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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

587–589

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schaller, Berndt

Titel/Untertitel:

Christlich-akademische Judentumsforschung im Dienst der NS-Rassenideologie und -Politik. Der Fall des Karl Georg Kuhn. M. e. Vorwort v. S. Heschel. Hg. v. U. Kusche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 206 S. m. 26 Dokumenten = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 31. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783525503553.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Bis zu seinem Tod hatte Berndt Schaller (1930–2020) an dem Buchmanuskript gearbeitet, das nun von Ulrich Kusche zum Druck gebracht worden ist. Es behandelt ein Lebensthema des Göttinger Neutestamentlers, das neben seinen wichtigen Arbeiten zum hellenistischen Frühjudentum (vgl. die von Annette Steudel und Lutz Doering zusammengestellte Bibliographie am Ende des Bandes) mit seinem Namen verbunden bleiben wird: die Geschichte des Judentums im Europa der Neuzeit, speziell in Deutschland, noch spezieller, die Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland mit einem besonders geschärften Blick auf die unmittelbare, auch biographisch-geographische Nähe dieses besonders eindrucksvollen und liebenswürdigen Göttinger Gelehrten.
Dass, je schärfer sich der Blick auf die unmittelbar naheliegenden Details richtet, desto klarer die Zusammenhänge des Ganzen hervortreten, kann man aus den bisweilen kurzen, zum Teil aber auch monographischen Arbeiten von S. zu Antisemitismus und Judenverfolgung in der deutschen Wissenschaft und Gesellschaft im 20. Jh. lernen. Nachdem er sich schon vor einigen Jahren in einem umfangreichen Aufsatz mit Walter Grundmann auseinandergesetzt hatte (Leqach 11 [2013], 31–66), beschäftigte er sich in seinen letzten Lebensjahren in umfassenden Archivstudien mit dem politischen und akademischen Lebensweg von Karl Georg Kuhn, der u. a. von 1949–1954 als außerplanmäßiger Professor auf einer »Diätendozentur« in Göttingen Neues Testament gelehrt hatte.
Kuhn (Jg. 1906) gehörte zu den jungen, begabten Bibelwissenschaftlern (neben ihm Walter Grundmann, ebenfalls Jg. 1906, und Gerhard Delling, Jg. 1905), die sich Anfang der 1930er Jahre um Gerhard Kittel in Tübingen sammelten, der zu dieser Zeit mit den Vorbereitungen zum später zehnbändigen Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament begonnen hatte und zugleich als Spezialist für das antike, speziell rabbinische Judentum galt. Aus einem pietistischen Pfarrhaus stammend, wandte sich Kuhn aber zunächst n icht der Theologie, sondern der orientalistischen Philologie zu, wurde 1931 zum Dr. phil. promoviert, habilitierte sich 1934 für »semitische Philologie/orientalische Sprachen und Geschichte« und erwarb sich Kompetenzen, die ihn schon in jungen Jahren zu einer Kapazität auf diesem Gebiet machten (zur akademischen Laufbahn: 35–54). Zugleich engagierte er sich politisch (1932 Eintritt in die NSDAP) und trat unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten öffentlich bei antisemitischen Aktionen in Erscheinung. Während seine akademische Karriere nicht sogleich auf einen Lehrstuhl führte, wurde er bald in hochrangige wissenschaftspolitische Gremien berufen, so in den Sachverständigen-Beirat der »Forschungsabteilung Judenfrage« des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands«. Aus dieser dezidiert antisemitisch ausgerichteten »Forschungsabteilung« heraus entfaltete er eine intensive Vortrags- und Lehrtätigkeit zu Themen insbesondere aus dem Bereich Talmud und antikes Judentum, u. a. in NS- Schulungsstätten, bei Schulungen für Verwaltungsbeamte oder auf antisemitischen Propagandaveranstaltungen, aber auch in christlich-kirchlichen Kreisen, und trat in diesem Rahmen auch publizistisch hervor (48–53). In dieser Zeit fertigte er auch Gutachten für die Reichsschrifttumskammer, für Gerichtsprozesse zu Verfahren wegen »Rassenschande« sowie zur »rassenkundlichen« Beurteilung der mittelalterlichen Sekte der Karäer an (91–101). Indizien deuten darauf hin, dass Kuhn im Sommer 1940 als Sachverständiger an Konfiskationen von Büchern und Archivalien jüdischer Gemeinden im besetzten Warschau beteiligt war (103–106).
Kuhns wissenschaftliche Publikationen in den Jahren 1933–1942 (55–89) basierten auf seiner Dissertation zum tannaitischen Mi­drasch Sifre zu Numeri und der Habilitationsschrift zu den Psalmen Salomos. Insbesondere die kommentierte Übersetzung des Midrasch Sifre, die zunächst von 1933 bis 1936 in Einzellieferungen erschien, vollständig aber erst nach dem Krieg, gilt bis heute als herausragende wissenschaftliche Leistung. Von antijüdischen Tendenzen ist dieses Werk weitgehend frei.
