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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

596–598

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Witt, Christian Volkmar

Titel/Untertitel:

Lutherische »Orthodoxie« als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 297 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abtl. für Abendländische Ge­schichte, 264. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783525501849.

Rezensent:

Markus Wriedt

Im Rahmen der Heisenberg-Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Christian Volkmar Witt seine teilweise bereits in Aufsätzen angedeutete Forschung zum Begriff und We­sen der sogenannten konfessionellen »Orthodoxie« monographisch zusammengefasst. Er kehrt damit methodologisch zu einem Konzept zurück, das er bereits in seiner Dissertation »Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit« (Beiträge zur historischen Theologie 163, Tübingen 2011) angewandt hatte.
Die geisteswissenschaftliche Begriffsgeschichte wird häufig am Rande der historischen Rekonstruktion von Ideenzusammenhängen angewandt und steht trotz der theoretischen Begründungen von Reinhard Koselleck u. a. immer noch unter dem Verdacht, die historische Kontextualisierung zu vernachlässigen. Dass sich W. der potentiellen Kritik durchaus bewusst ist, beweist seine ausführliche theoretische Grundlegung der Studie im ersten Kapitel. Unter Rückgriff auf Koselleck und die darauf aufbauenden Studien zur Institutionalisierung von historischen Semantiken von Karl-Siegbert Rehberg legt er eine die aktuelle Diskussion berücksich-tigende Skizze der theoretischen Basis seiner Untersuchung vor. Darin skizziert er zunächst seine Leitidee: Er möchte »Aufschluss geben über die Genese, Transformation und Aneignung einer be­stimmten Idee und der hinter ihr liegenden kategorialen Konzeptionen, und zwar in einem bestimmten Zeitraum und unter spe-zifischen kirchen-, theologie- und historiographiegeschichtlichen Bedingungen« (12). In Fortführung von Rehbergs Studien wendet er dessen Ansatz nunmehr auf die geschichtliche Konstruktion des Begriffes »Orthodoxie« und deren normative wie diskursiv bestrittene Geltungsansprüche an. Damit verweist er auf die diesen teil weise institutionalisierten Prozessen inhärierende Ambiguität und Kontingenz. Die Leitidee »Orthodoxie« fungiert dabei »nicht nur als Identifikations- und Zielbestimmungsformel, sondern auch als Ab­grenzungs- oder Marginalisierungsinstrument« (18). Diesem Leitbegriff steht als »asymmetrischer Gegenbegriff« der Ausdruck »Heterodoxie« gegenüber. Trotz der verbleibenden Asymmetrie sind beide Begriffe als »dualistische Sprachfigur« zur »Abgrenzung von Handlungseinheiten« miteinander verbunden (36). Das impliziert Deutungskämpfe um ihre begriffliche Füllung und Berechtigung.
Die Untersuchung geht chronologisch »von der klassisch affirmativen Selbstbezeichnung zum polemisch-fremdbezeichnenden Etikett und ausgerechnet darüber zur pejorativen Kategorie« vor (42). Im weiteren Verlauf der Arbeit tritt die Rekonstruktion der Selbstbezeichnung allerdings weitgehend zurück. Stattdessen entwickelt W. in seiner Studie ein differenziertes und durchaus detailgenaues Bild der Ausgestaltung der pejorativen Fremdbezeichnung. Exemplarisch bearbeitet er dafür den Wandel der Begriffs-bestimmung in den Jahrhunderten zwischen Gottfried Arnold (1666–1714) und Ernst Troeltsch (1865–1923).
