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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

570–572

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reiser, Marius

Titel/Untertitel:

»Und er wurde vor ihren Augen verwandelt«. Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 254 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783451391606.

Rezensent:

Wilfried Eisele

Ist Jesus wirklich in Betlehem geboren, wie das Matthäus- und das Lukasevangelium übereinstimmend erzählen, oder nicht doch in Nazaret, wie die Forschung hierzulande mehrheitlich behauptet? Handelt es sich bei der Schilderung der Schiffspassage des Paulus von Caesarea Maritima nach Rom in Apg 27,1–28,16 um Seemannsgarn oder um den glaubwürdigen Bericht eines Augenzeugen? Beispiele wie diese verweisen auf literaturwissenschaftliche und historische Grundsatzfragen: Darf ein seriöser Geschichtsschreiber, wie der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes jedenfalls einer sein will, einzelne Erzählzüge oder ganze Episoden einfach erfinden? Wie viel Wirklichkeitsgehalt muss umgekehrt auch eine ganz und gar erfundene Geschichte gleichwohl haben, um von ihren Leserinnen und Lesern akzeptiert zu werden?
Aufgrund des kanonischen Rangs der umstrittenen Texte verbinden sich mit diesen Fragen theologische Probleme: Schwindet mit der historischen Verlässlichkeit auch die theologische Wahrheit der neutestamentlichen Erzählungen? Anders gefragt, gibt es einen historischen Kern, ohne den auch theologische Behauptungen letztlich gegenstandslos werden? Diese Fragen sind alle nicht neu, aber sie haben sich keineswegs erledigt. Im exegetischen Alltagsgeschäft werden sie weitgehend ausgeblendet oder durch un­ausgesprochene Vorannahmen stillgestellt. Das ist einerseits verständlich und notwendig, weil auch die Kunst der Textauslegung letztlich mehr Zeit erfordert, als in einem kurzen Forscherleben möglich ist. Andererseits darf es nicht zu einer Betriebsblindheit führen, die Zeugnisse des Glaubens wahlweise nur noch als historische Dokumente oder schöne Geschichten, jedenfalls ohne theologischen und existentiellen Wahrheitsanspruch liest. Marius Reiser ist einer der Wenigen, die seriöse philologische und historische F orschung regelmäßig mit grundlegenden Fragen einer theologisch verantworteten Hermeneutik des Neuen Testaments ver-binden.
Diesem Zweck dient auch sein neues Buch, das in den exegetischen Kapiteln III–V auf Erstveröffentlichungen aus den Jahren 2001–2013 zurückgeht (114–247), denen die Grundsatzkapitel I und II sowie eine Vorbemerkung vorangestellt sind (13–113). Die Vor-bemerkung dient der Begriffsklärung (13–16). R. unterscheidet zwischen Metaphern als Sprachfiguren, denen die Gleichnisse zugehören, und Symbolen als anschaulichen Gegenständen oder Handlungen, zu denen er die Wunder rechnet. Beide verwiesen zeichenhaft auf das Reich Gottes, nur die Wunder bewiesen indes, dass es auch realisierbar sei. »Der Beweis der Realisierbarkeit setzt natürlich voraus, dass die Wunder tatsächlich geschehen sind. Wenn sie erfunden sind, dann sind die Wundergeschichten lediglich Sprachfiguren, das heißt: Gleichnisse.« (15; ähnlich 99.128)
