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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

691–693

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Barth, Susanne

Titel/Untertitel:

Tätige Nächstenliebe in Werk und Wirken Gregors des Großen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIII, 449 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 122. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161563034.

Rezensent:

Katharina Greschat

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Dissertation, die im Wintersemester 2017/18 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen wurde. Mit der Fokussierung auf das Ideal der tätigen Nächs-tenliebe gelingt es Susanne Barth, eine zentrale, wenn auch wenig beachtete Perspektive für die Betrachtung des umfangreichen Werkes Gregors des Großen († 604) auszumachen. Sie untersucht zu­nächst sein literarisches Werk (65–277) und gelangt zu der Erkenntnis, dass sich Gregors Ansichten von den frühen Schriften, wie dem an ein vorrangig monastisches Publikum adressierten Kommentar zum Hohelied, bis zu den Moralia in Job, die die Vfn. – anders als viele andere – nicht in sein erstes Jahr als Papst, sondern unter Einbeziehung der verschiedenen Überarbeitungsstufen in sein späteres Pontifikat datiert, immer stärker an der Sorge für das Wohl des Mitmenschen orientiert hätten: »Im Amt entwickelte sich Gregor in seinen Schriften deutlich wahrnehmbar vom asketischen Mystiker zum praktisch orientierten Kirchenführer.« (251)
Zwar habe er bereits in seinen ersten Werken die vita contemplativa favorisiert, jedoch neben der Aufforderung zur Gottesliebe immer auch darauf geachtet, dass ihr die Liebe zum Nächsten und Verantwortung für die Schwächeren folgen müsse. Mit der Regula Pastoralis, die sich in erster Linie an den Bischof als Hirten bzw. Leitfigur der Gemeinde richtet, werde deutlich, dass Gregor als wichtigs-ten Akt der Nächstenliebe die Verkündigung des Wortes Gottes verstand, mit der die Gemeinde zu ihrer himmlischen Heimat geführt werden sollte. Wie das konkret aussehen konnte, machen die Evangelienhomilien klar; auch hier stehe die Verkündigung im Zentrum, die aber keineswegs auf die gottesdienstliche Wortverkündigung beschränkt bleibt. Gerade die Dialoge als Gregors populärstes Werk, das das römische Umland im Sinne einer zweiten Thebais zeichnete (159), erweisen sich für die Fragestellung als besonders ertragreich, weil hier ganz konkret von der Armenkasse zur Versorgung von Bedürftigen, Fremden und zum Loskauf von Gefangenen geredet wird. Auch in den Ezechielhomilien, die einmal mehr die bischöfliche Verkündigung als zentralen Dienst am Nächsten beschreiben, geht es angesichts der Notlage in Italien neben der Unterstützung Armer, der Speisung Hungriger und der Bekleidung Nackter auch um die Forderung an die Machthaber, die Unterdrückten zu be­schützen, sowie die Forderung nach Feindesliebe. In kreativer An-eignung erweiterte Gregor die zentralen Tugenden der fides, caritas und spes um die Tatkraft (operatio). Von entscheidender Bedeutung sei ihm die Verhältnisbestimmung von actio und contemplatio, die gerade auch in den Moralia in Job ein zentrales Thema sei. Dadurch dass die Vfn. Gregors opus magnum in die Nähe zu den Ezechielhomilien stellt, kann sie als historischen Kontext die christologischen Spannungen um das Schisma der Drei-Kapitel plausibel machen und in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass Gregor auch die tätige Nächstenliebe als christologisch fundierte compassio verstanden habe. In gleicher Weise wird auch die Betonung der Einheit der Kirche als des Leibes Christi gut nachvollziehbar.
Interessanterweise belässt es die Vfn. nicht bei der Untersuchung der literarischen Werke, sondern versucht diese mit Gregors tatsächlichen Aktionen zu korrelieren, soweit sie sich aus seinem Briefregister ablesen lassen (279–383). In diesem zweiten Haupt-kapitel erfährt man, wo Gregor die römische Verwaltung bei der Armenfürsorge in der Pflicht sah, in welcher Weise er sich um Un­terdrückte und Gefangene sowie um Friedensverhandlungen kümmerte und dass er alles daransetzte, für die Bewahrung und Ausbreitung des rechten Glaubens einzutreten. Einigermaßen ausführlich beschreibt die Vfn. in diesem Zusammenhang die An-gelsachsenmission, kommt auf den durch kaiserliche Gesetze be­stimmten Umgang mit Juden, paganen Zeitgenossen und christlichen Häretikern zu sprechen, zu denen Gregor ganz offensichtlich auch weite Teile des in seinen Augen simonistischen Klerus in Gallien zählte. Von besonderem Interesse erweist sich jedoch seine Sorge um die kirchliche Einheit, die bereits in der von ihm gleich zu Beginn seines Pontifikats anberaumten Bußprozession zum Ausdruck kam. Immer wieder bemühte er sich um die Einbindung von Asketen in die kirchlichen Strukturen und erlegte ihnen auch eine Verantwortung für den Nächsten auf. Kaum etwas ärgerte Gregor so sehr wie geistlicher Hochmut, der sich in der Auseinandersetzung um den Titel des ökumenischen Patriarchen oder dem Palliumsstreit mit Ravenna spiegelte und damit die für die Gesamtkirche wesentliche Sorge um die utilitas proximi grundlegend be- oder gar verhinderte. Gerade an dieser Stelle fällt die Korrelation mit dem literarischen Werk besonders ins Auge und wird von der Vfn. auch pointiert herausgearbeitet.
Bei dem Buch handelt es sich zweifellos um ein sehr wichtiges und weiterführendes Werk, das Gregors Konzeption einer tätigen Nächstenliebe in theologischer Grundlegung sorgfältig analysiert. Gerade deshalb erlaube ich mir einige Anfragen, die die Bedeutung der vorliegenden Arbeit aber nicht schmälern sollen. Zum einen leuchtet mir nicht ein, warum die Vfn. die augustinische Sünden- und Gnadenlehre als alleinigen Maßstab verwendet und dementsprechend feststellt, dass Gregors Ansichten dem nicht konsequent entsprechen. Häufiger betont sie, dass Gregor stattdessen eher von Cyprian oder der Konzeption eines Cassian (148 u. ö.) abhängig sei, und bezeichnet seine Ansichten deshalb als synergistisch (204–206). Zum anderen fehlt der Vergleich mit anderen Bischöfen dieser Zeit und ihren Vorstellungen über die tätige Nächstenliebe. An manchen Stellen verweist die Vfn. kurz auf Bischofskollegen wie Johannes Chrysostomos u. a., allerdings wird kaum ein Amtsträger aus dem Westen erwähnt und auch nicht darüber reflektiert, inwiefern Gregors Situation in der unübersichtlichen Zeit nach den Gotenkriegen und dem Einfall der Langobarden eine sehr spezifische sein kö nnte. Die Zuständigkeiten der römischen Verwaltung werden beiläufig erwähnt, aber nicht genauer ausgeführt. Das hätte der Untersuchung zweifellos gut getan und sie noch lesenswerter ge­macht. Darüber hinaus hat sich mir der Sinn eines Registers mit lediglich zwei Dutzend moderner Namen, die auch höchstens dreimal genannt werden, nicht wirklich erschlossen.
Diese kleinen Kritikpunkte sollen aber lediglich zeigen, wie wichtig und interessant die gründliche Lektüre dieses Buches ist, dem an dieser Stelle nur ein möglichst großer Leserkreis gewünscht werden kann.