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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

600–602

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Job, Ulrike [Hg.]

Titel/Untertitel:

Kritisches Denken. Verantwortung der Geisteswissenschaften.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2021 268 S. = Challenges, 3. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783823381976.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Rezensionen zu schreiben, ist ein notwendig kritisches Geschäft. In Verantwortung vor dem Buch, in Respekt vor der Autorin und im Dienst an der potenziellen Leserschaft sollen ein Text in seinen Kontext gestellt, der Inhalt kondensiert wiedergegeben und Stärken wie offene Fragen genauso offen benannt werden. Es ist ein überaus heikles Genre; denn wie jene Offenheit zwischen bloßem Desiderat über argumentative Unklarheiten bis hin zu wirklich problematischen, manchmal gar ärgerlichen Zügen benannt wird, kann selbst Gegenstand der (Gegen)Kritik werden: In welchem Ton werden die Anfragen und Einwände vorgetragen? Wie subtil oder direkt darf eine auch kritische Besprechung ausfallen, ohne je-manden zu verletzen? Könnte nicht noch eine rundheraus positive Rezension, deren Grenzen zur Buchempfehlung verschwimmen, als gönnerhaft-jovial empfunden werden? Und, auf welche diskursive Verfassung trifft eine hoffentlich wohl begründete Kritik: Sind wir noch bereit, Kritik nicht übel, sondern konstruktiv aufzunehmen, den Widerspruch auszuhalten? Ihn vielleicht gar als Form, ernst genommen zu werden, zuzulassen, um das mögliche Angebot eines Gesprächs anzunehmen? Und wie verhält sich all dies in den Diskursen gegenwärtiger Theologie?
Doch die Kritik sollte keinesfalls vorschnell harmonisiert werden: Hat man denn eine angemessene Sprache wirklich gefunden? Und würde man mit der Kritik noch umgehen können, wäre man selbst der Adressat der eigenen Kritik? Wenn diese Selbstkritik nicht die nur verhüllte Variante letzter Immunisierung gegen die Gegenkritik sein soll, wird man sich etwas sagen lassen, wirklich zuhören und offenbleiben müssen. Ist das wirklich immer gelungen, auch einem selbst?
Genau dieser delikate Problemkreis zwischen artikulierter Kritik und dem Umgang mit ihr führt zum nun zu besprechenden Buch, das sich dem »kritischen Denken« widmet. Es stellt somit das, was sich im Rezensionswesen en miniature zeigt, in einen größe-ren, nämlich geisteswissenschaftlichen Zusammenhang; und es nimmt dabei die obige Frage nach der Verantwortung des kritischen Fragens auf, indem diesem Fragen aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen nachgegangen wird. Der von Ulrike Job, Leiterin der Arbeitsstelle Studium und Beruf an der Universität Hamburg, edierte Band geht auf eine Ringvorlesung zurück, die ebenda 2017 stattgefunden hat, und versammelt sehr unterschiedliche Beiträge, welche die Modi geisteswissenschaftlicher Kritik allgemein verständlich thematisieren. Von der Aufklärung (B. Recki) über Weisen des Infragestellens (hier ist ein ganzes Autoren-Kollektiv am Werk), aber auch die linguistische Kritik (K. Bühring), die sprachwissenschaftliche (U. Berns und P. Hamann-Rose: Anglistik; I. Gunia: Romanistik; M. J. Schäfer: Germanistik; C. Schindler sowie St. Renker: Philologie), zudem medienwissenschaftliche (J. B. Bleicher) und geschichtliche Perspektive (F. Nikulka: Archäologie; Chr. Dartmann: Geschichtswissenschaft) kommen Formationen des re-flektierten Fragens zur Sprache; auch ein theologischer Beitrag von Sonja Keller ist im Band enthalten.
Damit sind alle Texte zumindest erwähnt; nun möchte ich auf für den hiesigen Kontext besonders relevante Beiträge etwas genauer eingehen. Nach einer knappen Einleitung der Herausgeberin widmet sich Birgit Recki dem kantischen Programm der Aufklärung und seiner bleibenden Aktualität, auch im Blick auf digitale Medien und politische Erosionsprozesse. Hervorgehoben wird insbesondere das Ineinandergreifen von Kritik und Selbstkritik, wobei gerade im Vollzug der Vernunft das »und« einem »als« weichen könnte (22). Etwas zu kurz kommt dabei, dass diese Vernunft selbst in kulturell variierende Kontexte eingebettet ist, um schließlich auf das Problem zu führen, wie es denn um »das Andere der Vernunft« (so der kürzlich verstorbene Gernot Böhme) steht: Ge­fühle, Atmosphären, Emotionen, Stimmungen.
