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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

748–750

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rupp, Horst F., u. Susanne Schwarz[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Lebensweg, religiöse Erziehung und Bildung. Religionspädagogik als Autobiographie, Bd. 7.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. 330 S. = Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion. NF, 9. Geb. EUR 49,80. ISBN 9783826071836.

Rezensent:

Ulrike Witten

Die 1989 von Rainer Lachmann und Horst Rupp begonnene Tradition, Religionspädagogik als Autobiographie darzustellen, wird im 2020 erschienenen Band von Horst Rupp und Susanne Schwarz fortgeführt. Im sechsten Band kommen deutschsprachige Vertreterinnen und Vertreter des Fachs zu Wort, die zwischen 1953 und 1961 geboren sind. Dies sind mehrheitlich evangelische und katholische sowie mit Daniel Krochmalnik ein jüdischer Wissenschaftler. Insgesamt geben achtzehn namhafte Religionspädagogen bzw. Religionspädagoginnen in autobiographischen Texten Einblick in ihr Leben, ihren Werdegang sowie in ihr religionspädagogisches Nachdenken und Wirken, das zuletzt institutionell an Universi-täten sowie am Comenius-Institut verortet ist bzw. war.
Die Beiträge selbst sind fesselnd: Es ist nachzulesen, wie persönliche und berufliche Biographien sich entwickelt, wie Kinder ihre von der NS-Zeit geprägten Herkunftsfamilien wahrgenommen ha­ben, welche Bedeutung verschiedenen religionspädagogischen Lernorten im eigenen Lebenslauf zukam (wobei der Religionsunterricht bei vielen eher eine untergeordnete Rolle spielt), wie die Chancen der Bildungsexpansion genutzt wurden, wie auf manchem Umweg der Weg zur wissenschaftlichen Religionspädagogik gefunden wurde, welche Wegmarken sowie Begleiter es gab, wie Themen wahrgenommen und bearbeitet wurden und wie rückblickend Gelingen und Scheitern interpretiert werden. Doch der Band ist mehr als eine Ansammlung autobiographischer Narrationen, die eint, dass die Erzähler und Erzählerinnen in der Religionspädagogik beruflich tätig waren. Er lässt diese Phase der wissenschaftlichen Religionspädagogik sehr gut nachvollziehen, spiegelt sich doch hier die Forschungsgeschichte wider und wird kontextuelle Theoriebildung – auch als Netzwerkgeschichte – nachvollziehbar.
Die Beiträge umfassen jeweils eine tabellarische Kurzbiographie, eine Narration zur Herkunft und zum Werdegang sowie eine Auswahlbibliographie. Trotz eines erkennbaren gemeinsamen roten Fadens bleibt dennoch ausreichend Raum für die Darstellung und Deutung der individuellen Lebensgeschichte. Und hierin liegt auch ein besonderer Reiz der Beiträge: Sie arbeiten keine Kriterien ab, die vermeintlich klassischerweise zu einem akademischen Lebenslauf gehören, sondern stellen jeweils biographische Reflexionen dar, die eine Auswahl treffen, was erzählt oder nicht erzählt wird, die unterschiedliche Botschaften transportieren und offenlegen, was Religionspädagoginnen und -pädagogen motiviert und umgetrieben hat. Insgesamt stellt sich der Eindruck einer »lebenssatten« Religionspädagogik ein. Zugleich gehen die Autobiographien über die wissenschaftliche Religionspädagogik in wohltuender Weise hinaus, so dass die Beiträge auch als Milieustudien gelesen werden können, die von einem Kind von Holocaust-Überlebenden, über »katholische Arbeitermädchen vom Lande« bis zur Situation von Christen in der DDR reichen. In ihrer Gesamtheit liefern die Beiträge hochinteressante Innenperspektiven zur Heterogenität der jeweiligen Herkunftsmilieus.
