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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

730–732

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zhou, Xiaolong

Titel/Untertitel:

Religionsbegründung ohne Erkenntnis Gottes.

Verlag:

Die metaphysischen Grundlagen der kantischen und schleiermacherschen Religionsphilosophie im Vergleich. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2022. 285 S. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783772087677.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Die bei Johannes Brachtendorf an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen erstellte Dissertation versteht sich als Korrektur der nach wie vor nicht nur in der katholischen Tradition vertretenen Sicht, der theologische »Agnostizismus« der »von Kant und Schleiermacher beeinflusste[n] Theologie« hätte zu einer »Umdeutung des Handelns Gottes extra nos in ein nur noch pro me erfaßbares Handeln« (Karl-Heinz Michel) geführt (14). Xiaolong Zhou will zeigen, dass die Gründung der Religionstheorie »auf die Subjektivität« nicht heißt, dass sie »rein subjektiv« sei, »ohne irgendein Objekt zu treffen« (15). Zwar werde die »Gewissheit der Existenz Gottes nicht in der Natur und in der Geschichte«, sondern nur in der Subjektivität gesucht, aber Gott sei für Kant und Schleiermacher nicht »nur eine menschliche Schöpfung« (16). Die von Kant behauptete Unerkennbarkeit Gottes stelle nicht Gottes Wirklichkeit in Frage, und auch Schleiermachers Gefühlstheorie sei zwar »subjektiv«, aber Gott spiele »eine wichtige Rolle in diesem Gefühl« (16). Das klingt vage, aber die Intention des Vf.s ist deutlich: Bezug auf Subjektivität ist etwas anderes als Subjektivismus. Da hat er recht.
In einem ersten Teil A untersucht der Vf. dementsprechend »Kant: Moral als Zugang zu Gott« (23–131). Seine These ist, dass Kant zwar die theoretische Unerkennbarkeit Gottes vertrete, die Gewissheit der Existenz Gottes werde bei ihm aber moralisch gesichert. Ohne die »Ideen von Gott kann man weder die Welt noch die Religion noch die Moral verstehen. Ob sich Gott eigentlich oder an sich so verhält, kann der endlich vernünftige Mensch nicht feststellen.« (131) Das ist zwar nicht falsch, aber unscharf formuliert. Es geht nicht um »Ideen von Gott«, sondern um die Idee Gottes, und es geht auch nicht darum, die Existenz Gottes, sondern die Gewissheit der Existenz Gottes moralisch zu sichern. Kants These von der theoretischen Unerkennbarkeit Gottes verwirft den neuzeitlichen Theismus, setzt aber eine alte Tradition negativer Theologie fort. Und seine Verortung der Moraltheologie vor die Physikotheologie gründet in seiner Sicht der Zentralstellung der Freiheit, wie der Vf. richtig sieht, ohne deren Berücksichtigung man das menschliche Leben nicht zureichend verstehen und Gott nicht als lebendigen Gott denken kann.
Teil B analysiert »Schleiermacher: Gott ist mitgesetzt im Selbstbewusstsein« (133–238). Der Vf. betont, dass die Existenz Gottes für Schleiermacher »ein unzweifelhaftes Faktum ist« (236). Nicht die Gewissheit der Existenz Gottes sei für ihn das Problem, sondern »wie man diesen unzweifelhaft existierenden Gott erkennen kann« (236). Zwar gelinge es ihm, mit Hilfe der Philosophie Spinozas die kantische Philosophie zu überwinden und »die Idee eines lebendigen und tätigen Gottes« zu erhalten, aber diese Idee bleibe »doch eine Spekulation über Gott« (237), weil sich alle »Eigenschaften Gottes […] nicht auf Gott an sich« beziehen, sondern »bloß Ableitungen aus dem Abhängigkeitsgefühl bzw. dem Gottesbewusstsein« sind (238). Wieder ist das Problem unscharf gefasst. Der Vf. liest die §§ 4 und 9 der Einleitung zur Glaubenslehre als eigenständigen Traktat einer »transzendentalen philosophischen Begründung der Frömmigkeit« (227), also des Bewusstseins, in Beziehung mit Gott zu stehen, und beachtet nicht, dass es um etwas geht, das nach Schleiermacher zwar im konkreten religiösen und besonders christlichen Glaubensleben stets mit- und vorausgesetzt ist, aber eben nicht abstrakt als solches, sondern nur konkret im Leben des Glaubens als Wirklichkeit fassbar und als Gott bestimmbar ist. Jedes Wissen von Gott schließt das Wissen ein, dass ich mich nicht selbst ins Dasein gebracht habe. Aber das kann man wissen, ohne von Gott etwas zu wissen und ohne zu wissen, dass man damit etwas weiß, was zum Wissen von Gott gehört.
