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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

717–719

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Drobe, Christina

Titel/Untertitel:

Was ist der Sinn der Geschichte?Theologische Reflexionen zur Eschatologie von Paul Tillich.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XI, 321 S. = Tillich Research, 21. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110720907.

Rezensent:

Christoph Böttigheimer

Bei dem zu besprechenden Band von Christina Drobe handelt es sich um eine Habilitationsschrift, die 2017 von der Universität Tübingen angenommen und nun in die Reihe »Tillich Research« aufgenommen wurde. Wie der Untertitel bereits anzeigt, geht es nicht um die Frage nach dem Geschichtssinn schlechthin, sondern speziell um das Geschichtsverständnis Tillichs, so wie sich dieses in seinem theologischen System, genauer in seinem dreibändigen Werk »Systematische Theologie« darstellt.
Hinführend werden die Schwierigkeiten und Herausforderungen benannt, mit denen sich die gegenwärtige Geschichtswissenschaft aufgrund postmoderner und globalisierender Strömungen konfrontiert sieht: Skepsis bezüglich eines universalgeschichtlichen Verständnisses und damit verbunden eine Unübersichtlichkeit an Methoden, Theorien etc. Vergleichbare Entwicklungen (Pluralisierung, Relativierung, Dynamisierung etc.) ließen sich ebenso auf dem Feld der Identitätsbildung sowie der Religionen beobachten. Als Kehrseite dieser Pluralisierung und der Preisgabe eines universalen Sinnganzen werden eine dialektische Dynamik (Vieldeutigkeit versus Identitätsvergewisserung) sowie fundamentalistische Radikalisierungstendenzen ausfindig gemacht. In die sem Spannungsfeld wird die Untersuchung von Tillichs Ge­schichtsverständnis bzw. Eschatologie verortet, näherhin als Versuch, der Dialektik von Relativierung und Verabsolutierung bzw. Pluralisierung und Fundamentalismus durch die Vermittlung eines subjektiv-partikularen Elements mit einem objektiv-faktischen Element entgegenzuwirken.
Erarbeitet wird Tillichs christliches Verständnis der Geschichte in fünf Kapiteln. Begonnen wird mit der Frage, inwiefern die menschliche Geschichte nach Tillich als umfassendster Lebensprozess zu verstehen sei. Ausgehend von Tillichs ontologischer Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation wird sein Verständnis vom menschlichen Lebensprozess erschlossen. Bei ihm gehe es um die Aktualisierung des potentiellen Seins, um den Vollzug von Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst. Entscheidend hierfür sei die Dimension des Geistes bzw. ihre Aktua-lisierung, was wiederum Voraussetzung für die geschichtliche Dimension als die umfassendste Dimension des Lebens sei. In der Aktualisierung der geschichtlichen Dimension erlange diese ihre Eigenständigkeit. Es entstünden Geschichtsbewusstsein und Ge­schichte als der umfassendste Lebensprozess, wobei angesichts der Endlichkeit der Geschichte die Bedrohtheit durch das Nicht-Sein aufleuchte. Die Angst davor sei der menschlichen Existenz als ein essentieller Bestandteil inhärent. Aufgehoben werden könne die Spannung zwischen essentiellem und existentiellem Sein nur durch die göttliche Offenbarung, weshalb es Aufgabe der Theologie sei, existentielle Fragen des Menschseins in Korrelation zur göttlichen Selbstbekundung, d. h. zu den Inhalten des christlichen Glaubens (Symbole) zu bringen. Bezogen auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte seien solche Symbole die »Gegenwart des göttlichen Geistes«, das »Reich Gottes« sowie das »Ewige Leben«.