Eine weitere inhaltliche Klammer entsteht durch die gehaltvolle Einführung von Rupp und Schwarz. Unter der Annahme, dass die gesellschaftlichen Strukturen die Biographien prägen, reflektieren sie das »Jahr 1961 und seine Folgen für die Religionspädagogik in Ost und West«, d. h. die religionspädagogischen Entwicklungen sowie ihre Spezifika in beiden deutschen Staaten sowie die Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein. Ausgehend vom Befund, dass die Geschichte der »wechselseitigen Beeinflussung« zwischen ost- und westdeutscher Religionspädagogik noch weiter zu erforschen wäre, referieren Rupp und Schwarz Wegmarken und Entwicklungen. Besonders weiterführend ist der Vergleich, wie sich die unterschiedlichen Rahmenbedingungen auswirken, welcher in der Diskussion mündet, ob die Geschichte der Religionspädagogik in Ost und West getrennt oder verbunden dargestellt werden sollte. Dass anschließend der diskursive Transfer, aber auch fehlende Rezeptionen, dargestellt werden, lässt sich als Plädoyer für eine verbindende Darstellung verstehen, die Leerstellen nicht ausspart und um die Komplexität der Wechselbeziehungen weiß. Erhellend ist für die Diskursgeschichte, dass »ostdeutsche« Themen, die in der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie nach 1989 verhandelt wurden, nachgezeichnet werden und vier Phasen zur Gliederung der Forschungsgeschichte (Aufruhr, Kennenlernen, Entwicklung und Gespräch) vorgeschlagen werden. Das abschließende Plädoyer für »eine gleichberechtigte, selbstverständliche und symmetrische Teilhabe und Partizipation am religionspädagogischen Diskurs« ist nur zu unterstreichen.
Mit dem Einleitungsartikel liegt eine plausible Felderöffnung vor und in den sich anschließenden biographischen Reflexionen wird fraglos deutlich, wie gesellschaftliche Strukturen prägend sind. Während die Herausgeberin und der Herausgeber eine deutsch-deutsche Geschichte der Religionspädagogik stark ma­chen– was sich in nicht wenigen Biographien auch widerspiegelt, in denen die Überwindung der Teilung zu neuen Möglichkeiten und veränderten Rahmenbedingungen führt –, sind doch auch weitere bedeutsame Strukturen festzustellen, wie z. B. die Bildungsexpan-sion, die Befreiungstheologie sowie der religiös-gesellschaftliche Wandel. Diese Einflussfaktoren könnten in einem der zukünftigen Bände als relevante Kontextfaktoren reflektiert werden.
Das Buch ist von großem Interesse für alle, die sich erstens für Wissenschaftsgeschichte in den Bereichen Pädagogik, Theologie und angrenzenden Fächern, für Geschichte in Geschichten, für Einblicke in historische Milieus, Geschlechtergeschichte und Diskursgeschichte begeistern lassen. Zweitens sei dieses Buch – wie seine Vorgänger – denjenigen zur Lektüre empfohlen, die in das Feld der wissenschaftlichen Religionspädagogik einsteigen. Denn in den Autobiographien wird die jüngere Geschichte der Religionspädagogik viel anschaulicher nachvollziehbar, als wenn man im Proseminar Namen und damit verbundene »Ansätze« kennenlernt. Der Gewinn geht jedoch weit über eine bloße Anschaulichkeit hinaus, denn gut zu erkennen ist außerdem, welchen »Sitz im Leben« Fragestellungen haben, wie Wissenschaft miteinander vernetzt, Theoriebildung kritisch-konstruktiv aufeinander bezogen ist und wie Religionspädagogik sich von interdisziplinären Theoriebildungen bereichern lässt. Drittens führen die Beiträge vor Augen, wie Herkünfte und Standorte Forschungsfragen mitbestimmen, und sind daher ein wertvoller Beitrag für eine Religionspädagogik, die den jeweiligen Kontext reflektiert. Dem sorgfältig lektorierten Band sei daher eine breite Leserschaft – auch über die Religionspädagogik hinaus – gewünscht.