Auch der abschließende Vergleich der »metaphysischen Grundlagen der kantischen und schleiermacherschen Religionsphilosophie« in Teil B (239–271) bleibt daher vage. Kant habe Gott »in die Welt der Noumena verschoben«, Schleiermacher habe das übernommen und präzisiert, »dass Gott das einzige Noumenen« sei (241). Kants Problem sei gewesen, Gott zwar denken, aber Gottes Existenz nicht erweisen zu können. Er sei daher in einem »symbolische[n] Anthropomorphismus« stecken geblieben (252). Schleiermacher dagegen habe gezeigt, dass es keiner Gottesbeweise bedürfe, weil »die Existenz Gottes im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl unmittelbar gesichert« sei (255). Sein Problem sei, dass er kein wirkliches Wissen von Gott kenne und keinen Grund biete, warum das im schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstsein »mitgesetzte X« Gott sein soll (256–260). Der Vf. bringt das auf den Gegensatz zwischen Kants »Moral-Physikotheologie« und Schleiermachers »Be­wusstseins-Kosmologie« (261). Ein radikaler Agnostizismus liege daher nur bei Schleiermacher, nicht aber bei Kant vor. Dieser habe die Bedeutung der Analogie für die Bestimmung des Gottesgedankens erkannt, Schleiermacher dagegen nicht. Und der Vf. schließt, »dass die aposteriorische Religionsbegründung ohne ein gewisses vorausgesetztes (und apriorisches) Wissen um Gott in die Aporie geraten muss, unabhängig davon, ob dieses Wissen theoretisch oder praktisch ist« (271).
Das hatte schon Schelling präziser gefasst. Das Gottesverhältnis ist weder nach Art des Weltverhältnisses als Objekt des Wissens noch nach Art des Selbstverhältnisses als Subjekt des Wissens zu fassen. Es ist vielmehr ein Grundverhältnis sui generis, ohne das es kein Weltverhältnis (nichts Reales) und kein Selbstverhältnis (nichts Ideales) gäbe, das aber selbst weder eine Version des einen noch des anderen, sondern der unvordenkliche Grund der Einheit (Ungrund) und der Differenz (Ur-Teilung) beider ist. Man kann deshalb um seine Wirklichkeit wissen, ohne sie als Wirklichkeit Gottes zu kennen. Die Rede vom »Wissen um Gott« bleibt dunkel, wenn sie nicht im Licht dieser Unterscheidung präzisiert wird. Die Wirklichkeit Gottes, nicht ein Wissen um Gott ist bei allem Fragen nach Gott vorauszusetzen, und diese Wirklichkeit kann man kennen, auch wenn man sie nicht Gott nennt und als Gott kennt.
Die Arbeit hat sich ein wichtiges Problem vorgenommen, aber trotz einer Reihe guter Beobachtungen, richtiger Rekonstruktionen und wichtiger Korrekturen gängiger Fehlmeinungen bleibt sie am entscheidenden Punkt unklar. Dass Kant das Wissen aufhebt, um zum Glauben Platz zu bekommen, hat mit der kritischen Aufgabe der Philosophie zu tun, die Grenzen des Wissens zu markieren. Die These von der Unerkennbarkeit Gottes ist eine Erinnerung an das, was man zwar nicht wissen, ohne das man aber nicht leben und nichts wissen kann. In diesem Rahmen ist auch das Analogiethema zu verorten.
Seine Pointe ist, das Leben zu erhellen, und nicht, trotz aller Schwierigkeiten ein Wissen von Gott zu begründen. Ähnliches gilt auch für Schleiermacher, auch wenn er das auf anderem Weg versucht, indem er zwischen der Index- oder Lokalisierungsfunktion des Bewusstseins der schlechthinnigen Abhängigkeit und dessen kultureller geschichtlicher Symbolisierung in Gottesgedanken unterscheidet. Nie geht es nur um Gott bzw. die Erkenntnis Gottes, sondern immer um die Erhellung des Lebens im Licht der Gottesfrage. Denn – und darin sind sich Kant und Schleiermacher einig – Philosophie und Theologie haben es nicht mit fragwürdigen Denkmöglichkeiten, sondern mit der Realität des Lebens und der darin mitgesetzten Wirklichkeit Gottes zu tun. Deshalb gilt – um es mit Kant zu sagen –: »Es ist durchaus nöthig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben so nöthig, daß man es demonstrire« (AA II, 163). Das erste kann man (wie Kant) im Denken am Leitfaden der praktischen Vernunft tun oder (wie Schleiermacher) in der Entfaltung des Gefühls der passiven Kontingenz des eigenen Daseins. Wer aber nur das zweite für Erkenntnis hält, wird an der Gottesfrage scheitern. Und wer nur nach einem immer schon anzunehmenden Wissen von Gott sucht, auch. Nur wenn man nicht nur vom Wissen, sondern auch vom Nichtwissen ausgeht, kommt man hier weiter. Auf beides hin und von beidem her ist die Gottesfrage zu durchdenken. Das macht auf ihre Weise auch diese Dissertation deutlich.