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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

721–722

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mattheson, Johann

Titel/Untertitel:

Behauptung der himmlischen Musik aus den Gründen der Vernunft, Kirchen-Lehre und heiligen Schrift. Im Neusatz hgg., komment. u. m. e. Nachwort versehen v. H. Böning u. E.-B. Körber.

Verlag:

Bremen: edition lumière 2021. XXIV, 186 S. m. Abb. = Presse und Geschichte. Neue Beiträge, 146. Geb. EUR 34,80. ISBN 9783948077174.

Rezensent:

Johannes Schilling

Den großen Hamburger Sänger, Musiktheoretiker, Schriftsteller, Komponisten und Diplomaten Johann Mattheson (1681–1764), den bedeutendsten deutschsprachigen Musikschriftsteller seiner Zeit, kann man getrost auch unter die bemerkenswerten Gestalten des Luthertums in der ersten Hälfte des 18. Jh.s zählen. Luther steht bei ihm hoch in Ehren: »Es wird bekannt seyn, daß er vierstimmige Gesänge componiret und herausgegeben«, schreibt er in einer An­merkung (118 § 141), er zitiert aus seinen Liedern, eine Äußerung Luthers über die Musik bietet er nach der Altenburger Ausgabe (122 § 145), allerdings nicht nach dem in der Anmerkung aufgeführten Register, sondern nach Band 8 (1662), und auch die Jenaer Ausgabe hat er benutzt (11 § 6).
Nach eigener Auskunft begann er 1748 die Bibel zum 13., 1759 zum 22. und 1762 zum 24. Mal durchzulesen (Johann Mattheson [1681–1764], Lebensbeschreibung … hg. und komm. von Hans Joachim Marx, Hamburg 1982, 102.115.120; das Handexemplar ist nicht im Nachlass) und verfasste auch religiöse Schriften; die fünfte Strophe von Heinrich Alberts Lied »Gott des Himmels und der Erden« (EG 445) zitiert er in der Fassung »Gib daß ich mit jedem Morgen geistlich auferstehen mag, und für meine Seele sorge« (102).
Die edition lumière, die schon mehrere Titel über M. veröffentlicht hat, legt mit dem Nachdruck der Ausgabe dieser Schrift aus dem Jahr 1747 eine bedeutende Quelle für das Musikverständnis und die Musiktheologie des 18. Jh.s vor. Das Werk ist in 150 Paragraphen eingeteilt, in denen M. sein Anliegen nach der Vernunft (§ 1–30), der Kirchenlehre (§ 31–71) und nach der Heiligen Schrift (§ 72–150) behandelt. Der erste Teil ist der interessanteste, hier wird grundlegend argumentiert. Hermeneutische Fragen stehen im Zentrum; das große Thema ist das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie von Schrift und Vernunft, die am sichersten gehe, »wenn sie die heil. Schrift zum Grunde leget« (11 § 7), und er streitet gegen die »unbändige Vernunft, die sich nicht unter dem Gehorsam Christi gefangen nehmen lassen will« (24 § 26). Auch auf »figürliche Redens-Arten« und das Verhältnis von res und verbum geht M. ein (§ 72). Musik gab es nach M. schon am ersten Schöpfungstag, und es ist ihm daran gelegen festzuhalten, dass »Singen und Klingen im Himmel von Anbeginn gewesen« (3) sei. In Schrift und Geschichte sei überall davon die Rede, und eine schlüssige Widerlegung dieses Sachverhaltes sei nicht möglich. Er hält »unsere Musik« für »ein Echo der himmlischen« (98 § 118). Eigenwillig (und abenteuerlich) ist M.s Unterscheidung der verschiedenen (deutschen!) Verba für vokale bzw. instrumentale Musik, die er vor allem im Psalter beobachtet und in § 107 (91) zusammenfasst, eindrucksvoll, wie er die bewegte Ruhe Gottes beschreibt (112 § 131).
Den Ursprung der Musik erkannte er, wie sein Gewährsmann Martin Luther, »primo loco in GOtt selbst / secundo in der eigentlichen Natur« (M., Das neu eröffnete Orchestre, 1713, 306), und in Übernahme des aus England kommenden Sensualismus erklärte er: »Meine Principia cognoscendi & agendi in musicis sind aus der Erfahrung durch die Sinne gekommen; meine Richtschnur ist GOttes Ehre und der Menschen Lust und Wohlgefallen; Mein Fundament ist die Natur / und mein finis, meine Absicht in der Music (als Music) ist und bleibt in Ewigkeit die Bewegung des in der Seele steckenden Sensus, des Gehörs / als des besten Richters in dieser Sache« (M., Das Forschende Orchestre, 1721, 449 f.). Entsprechend kann er auch »geistliches Gefühl« (XXII) zum Thema machen oder von »Gemüths-Sinnen« (3) sprechen. Sein Interesse richtete sich ausdrücklich auf die Melodie, deren Schönheit er nach dem Maß der menschlichen Stimme beurteilte. Man kann auch seinen Begriff der »Klang-Rede« in lutherischem Sinne verstehen. Dabei steht die Musik für M. unzweifelhaft höher als das gesprochene Wort bzw. die Predigt (42 § 36, 116 § 139 und 120 § 144 Anm.).
Vier Exemplare des Originaldrucks in Deutschland sind nachgewiesen (Berlin SBPK, Darmstadt TU, Fulda, Hamburg SUB); keines von ihnen, aber jenes in der Österreichischen Nationalbibliothek (60177-A) ist digitalisiert. Der (buchstabengetreue), weitgehend korrekte Nachdruck ist gleichwohl willkommen, nicht nur des kundigen und erhellenden Nachworts, sondern ebenso des Verzeichnisses der Werke und Rezensionen M.s (165–178) und der Sekundärliteratur (chronologisch, 178–186) wegen. Ein Namenregister fehlt. Die Kommentierung lässt dagegen Wünsche offen. Die Mischung der originalen Anmerkungen M.s mit denen der Herausgeber ist nicht glücklich; man kann sie zuverlässig nur in Ansehung des Originals scheiden. Manche Erläuterungen sind unvollständig, andere könnten professioneller geraten. Vor allem aber sind zahlreiche von M. zitierte Quellen nicht nachgewiesen, und es gibt auch einen gravierenden Missgriff: Mit dem mehrfach erwähnten »Castell.« ist nicht Johannes de Castellione OFM gemeint (so die aus Wikipedia kopierte Anm. zu § 96 u. ö.), sondern vielmehr Sebastian Castellio (1515–1563) mit seiner (lateinischen) Biblia, Basel 1551 (VD16 B 2626, online), die M. zur Hand gewesen sein muss und aus der er wiederholt korrekt zitiert (sie ist in M.s Nachlass nicht erhalten).
Dennoch: Das Buch ist abermals ein Beweis für den bereichernden Beitrag, den kleine Verlage für Wissenschaft und Forschung leisten. Eine Nachauflage oder ein E-Book könnte die kleineren Versehen und die fehlenden Nachweise unschwer, freilich doch nicht ohne einigen Aufwand an Arbeit, beheben.