In Kapitel I (17–62) vergleicht R. Geschichtsschreibung und historischen Roman als zwei Darstellungsformen von Geschichte, wobei er den Bogen von Homer bis zu den historischen Romanen des 19. und 20. Jh.s spannt. Dabei stellt er eine grundlegende Ge­meinsamkeit bezüglich der historischen Fakten fest: »Zur Wahrheit wird ein Faktum erst, wenn es richtig erfasst, sachgemäß dargestellt und vor dem zugehörigen Hintergrund und Zusammenhang gedeutet wird.« (19) Zum Gewährsmann wird Alfred Döblin, den R. mit den Worten zitiert: »Der Historiker, falls er nicht simpel Chronologe ist, will das Bild einer abgelaufenen Realität heraufbeschwören, der Romanautor – auch, jedoch ein kleineres, aber volleres und konkreteres.« (45) Ein solches Bild könne auch der Histo-riker »nur auf dichterischem Weg herstellen« (29), weil nur auf diesem Weg die einzelnen Ereignisse zur Einheit der Geschichte zu­sam­mengebunden werden könnten. In diesem Sinne ordnet R. die Evangelien samt der Apostelgeschichte der antiken Geschichtsschreibung zu, wobei er begrifflich unterscheidet (Kapitel II: 63–113): Insofern sie durchgehend literarisch gestaltet sind, sind sie fiktional; insofern sie erfundene Geschichten beinhalten, sind sie in diesen Teilen fiktiv. Die Wahrheit dieser »fiktiven, gleichnishaften Züge und Erzählungen« liege dabei »auf der symbolischen Ebene« (99), indem sie z. B. mit einer erfundenen Kindheitsanekdote eine historisch zutreffende Aussage über den Charakter einer Persönlichkeit machten. Ein Beispiel dafür, wie historisches und symbolisches Erzählen Hand in Hand gehen können, ist für R. (Kapitel III: 114–170) die lukanische Weihnachtserzählung, deren erster Teil (Lk 2,1–7) historisch Zutreffendes berichte, während der zweite Teil (Lk 2,8–20) eine symbolische Deutung des Geschehens biete. Die Magiererzählung in Mt 2 bestimmt er hingegen als »eine auf historischen Gegebenheiten beruhende symbolische Erzählung, also das, was man in der Literaturwissenschaft eine Legende nennt« (157). Dasselbe gelte auch für die Verklärungsgeschichte in Mk 9,2–10 (Kapitel IV: 171–191). Anders beurteilt R. indes die Erzählung von der Schiffsreise des gefangenen Paulus nach Rom in Apg 27,1–28,16 (Kapitel V: 192–247). Für die verbreitete Forschungsmeinung zitiert er die Einschätzung von Alfons Weiser, wonach Lukas »eine mit Elementen des antiken Romans durchsetzte und im Wir-Stil abgefasste literarische Seefahrt- und Schiffbruchschilderung verwendet« habe (194). Dagegen hält R. die Erzählung für einen bis ins Detail korrekten historischen Bericht, dessen Parallelen er in der Ge­schichtsschreibung ausfindig macht und dessen theologische Be­deutung Lukas durch die Stilisierung der Paulusfigur hervorgehoben habe.
R.s Buch ist eine anregende Lektüre, weil er eine Fülle einschlägiger Quellen gekonnt ausbreitet, historische und archäologische Befunde miteinbezieht und zugleich philosophisch-hermeneutische Fragen der Textauslegung und Geschichtsdeutung in seine Überlegungen miteinbezieht. Allzu selbstverständlich gewordene Forschungspositionen, wie z. B. die Erklärung der neutestamentlichen Erzählweise vom antiken Roman her oder die Einstufung der Erzählung vom Schiffbruch des Paulus als historisch wertlos, vermag er mit guten Gründen in Frage zu stellen. Schwierig zu folgen wird es dort, wo er selbst nicht mehr argumentiert, sondern ein symbolisches Wirklichkeitsverständnis erratisch einem von der Aufklärung geprägten Weltbild entgegenstellt. Dabei widerspricht er sich zum Teil selbst, wenn er einerseits darauf besteht, dass die biblischen Wundererzählungen auf historischen Tatsachen beruhen müssen, um als Symbole wirken zu können, andererseits aber die »Wahrheit der symbolischen Aussage« von Erzählungen wie im Judit-, Tobit- oder Esterbuch betont, die nicht nur »in historischer Hinsicht viel Zweifelhaftes an sich haben« (21), sondern ganz und gar erfunden sind. Man möchte sagen: genauso erfunden wie die Verklärungsgeschichte oder die Unterweltreise des Odysseus (68 f.), deren eminenter Symbolwert dadurch um nichts geschmälert wird.