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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

746–748

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Meyer, Karlo

Titel/Untertitel:

Religion, Interreligious Learning and Educa-tion. Ed. and revised by L. Ph. Barnes.

Verlag:

Berlin u. a.: Peter Lang 2021. 330 S. m. Abb. u. Tab. Kart. EUR 49,95. ISBN 9783631836194.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

Karlo Meyer, Professor an der Universität des Saarlandes und Nes-tor der Literatur zum Interreligiösen Lernen, hat bereits zahlreiche, theoretisch untermauerte Materialien für Interreligiöses Lernen innerhalb und außerhalb der Schule vorgelegt. Und nun präsentiert er ein Grundlagenwerk zum Interreligiösen Lernen. Sein Forschungsdesign verläuft also von der Praxis zur Theorie und nicht, wie leider oft akademisch versucht, von der Theorie zur Praxis. Das macht ihn so glaubhaft und überzeugend. Studierende, Religionslehrkräfte, Eltern und Religionsgemeinschaften erhalten hier eine höchst individuelle und eigensinnige Sicht Interreligiöser Bil-dung, die sich von traditionellen Weltreligionen-Konzepten und auch von neueren schülerorientierten Entwürfen abhebt und neue Wege geht.
In fünf Sektionen möchte M. Religionspädagogen bzw. -pädagoginnen zum Interreligiösen Lehren und zu Interreligiöser Kompetenz motivieren: In einer 1. Sektion (1. und 2. Kapitel) be­schreibt er die Natur und das Wesen von Religion. Die 2. Sektion (3. Kapitel) widmet sich der Frage nach der Wahrheit Theologischer Traditionen. Die zentrale 3. Sektion (4. und 5. Kapitel) beschreibt vier Idealversuche, sich interreligiös den Religionen zu nähern. In der 4. Sektion (6. und 7. Kapitel) geht es um die Schüler und deren Erfahrungen mit Fremdheit, Ambiguität und Perspektivwechsel. Und in der 5. Sektion (8. Kapitel) präsentiert er konkrete Unterrichtsideen.
Man spürt es auf jeder Seite: Die Schüler und Schülerinnen sollen die Fremdheit religiöser Traditionen (er meidet das Wort »Religion«, weil es Geschlossenheit suggeriere, benutzt es widersprüchlicherweise im Titel seines Buches aber selbst) anerkennen und trotzdem einen Zugang zu ihnen finden. Sie sollen Überschneidungsbereiche von Religionen erkennen und trotzdem jeder Religion das Ihre überlassen. Und sie sollen ihre eigenen Positionen klären und trotzdem vom Fremden lernen.
In der I. Sektion »Nature of Religion« and »Hermeneutical con-siderations« betont er immer wieder, dass Christentum, Islam, Hinduismus u. a. keine geschlossenen Blöcke seien, sondern Konglomerate von Glaubens-, Transzendenz-, Heiligkeits- und Ritualerfahrungen. Überall würden Schülern religiöse Traditionen be­gegnen – bei Städten- und Straßennamen, im Jahreszyklus, in Nachrichten, im Schulunterricht, im Stadtbild usw. Das habe pädagogische Konsequenzen: »In the context of education […] this means, that unfamiliar religious traditions are not experienced ›openly‹ or ›neutrally‹ by pupils, but instaed are embedded in multi-layered contexts« (60). Diese Vielheit müsse interreligiös erarbeitet werden.