Für diese Wegstrecke benennt W. im Folgenden nach Gott-fried Arnold zunächst die Übergangs- und Aufklärungstheologen Lorenz von Mosheim (1693–1755), Johann Matthias Schroeckh (1733–1808), Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) und Johann Salomo Semler (1725–1791). Schon bei dieser ersten Aufzählung wird sichtbar, dass der jeweilige historische Kontext die semantische Rekonstruktion der Verwendung des Begriffes »Orthodoxie« ausblendet und so die jeweilige Entstehungssituation nicht weiter Berücksichtigung findet. Sind doch im 18. Jh. etliche theologiegeschichtliche Umbrüche – um nur diese zu erwähnen – bekannt, welche fraglos auf die Semantik der benannten Theologen von Einfluss gewesen sein dürften. Das Ergebnis dieser Rekonstruktion – hier und auch bei den folgenden Kapiteln etwas gewöhnungsbedürftig als »Zwischenstand« des jeweils folgenden Abschnitts eingefügt – wird in dichter, theoriegesättigter Sprache unter Einfügung zahlreicher Quellenzitate formuliert:
»Das Ringen um darstellerische Ausgewogenheit und historische Neutralität in wachem Bewusstsein für die eigene konfessionelle Bindung sowie Prägung, für die daraus resultierenden hermeneutischen Schranken und für den eigenen Begriff von Wahrheit und Rechtgläubigkeit ist für die exemplarisch vorgestellen Zugriffsweisen des 18. Jahrhunderts auf die Kirchengeschichte charakteristisch, die ihrerseits hineingehören in den um­fas­sen- den Verwissenschaftlichungsprozess, den die gleichlautende Disziplin in dieser Zeit erfährt.« (113)
Eine so akzentuierte Geschichtsschreibung kann mit den holzschnittartigen Wertungen von Arnolds spirituell legitimierten Ansichten wenig anfangen und fügt eine detailliertere Sichtweise hinzu, welche das Bewusstsein einer »aufkeimenden innerchrist-lichen Pluralität« fördert. Daher wird in diesen Texten dem Begriff und Phänomen »Orthodoxie« insgesamt nur wenig Beachtung ge­schenkt.
Ein nächstes Kapitel behandelt Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810) und Gottlieb Jakob Planck (1751–1833), die beide zur Strömung der theologischen Aufklärung gezählt werden können. Auch hier sieht W. das Streben nach historischer Kritik, konsequentem Rationalitätsanspruch und positioneller Ausgewogenheit wie schon bei den vorher besprochenen Repräsentanten seiner Begriffsanalyse vorherrschend.
Dennoch unterscheiden sie sich von den vier bereits behandelten Protago-nisten dadurch, dass sie eine Größe »Orthodoxie« oder »orthodoxe Partei« mit durchaus fremdbezeichnend-pejorativer Akzentuierung benennen. Erneut steht Arnold hierfür Pate, das theologiegeschichtliche Phänomen mit Charakterisierungen wie »Eitelkeit, Borniertheit, Kleingeistigkeit und Herrschsucht« sowie ihren charakterlichen Defiziten zu belegen (150). W. erkennt darin eine »Projektionsfläche, um ihre [i. e. Spittlers und Plancks] Deutung der Kirchengeschichte in Kirchengeschichtsschreibung zu überführen« (151). Sie dient als geschichtliche Größe, auf deren dunklem Hintergrund die eigene theologie-geschichtliche Position hell erstrahlt.
Mit Karl von Hase (1800–1890), Ferdinand Christian Baur (1792–1860) und August Tholuck (1799–1877) werden drei positionell höchst unterschiedliche Vertreter der protestantischen Theologie benannt, die zum Orthodoxie-Diskurs beigetragen haben. Von Hase und Baur erkennen bei aller Kritik an dem Urheber die historiographische Darlegung der konfessionellen Orthodoxie durch August Tholuck an und darin vor allem das »dunkle Bild, voll Zerrüttung und Zänkerei« (Zitat von Hase, 203).