Allerdings zeigt die von S. bis ins Detail aufgeklärte Publikationsgeschichte des Buches, dass ein paar (gezielt verdeckte oder schlicht übersehene?) Spuren seiner zeitgeschichtlichen Kontexte und Hintergründe stehengeblieben sind. So hat sich eine Stelle, wo Kuhn offenbar doch einmal in seine Kommentierung des antiken Midrasch die antisemitischen Töne seiner gleichzeitigen Vortragstätigkeit einfließen ließ, bis in die von ihm selbst überarbeitete und 1959 bei Kohlhammer publizierte vollständige Ausgabe erhalten (58–61). Dagegen hat Kuhn ganz am Schluss des Werkes in einer letzten Anmerkung offenbar erst für diese überarbeitete Endfassung eine Aussage über die bleibende Gegenwart Gottes bei seinem Volk Israel hinzugefügt, die nicht nur aus dem ansonsten eher nüchtern-exegetischen Duktus der Kommentierung herausfällt, sondern sich auch typographisch als nachträgliche Einfügung zu erkennen gibt, ohne doch die erwähnte antijüdische Passage nur 20 Seiten vorher zu tilgen (140–142). S. resümiert: »Wenn nicht alles täuscht, meldet sich Kuhn hier mit dem Versuch zu Wort, sich selbst als einen der Vorläufer christlich-jüdischer Zusammenarbeit darzustellen« (142). Für glaubwürdig hält er diese »Kehrtwende« Kuhns freilich nicht.
Ein zentrales Kapitel des Buches, das in die Auswertung und Beurteilung der Befunde mündet, beschäftigt sich mit dem Lebensweg Kuhns nach 1945 (107–130), speziell mit den Vorgängen um seine »Entnazifizierung« in Tübingen und seine gescheiterte Berufung nach Mainz. Von zwei »Spruchkammern« – in Stuttgart unter amerikanischer und in Tübingen unter französischer Besatzungshoheit – wurde Kuhn als »entlastet« eingestuft; im Tübinger Verfahren wurde ihm sogar »Widerstand […] gegen die NS-Gewaltherrschaft« bescheinigt (108). Mit solchen Papieren in der Hand konnte Kuhn relativ bald wieder wissenschaftlich Fuß fassen, zunächst auf Initiative von Joachim Jeremias ab dem Wintersemester 1949/50 als Dozent in Göttingen, dann ab 1954 als Ordinarius in Heidelberg, wo er als Kollege von Günter Bornkamm bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1971 Neues Testament lehrte (zu den Lebenswegen der beiden Neutestamentler und Mitglieder der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vgl. G. Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945, 2009; dazu meine Rezension in ThLZ 136 [2011], 771–774).
Den Vorgängen um einen in Aussicht stehenden Ruf an die Theologische Fakultät in Mainz, wohin Kuhn bereits zum Wintersemester 1950/51 zur Lehrstuhlvertretung eingeladen worden war, widmet S. besondere Aufmerksamkeit (117–128). Diesen Hintergründen verdankt sich offenbar die einzige öffentliche Äußerung Kuhns zu seinen früheren Positionen zur »Judenfrage«, eine Fußnote in einem Aufsatz in der »Evangelischen Theologie« zu den damals gerade entdeckten Qumran-Schriften, in der sich Kuhn (ohne Bezug zum Thema des Beitrags) von seiner antisemitischen Schrift »Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem« (1939) distanziert. S. deckt auf, dass dieser in dem seinerzeit von dem Göttinger Ernst Wolf herausgegebenen »Hausblatt der Bekennenden Kirche« (127) ziemlich gut versteckte »Widerruf« offenbar ein taktischer Zug in einem monatelangen Konflikt zwischen den Fakultäten in Göttingen und Mainz um die Berufung von Kuhn war. In den Zusammenhang dieses archivalisch bestens belegten, aber hinsichtlich der Motive der Beteiligten heute kaum mehr rekonstruierbaren Vorgangs aus den Jahren 1951/52 gehört auch ein Brief Kuhns an Charles Horowitz, einen jüdischen Fachkollegen aus Tübinger Zeiten bei Kittel, in dem er zu seinen Tätigkeiten vor 1945 Stellung bezieht (abgedruckt mit zahlreichen weiteren Dokumenten im Anhang, 168 f.). Manches deutet darauf hin, dass Kuhn diesen Brief erst zum Zwecke der Absicherung seiner Berufung nach Mainz fingiert hat – so wurde es ihm jedenfalls von den Mainzern vorgeworfen, was zu massiven Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fakultäten und letztlich zum Scheitern der Berufung Kuhns führte.
Zusammen mit dem Dokumententeil, dem fein gegliederten Literaturverzeichnis und dem Personenregister ermöglicht das letzte Buch von S. einen detaillierten Einblick in die politischen, gesellschaftlichen und theologischen Konstellationen, unter de­nen sich neutestamentliche Wissenschaft in der Mitte des 20. Jh.s vollzogen hat. Sie so weit wie möglich aus heutiger Sicht aufzuklären, gehört zu den Aufgaben gegenwärtiger Bibelwissenschaft, de­nen sich der Göttinger Neutestamentler aus existentieller Be­troffenheit wie nur wenige andere gestellt hat. Sein Buch ist ein Vermächtnis.