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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

709–710

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, Henning

Titel/Untertitel:

Martin Luther und die Wittenberger Konkordie (1536).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIV, 551 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 201. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161592263.

Rezensent:

Volkmar Ortmann

In der Regel wird die Wittenberger Konkordie im Zusammenhang mit dem Abendmahlsstreit zwischen Wittenberg, Zürich und Straßburg gesehen. Martin Bucer erscheint zumeist als wesentlicher Protagonist dieses Einigungswerks. Es ist das Verdienst der Arbeit von Henning Reinhardt, darauf hinzuweisen, dass die Fo­kussierung auf den Abendmahlsartikel zu kurz greift, und die Bedeutung Martin Luthers für das Zustandekommen der Wittenberger Konkordie deutlicher herauszuarbeiten.
Die Arbeit wurde von Dorothea Wendebourg betreut und 2016 von der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Der Vf. ist Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und es verdient umso mehr Beachtung, dass er diese umfangreiche Untersuchung neben den umfangreichen Aufgaben eines Pfarramtes abschließen konnte. Von der Luthergesellschaft wurde die Untersuchung 2018 mit dem Martin-Luther-Preis für den akademischen Nachwuchs ausgezeichnet.
Geradezu minutiös werden die Verhandlungen in Wittenberg vom Mai 1536 nachgezeichnet und analysiert. Auch wenn die De­batte über das Abendmahlsverständnis bei den Verhandlungen in Wittenberg von zentraler Bedeutung war, standen darüber hinaus weitere theologische Kernthemen auf der Tagesordnung: So wurde ebenso über die Taufe und die Taufpraxis gesprochen wie über die Beichte, Bann und das ius reformationis. Außerdem wurde auch über die religiöse Bildung, namentlich die Schulen gesprochen. Die Wittenberger Konkordie kommt so in ihrer umfassenden theolo-gischen Bedeutung stärker zur Geltung, zumal die Ge­sprächsinhalte weit über das hinausgingen, was abschließend in der Konkordie ausformuliert wurde.
Wie der Titel nahelegt, ist die Untersuchung auf Martin Luther hin fokussiert, auf seine Rolle bei den Verhandlungen auf dem Weg hin zur Konkordie und vor allem in den entscheidenden Ge­sprächstagen in Wittenberg. Wenig überraschend ist er die entscheidende Person, die auch ganz offen den Führungsanspruch in den theologisch kontroversen Fragen beanspruchte. Es wird aber auch deutlich, dass Luther ein wirkliches Interesse am Zustandekommen der Konkordie hatte und etwa die großen Skeptiker ge­genüber diesem Unternehmen im eigenen Lager wie etwa Amsdorff nicht an den Verhandlungen beteiligte.
Die große Stärke der Arbeit liegt in ihrer sorgfältigen Quellenanalyse. Neben den edierten und gedruckten Quellen werden unveröffentlichte handschriftliche Archivalien herangezogen. Im Anhang der Arbeit werden die Aufzeichnungen von Friedrich Myconius über die Verhandlungen, ein Brief von ihm an Veit Dietrich sowie Johannes Zwicks Ergänzungen zum Bericht der Oberdeutschen dokumentiert, ebenso eine Synopse mit den verschiedenen Textfassungen der Wittenberger Konkordie zur Taufe. Mit-hilfe von Quellenzitaten lässt sich die Argumentation leicht und kritisch mitvollziehen, zumal bei lateinischen Zitaten in den An­merkungen eine deutsche Übersetzung geboten wird. Ein Re-gister für die zitierten Bibelstellen, ein Namen-, Orts- und vor allem das Sachregister helfen, das umfangreiche Werk gezielt zu erschließen.