In der II. Sektion »Theology and Truth – the Relationship of Religious Traditions« fährt M. eine Überraschung auf: Er bricht mit der bekannten Unterscheidung zwischen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus! Warum? Weil diese Dreiteilung die Fremdheit anderer Religionen ignoriere: der Exklusivismus sowieso! Der Inklusivismus vereinnahme ähnliche Vorstellungen wie Schöpfung, Himmelfahrt, Auferstehung u. Ä. aus anderen Religionen. Und der Pluralismus erkenne eine Gemeinsamkeit der Religionen sowieso nur in der gemeinsamen Bezeichnung Gottes als ultimate reality an. Fremdes müsse fremd bleiben! Auch Lessings Ringparabel oder die Erzählung »Vom Elefanten und den Blinden« löse diese Fremdheit nicht auf. Außerdem seien persönliche Beziehungen in dieser Dreiteilung unberücksichtigt. Und: Religiöse Dimensionen wie Liturgie, Musik, Malerei und Architektur spielten dabei überhaupt keine Rolle.
Darin könnte man M. zustimmen. Aber erstaunlicherweise operiert er dann doch weiter mit dieser Dreiteilung. Z. B.: Manche Gläubige verstünden nur die Frage des Heils exklusiv; Schöpfung, Ewiges Leben, Offenbarung, Schriftverständnis aber eher inklusiv; und Gott sogar pluralistisch. Er bricht nicht völlig mit dieser Tradition, sondern differenziert sie nur im Sinne einer »Differenzhermeneutik«. Und das ist gut so!
Im Folgenden ruft er emphatisch dazu auf, das religiöse Vorverständnis der Lehrkräfte und der Schülerschaft zu klären: Akzeptieren sie Wiedergeburt, Nirvana, das Jüngste Gericht, das fünffache Gebet? Jeder solle, so M., seine eigene Religion im Perspektivwechsel mit den Augen Andersgläubiger sehen, im Sinne eines »Ge-genseitigen Inklusivismus«, einer »Wechselseitigen Perspektivverschränkung« und eines »Aufgeklärten Positionalismus«. Nur so könne religionspädagogisch die Vielfalt religiöser Phänomene wahrgenommen werden. Für die Wahrheitsfrage bedeute das: Bei religiöser Wahrheit gehe es nicht nur um Überprüfbares, sondern besonders um Glaubwürdiges und Erfahrbares.
In der III. Sektion »Four modes of Approaching Religious Traditions« geht es um Eingemachtes. M.s Credo lautet: Schüler bzw. Schülerinnen dürfen nicht nur Empfänger von paternalistisch vorgetragenen religiösen Vorstellungen sein, sondern sie müssten selbst interreligiös agieren: Ist ein Kopftuch geboten? Ist Wiedergeburt real zu verstehen? Müssen Korantexte geheiligt werden? Müssen Tote nach Mekka schauen? Das sollen die Schüler selbst erkunden und religionsphilosophisch diskutieren.
Dazu unterscheidet er vier Idealprofile aktiver Religionenerschließung: (1.) Religionskundliche Forscher erarbeiten die religiösen Traditionen und generieren Sachwissen; (2.) Existentielle Denker fragen nach der Lebensbedeutung dieser und jener religiösen Vorstellung; (3.) Brückenmanager versuchen trotz unterschiedlicher Vorstellungen zwischen Religionen zu kooperieren; und (4.) glokale (d. h. lokale und globale) Akteure bzw. Akteurinnen packen gemeinsame Projekte an. – Alle vier Modi ergänzen sich. Sachwissen, von existentieller Erfahrung begleitet, sei immer notwendig.
In einem großartigen pädagogischen Kapitel exemplifiziert M. diese vier Modi an Alltagsbeispielen mit ihren Anforderungssituationen. Z. B.: Gibt es eine Bergpredigt auch im Koran? Worin unterscheiden sich Channuka- und Adventsschmuck im Dezember? Wie sollte man mit Hindus über Horoskope reden? Wie sollte man einen interreligiösen Schulgottesdienst gestalten usw.? Das alles sind konkrete und theologisch durchdachte Hilfen für den Reli-gionsunterricht.