Diese Wertung deckt sich weitgehend mit der von Spittler und Planck, wie sie im vorigen Kapitel entfaltet wurde. Von Hase und Baur unterscheiden sich von Tholuck insbesondere in ihrer kritisch-distanzierten Wertung des lutherischen Konkordienwerkes, das der Hallische Professor ausdrücklich vom Vorwurf der Vorbereitung der depravierten Orthodoxie bewahrt wissen will. Gemeinsam ist allen drei Theologen »das pejorativ-essentialisierende Bild der ›orthodoxen Partei‹ als Stammmutter des positionell Fremden und Abgelehnten der eigenen Gegenwart« (211). Den Gegner erkennen die drei Theologen im »neulutherischen Konfessionalismus und seinem kirchen- und theologiepolitisch legitimatorischen Repristinationsprogramm« (213). Mithin dient ihr Ansatz auch der theologischen Positionierung und Profilierung des eigenen Standpunkts.
Am Ende des theologiegeschichtlichen Durchgangs steht Ernst Troeltsch. Seine Sicht der »Orthodoxie« unterscheidet sich zwar nicht wesentlich von der seiner Vorgänger. Wohl aber erhält seine Darstellung eine andere Zuspitzung. Bei ihm ist »gerade der Ge­danke geschichtlicher Singularität und unüberbrückbarer kultureller Distanz leitend« (265). Vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung von Alt- und Neu-Protestantismus (267) kommt der konfessionellen Orthodoxie nurmehr eine kulturanalytische Be­deutung zu. Sie hat keine kontinuierliche Fortsetzung in der Ge­genwart. Das Bild der Orthodoxie bleibt wesentlich unverändert.
Hans Leube (1896–1947) vermochte die pejorative Füllung des Kampfbegriffes Orthodoxie aufzubrechen, indem er konsequent historisierend auf die Entstehungsgründe der Darstellungen verweist: »Die positionellen Bindungen prägten die historische Wahrnehmung sowie die daraus resultierende Darstellung der ›Orthodoxie‹, deren Leistungen Troeltsch erst anerkennen konnte, als er jede Möglichkeit der Repristination protestantismustheoretisch abschnitt und damit den herausgestellten perspektivisch entlastenden Entkopplungseffekt ermöglichte.« (268) Zugleich erweist sich das Phänomen Orthodoxie als Quellgrund von Aufklärungstheologie und Pietismus. Um ihre Vertreter möglichst strahlend erscheinen zu lassen, bedarf es der Negativfolie der konfessionell stab ilen akademischen Lehre. Troeltsch vermag es, diesen funktionalen Zusammenhang aufzulösen, und ermöglicht so eine unbelastetere Sicht auf die Entwicklungen des 17. und 18. Jh.s.
W. fasst seine Studie in neun Thesen zusammen, die allerdings die Überlegungen nur formal abschließen. Tatsächlich eröffnen sie einen Horizont weiterer Beschäftigung mit den Formen und Deutungsweisen konfessioneller Lehrnormierung und ihrer Rezeption. Ohne Zweifel hat W. mit seiner begriffsgeschichtlichen Analyse eines weit und breit verwendeten Terminus dazu beigetragen, genauer und präziser nach der Begriffsverwendung zu schauen. Ob der Begriff insgesamt zu verwerfen ist, wie W. in einem Aufsatz fragte, wird man kaum abschätzen können. Bestimmt doch Ludwig Wittgenstein zufolge der Gebrauch von Worten ganz wesentlich deren Verständnis.
Das Buch ist in konzentrierter, nicht immer leicht zu lesender Sprache verfasst. Der interessante theoriegeschichtliche Aufriss wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zuweilen ein wenig fokussiert und damit unterlaufen. Auch ist das Auswahlprinzip der behandelten Theologen nicht ganz deutlich und müsste eigentlich zu Beginn erläutert werden. Zudem müsste die Titel-Frage, die W. im Verlauf der Darstellung detailliert herausarbeitet, am Ende noch einmal aufgenommen werden: Ist die lutherische »Orthodoxie« ein historisches oder ein historiographisches Problem? Mit diesen Anfragen soll die Untersuchung freilich nicht abgewertet werden. Sie deuten nur auf weiterführende Perspektiven hin, die W. mit seiner Studie erschlossen hat und mit weiteren Arbeiten ausführen sollte.