Christliche Symbole würden den Sinn der Geschichte explizieren und eine in die Geschichte einbrechende und sie transzendierende Antwort auf die existentielle Frage nach dem Sinn der Geschichte geben. Um dies einsichtig zu machen, werden in einem zweiten Schritt die Besonderheiten von Tillichs Geschichtsverständnis erörtert und in Korrelation zu der Frage nach dem Ge­schichtssinn gebracht. Bezogen auf die geschichtliche Dimension des Lebens und seiner Zweideutigkeit infolge von Desintegration, Zerstörung und Profanisierung erkenne Tillich das christliche Geschichtsverständnis im Reich Gottes am umfassendsten ausgedrückt. Gottes Reich könne aber nur dann eine angemessene Antwort sein, wenn es sowohl immanent als auch transzendent gefasst würde. Die geschichtliche Immanenz des Reiches Gottes und das Reich Gottes als das die Geschichte transzendierende Ziel der Geschichte werden in den beiden darauffolgenden Kapiteln näher entfaltet.
Die Frage, was es mit der geschichtlichen Immanenz des Reiches Gottes auf sich hat, wird schrittweise angegangen. Ausgangspunkt ist Jesus Christus. In ihm habe sich das Unbedingte, das Reich Gottes zentral in der Geschichte manifestiert, so dass im Christusereignis die Geschichte qualitativ, nicht aber quantitativ an ihr Ende gelangt sei. Christus sei die universale Mitte der Geschichte, in ihm sei die Entfremdung des existentiellen Seins vom essentiellen Sein überwunden. Die Aufnahme der Manifestation des neuen Seins in Jesus Christus spiegle sich in der Geschichte der Kirchen wider. Sie seien insofern als innergeschichtliche Repräsentanten des Reiches Gottes zu verstehen, als sie die Geistgemeinschaft repräsentieren würden, in der die Macht des Essentiellen gegenwärtig sei. Über die geschichtlichen Kirchen hinaus wirke das Reich Gottes auch in der Weltgeschichte, nämlich überall dort, wo die Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebensprozesses fragmentarisch überwunden werde. Zugleich weise das in der Geschichte fragmentarisch gegenwärtige Reich Gottes über die Geschichte hinaus auf das vollendete Reich Gottes hin. Dieses sei als das transzendente Ende und Ziel der Geschichte auf die Geschichte bezogen und als universale Erfüllung der essentiellen Potenzialitäten der Geschichte in ihr gegenwärtig. Dabei grenzt sich die Vfn. gegenüber der Kritik ab, Tillichs Eschatologie sei zu präsentisch. Im Zusammenhang mit der transzendenten Seite des Reiches Gottes, wo die ständige Angst des Nicht-Seins und damit alles Negative ewig überwunden sein wird, kommen die Symbole »Ewiges Leben«, »Auferstehung« und »Jüngs-tes Gericht« zur Sprache wie auch Tillichs Gottesverständnis im Blick auf Zeit, Ewigkeit und Trinität. Fern dem Reich Gottes als universaler Erfüllung des geschichtlichen Lebensprozesses könne es nach Tillich keine individuelle Erfüllung geben.
Der letzte Schritt fasst die Ergebnisse zusammen und würdigt Tillichs eschatologisch entfaltetes christliches Geschichtsverständnis unter Einbezug eschatologischer Grundlinien und zentraler Begrifflichkeiten, die schon in jenen Schriften aufleuchten, die Tillichs »Systematischer Theologie« vorausgehen, und die darum als Vorbereitung angesehen werden könnten. Wenn die Vfn. gleichwohl Akzentverschiebungen ausfindig macht, so seien diese aber nicht im Sinne eines Bruchs, sondern einer Kontinuität zu deuten. Ab­schließend wird versucht, die Ergebnisse bezüglich Tillichs Ge­schichtsverständnis kritisch auf die Herausforderungen der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Situation zu applizieren. Als be­deutsam wird dabei u. a. Tillichs Differenzierung von Be­dingtem und Unbedingtem bzw. Vorläufigem und Endgültigem er­achtet, im Gegensatz zu konstruktivistisch-fundamentalistischen ebenso wie utopisch-fortschrittsgläubigen Geschichtsverständnissen.
Der Band, obgleich Tillichs Geschichtsverständnis gewidmet, gibt einen umfassenden Einblick in sein theologisches Denken. Überzeugend wird Tillichs Verständnis vom universalen Sinn der Geschichte, der heute oft genug angezweifelt wird, entfaltet und dabei zugleich die Mitte jesuanischer Botschaft eingehend expliziert. Verbindet Tillich selbst die Schöpfungslehre mit der Eschatologie, könnte heute wohl mit ihm und über ihn hinaus die kosmische Dimension der Eschatologie noch stärker akzentuiert werden.