Die vorhandenen Dokumente über die Verhandlungen werden in ihrem jeweiligen Quellenwert genau untersucht und präzise ausgewertet. Es wird klar und transparent dargestellt, was sie jeweils mitteilen und – genauso wichtig – was in ihnen nicht enthalten ist. So kommt es zu spannenden Feststellungen darüber, was die Gesprächspartner jeweils über ihre Positionen preisgaben. Durch diese Vorgehensweise wird anschaulich gemacht, was Martin Luther bzw. Martin Bucer jeweils voneinander wissen konnten und wie sie die Aussagen vor dem Hintergrund dieser Kenntnis, aber auch angesichts der eigenen Positionen deuteten. Trotz der historischen Distanz entsteht ein Eindruck von der Atmosphäre, in der die Gespräche stattfanden. Und in jedem Fall wird die Möglichkeit eröffnet, die Protagonisten der Wittenberger Konkordie bei ihren Gesprächen und in ihren Gedankengängen zu begleiten.
Namentlich für Martin Luther ist hier zu konstatieren, dass er große Mühe hatte, das Abendmahlsverständnis der Oberdeutschen wirklich zu erfassen. In ähnlicher Weise wird dies auch für die jeweilige Auffassung über die manducatio impiorum bzw. indignorum gezeigt.
Aufschlussreich sind aber auch die Ausführungen über die Taufe, weil darin Einblick in die Taufpraxis und das Taufverständnis der oberdeutschen Gemeinden gegeben wird, die sich in einigen Punkten deutlich von Wittenberg unterschieden.
In der Summe ging es bei der Konkordie weniger um die Herstellung von Einigkeit in der Lehre, erst recht nicht in dem Sinn, dass Luther und die Wittenberger Theologen sich in ihren Lehraussagen auf Kompromisse eingelassen hätten. Mit der Konkordie stellten vielmehr die Wittenberger Theologen und namentlich Martin Luther fest, dass die Lehre der Oberdeutschen – insbesondere hinsichtlich des Abendmahls – mit ihren eigenen Auffassungen übereinstimmte.
Da diese Übereinstimmung aus Bucers Sicht bestand, ging es seiner Ansicht nach vor allem darum, dies für Luther glaubhaft machen. Es spricht für die Sorgfalt und wissenschaftliche Ausgewogenheit der Arbeit, dass dies herausgearbeitet und an dieser Stelle gegenüber Bucer nicht der Vorwurf der Unredlichkeit erhoben wird. Gleichwohl steht dieser Vorwurf latent zwischen den Zeilen, wenn der Wunsch Luthers an die Verhandlungspartner, aufrichtig zu sein, wiederholt erwähnt wird. Die detaillierte Darstellung der Gespräche zeigt das große Interesse beider Seiten an einer Einigung. Bucers bekanntes Verhandlungsgeschick spielte hier eine große Rolle. Ebenso wird aber auch Luthers Interesse am Zustandekommen dieser Einigung an vielen Stellen deutlich.
Das ist umso bemerkenswerter, als die Wittenberger Konkordie aus Luthers Sicht zu seinem theologischen Erbe gezählt werden sollte. Insofern rückt sie in ihrer Bedeutung z. B. an die Schmalkaldischen Artikel heran, die Luther ebenfalls als Teil seines theologischen Nachlasses ansah und die immerhin zu den Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche gehören. Gerade hinsichtlich der ökumenischen Dialogbereitschaft und -fähigkeit Luthers und der lutherischen Theologie lassen sich hier neue Impulse und Perspektiven erwarten. Ebenfalls wäre zu untersuchen, inwiefern Martin Bucer aus den Gesprächen in Wittenberg über Beichte und Bann Impulse für seine weitere Konzeption der Kirchenzucht erhielt.
Insgesamt ist die Arbeit ein Musterbeispiel für kompetent-kritische Interpretation von Quellen. Es geht darum, transparent zu machen, was die handelnden Personen offenbar wirklich wussten und verstanden, nicht was sie grundsätzlich vielleicht hätten wissen können oder sollen. Es ist für die kirchengeschichtliche Wissenschaft sehr zu wünschen, dass diese Art des historischen Arbeitens Schule macht und beiträgt, das Vergangene besser zu verstehen und für die Gegenwart zu erschließen.