Freilich, wer M. kennt, weiß, dass er seine Ideen sofort wieder relativiert. »Blind spots« nennt er folgende Hemmschwellen: Spiritualität könne im Klassenzimmer weder praktiziert noch verstanden werden. Ferner: Unsere Kritik an anderen, meist östlichen Religionen, sei meistens westlich-aufklärerisch dominiert. Weiter: Religiösen Zeugnissen (z. B. Wiedergeburt) kann man im Klassenzimmer kaum nachspüren, weil Religion kein objektiver Gegenstand sei. Schließlich: Wir sollten Fremdes kritisieren und zugleich akzeptieren. Wirklich? Das fällt bei Sharia-Strafen wie Amputation von Gliedmaßen, bei russisch-orthodoxen Kriegsaufrufen, bei Mädchen-Beschneidung und bei Frauen-Un-terdrückung nicht nur schwer, sondern verbietet sich wegen religiöser verbrecherischer Unmenschlichkeit. Trotzdem fordert M. dazu auf, auch bei diesen Unmenschlichkeiten religionskundlich nachzufragen und die eigene menschenrechtlich-westliche Position zu hinterfragen. Das fällt, wie ich gestehe, schwer. Aber es muss wohl sein.
In der IV. Sektion »Experiences with unfamiliarity, ambiguity and the ability to shift perspektives« wird M. wieder praktisch. Er fordert Religionspädagogen auf, in Schülern und Studierenden ein »Ambiguitätsmanagement« aufzubauen. Das bedeute, das Fremde trotz seiner Nähe auszuhalten: z. B. den Muezzinruf von nebenan, die Gottesnamen »Allah, Gott, Yahweh« im Freundeskreis, die unterschiedlichen religiösen Feste u. a. positiv ertragen! Anschaulich buchstabiert er, wie Schüler und Schülerinnen als Religionsforscher, Existentielle Denker, Brückenmanager oder glokale Ak­teure mit solcher Fremdheit umgehen könnten.
Und schließlich »Perspektivenwechsel«: Wie hört ein Muslim das Glockengeläut und ein Christ den Muezzinruf auf Arabisch? M. baut beim Interreligiösen Lernen auf Perspektivwechsel. Bis ins Detail referiert er Robert Selmans fünf Stufen der Entwicklung zur Fähigkeit eines Perspektivwechsels im Lebenslauf, mit detaillierten Angaben der Altersniveaus. Ich staune ein wenig, dass er trotz der öffentlichen Kritik an Selman so intensiv daran festhält. Er braucht es, weil er wieder die oben genannten vier Idealprofile auf diese Perspektivwechsel-Entwicklung bezieht und gleichzeitig auch noch Streibs Entwicklung von Stilen Interreligiöser Begegnungen referiert. Vielleicht geht er hier etwas zu schematisch und tabellarisch vor?
In seiner letzten V. Sektion »Double individual referentiality« fordert der Nestor Interreligiöser Bildung von jedem/jeder interreligiösen Erzieherin und Erzieher: Beachtet nicht nur eure Schülerschaft, sondern auch die Religionsangehörigen, die ihr behandelt! Bringt keine Fotos von Kippa, Kopftuch, Pessachgeräten, Abendmahlsgeräten usw. in musealer Form, sondern stellt das alles im Prozess ihres Gebrauches dar! Und ladet Personen der anderen Religionen ein – die freilich auch nur einen Teil ihrer Religion abbilden können. Sie seien Türöffner und zugleich Fremdheitsmarkierer. Der Ruf M.s ist eindringlich und sollte lange gehört werden!
Das Buch beschreitet einen neuen Weg interreligiöser Bildung. Es fordert Lehrkräfte und Schülerschaft auf, als religionskundliche Forscher, als existentielle Denker, als Brückenmanager und/oder als glokale Akteure zu agieren. Freilich kann man noch weitere Idealprofile interreligiösen Lehrens und Lernens hinzufügen, z. B. Finder und Erfinder religiöser Ideen, Beter und Anbeter oder auch Religionskritiker. Aber alle Profile sollten dem Ziel dienen, Fremdes in der Nähe fremd zu lassen und vertraut zu machen. Dieses großartige englische Buch soll den angelsächsischen Raum erobern und Interreligiöses Lernen und Lehren weltweit verbreiten. Dank sei Karlo Meyer.