Anschließend nimmt sich ein fünfköpfiges Kollektiv (K. Drews, S. Ludwig, A. Renker, F. Schütt und A.-K. Hubrich) die doppelte Frage vor, wie es um das geisteswissenschaftliche Fragen und um die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft (im Singular!) stehen könnte (31–70). Dabei wird einerseits den Sprachspielen des Fragens – der Infragestellung, der (Selbst)Befragung, der Fraglichkeit – nachgegangen; andererseits werden ganz konkrete Beispiele (eine Installation: 44; eine Reliefdarstellung: 49; bildliche Darstellungen: 62 f.) herangezogen, um das timing (50: kairos), die Zirkularität, die Me­dien des Fragens und seine »Frag-Würdigkeit« zu thematisieren.
Instruktiv ist auch der theaterwissenschaftliche Beitrag von Martin Jörg Schäfer, weil er anhand der Performance-Installation Söhne & Söhne (2015) des Künstlerkollektivs SIGNA die Grenze zwischen Darstellung und Publikum verhandelt. Wie meist bei Produktionen dieser Gruppe haben wir es mit immersiven Formen zu tun (136), in denen die Zuschauer selbst mitspielen müssen, in jedem Fall sich selbst zu dem Gespielten zu verhalten haben und zum Teil der Aufführung werden, indem sie durch größere Räumlichkeiten (meist in alten Fabrikgebäuden) geführt werden – zwischen abgeschlossener Eigenwelt und gewollt-offenen oder subtilen Brüchen innerhalb dieser Abgrenzung. Überaus greifbar wird hier die bleibende Ambivalenz der Aufführung, die die traditionelle Form des Theaters zwar auflösen will, aber nicht mehr vorgibt, aus dem Dual von Zuschauer und Spieler, zwischen Parkett und Bühne aussteigen zu können, sondern dieses in einem sechs-stündigen Marathon immer wieder neu umspielt (136 f.).
Es folgen zwei Beiträge von Joan Kristin Bleicher, die sich auf verschiedenen Wegen der Fernsehkritik im Fernsehen widmet. Dabei kommen mediengeschichtliche Erwägungen zum Aufkommen jener nicht selten parodistischen (Selbst)Kritik genauso zum Zuge (161–178), wie ganz konkrete Beispiele aus der jüngeren Fernsehgeschichte Revue passieren: von ersten dokumentarischen Formen der Fernsehkritik seit den 1980er Jahren über ideologisch getränkte Kritik des anderen Regimes (man denke an Eduard von Schnitzlers »Schwarzen Kanal«; dazu 144) bis hin zu late night talk, bei dem das deutsche Fernsehen seine imaginationslose Provinzialität verrät, wenn Harald Schmidt David Letterman & Co. zu kopieren versucht, um sich über den Rest der Provinz lustig zu machen (155 f.; sehr instruktiv ist auch, was David Foster Wallace zum »contempt of TV for TV« zu sagen hat; bei youtube einfach zu finden).
Auch die Theologie kommt zu Wort. Die Praktische Theologin Sonja Keller erinnert an die innere Kritik des Faches, indem vier wesentliche Stationen abgeschritten werden. Erstens geht es um die heikle Frage, inwiefern Theologie als »Rede von Gott« verstanden werden darf und um welche Art des Verstehens zwischen Verkündigung und interner Selbstdeutung des Glaubens auf Distanz zu sich selbst es gehen kann (219 f.). Zweitens geht K. auf die Reformation (nicht als Ereignis, sondern als Prozess; 222) ein, insbesondere auf deren institutionskritisches Gepräge. Drittens wird knapp ein Blick auf die historisch-kritische Methode geworfen, um schließlich, viertens, auf die Dialektische Krisentheologie einzugehen, wobei hier vor allem die homiletische »Verlegenheit« zur Sprache kommt: Die Predigt dürfe nicht nur der Lebenshilfe dienen, nicht einmal nur der Verkündigung als solcher, sondern müsse den Menschen – nach Karl Barth – in das Offenbarungsereignis selbst hineinnehmen (226 f.). Das muss umstritten sein, weil es eine – Not-wendige (?) – Überforderung der Predigt bleibt. Dabei setzt K. voraus, dass die Theo-Logie eine eigene Wissenschaft sei (228), die zentrale Aufgaben zur Selbstaufklärung des gesellschaftlichen Dialogs der Gegenwart zu übernehmen habe.
Die Kritik der Geisteswissenschaften ist in diesem informativen, polyphonen Band tatsächlich in ihrer Doppeldeutigkeit Thema: Nicht nur die ihrerseits ambivalent bleibende Kritik zwischen Einwand und Fortführung eines Gesprächs kommt in vielen ihrer Facetten zur Sprache; auch die Geisteswissenschaften selbst werden als Gegenstand der Kritik und disziplinären Selbstkritik bedacht. Hier steht nicht so sehr im Fokus, wie die Fächer kritisch miteinander interagieren könnten, sondern wie den je anderen vorgeführt werden kann, auf welche Weise sie sich schon zu sich selbst kritisch verhalten. Daher ist der Band besonders dort interessant, wo man von entfernteren Disziplinen hört und dann wird überlegen können, was die dort eingespielte Form der Kritik für das eigene »kritische Geschäft« heißen könnte. Das gilt gerade dann, wenn man das heikle Genre der Rezension wertschätzt.