerschaft« (247; vgl. Petrus = Satan). Kristina Dronsch kann hier unmittelbar anschließen: Der »gemeine« (im Sinne von »gewöhnliche«) Antagonist Judas ist »der Parasit am Tische Jesu, der die Frage wachhält: Bin ich es?« (259, unter Bezug auf Michel Serres’ Analyse parasitärer Verhältnisse). Störungen und Antagonismen sind nicht das ausgeschlossene Andere, sondern ein Grundelement der bestehenden gemeinschaftlichen Ordnung, ja des Evangeliums selbst. Ähnlich komplex, wenn auch in anderer Weise, stellen sich die Gegensatzbeziehungen im Matthäusevangelium dar. Michael Schneider sieht, dass die wesentlichen Konfliktgegenstände »messianische Würde Jesu als Immanuel« und »Vollmacht zur Schriftauslegung« »primär innerhalb der matthäischen Textpragmatik entwickelt« werden und deshalb »nicht vorschnell auf realhistorische Situationen zur Zeit der Abfassung übertragen werden« sollten (290). Schon gar nicht gibt es die »religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes« als einheitliches Gegenüber (»single character«) Jesu (272 f.). Entgegen der üblichen Auffassung sieht Schneider (im Anschluss an Alkier) keinen »prinzipielle(n) Widerspruch zwischen Mt 23 und dem Gebot der Feindesliebe in Mt 5« (276), da Letzteres nicht auf eine Überwindung der Feindschaft ziele, sondern sie vielmehr als bleibend gegeben voraussetze. Als »Antagonismen« in den apokryphen Apostelakten identifiziert Tobias Nicklas den Konflikt mit den alten (heidnischen) Kulten, zwischen Autoritätsansprüchen, die sich aus unterschiedlichen Ursprungserzählungen ableiten (Barnabasschriften, Pseudoclementinen) und zwischen alten und neuen Geschlechterrollen. Diese Positionierungen finden nicht nur »jenseits«, sondern zum Teil auch gegen den Kanon statt (334). Christos Karakolis zeigt in einer narrativ-kritischen Analyse, dass mit Ausnahme der Hohepriester die Einstellungen der »Juden« im Johannesevangelium »dynamisch und veränderbar« sind (401) – feindselig, zweifelnd, glaubend –, und will dies auch für die Zeit der Abfassung des Evangeliums annehmen. Am einschneidendsten sind die Konsequenzen des neuen Zugangs für die Johannesoffenbarung: Stefan Alkier sieht keinen Dualismus zwischen dem Feuersee und dem neuen Jerusalem; vielmehr sei der »unüberbietbar tröstliche Schlusssatz« 22,21 das »Kriterium für eine adäquate Interpretation des Gesamttex- tes« (443). Der Feuersee ist »eine kühne interkulturelle Metapher« (439) für den zweiten Tod, die ursprünglich aus Ägypten stammt, und gehört zur alten Erde (470). Deshalb ist auch noch »nicht entschieden …, ob Menschen in den See des Feuers geworfen werden« (446).

Der Beitrag von Mogens Müller zum lukanischen Doppelwerk fällt etwas aus der Reihe, weil er genau jene »historistische Gegnerfrage« stellt, die der Band doch eigentlich überwinden will. Immerhin wird so deutlich, dass bei einer entschiedenen Spätdatierung der Lukasschriften und der Pastoralbriefe auch deren antignostische oder antimarkionitische Stoßrichtung wieder ernsthaft ins Spiel kommt (die 314, Anm. 64 geäußerte Kritik an M. Klinghardts Modell der Evangelienentstehung trifft weniger ihn als M. Vinzent).

Vereinzelt besteht die Gefahr, dass die Konzentration auf die oppositionellen Konstellationen einer Schrift zu einer bloßen Textparaphrase gerät (vgl. Werner Kahl zum Kolosser- und Epheserbrief) oder mit einer modernen Theoriesprache unterlegt wird (Luca Ganz zu Apk 2,12–16), ohne einen wirklichen exegetischen Mehrwert zu generieren. Fragen kann man auch, wie innovativ der Ansatz wirklich ist. Denn der Primat der Synchronie vor der Diachronie ist in der Exegese längst verbreitet und anerkannt, und historische Rückfragen und Hypothesen zu Gegnern und Konflikten sollen ja (wenn auch vorsichtiger und differenzierter) weiterhin gestellt werden. So handelt es sich wohl eher um eine andere Gewichtung und Reihenfolge von methodischen Arbeitsschritten als um einen »Wendepunkt« (so Alkier, 38). Verräterisch ist ja schon, dass Reinmuth (55, Anm. 43) und Nicklas (109, Anm. 25) sich positiv auf den »Gegenspieler«-Band von M. Tilly und U. Mell beziehen, den Alkier (18 f.) als Paradebeispiel für das zu überwindende Paradigma anführt.

Dies soll jedoch nicht als grundsätzliche Kritik verstanden werden – im Gegenteil: Der gewählte Ansatz erweist sich als hermeneutisch äußerst fruchtbar und in den meisten Fällen als weiterführend. Auf weitere Bände der neuen Reihe darf man gespannt sein.