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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

563–565

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Witte, Markus

Titel/Untertitel:

Das Buch Hiob. Übers. u. erklärt v. M. Witte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. L, 698 S. m. 5 Abb. = Das Alte Testament Deutsch. Neubearbeitungen, 13. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525516430.

Rezensent:

Jürgen van Oorschot

Auf dem Hintergrund von annähernd 20 Jahren Studien zum Hiobbuch legt der Berliner Alttestamentler Markus Witte eine dichte und materialreiche Kommentierung der umfänglichen 42 Kapitel dieses alttestamentlichen Buches vor, die nicht nur die ganze Vielfalt dieser wirkmächtigen Schrift erschließt, sondern von ihr ausgehend zugleich Einblicke in altorientalische sowie alttestamentlich-frühjüdische Hintergründe und ausgewählt auch in die breite Wirkungsgeschichte des Textes und Stoffes ermöglicht. Damit liegt nun auch in deutscher Sprache ein wissenschaftlicher Kommentar vor, der die breit gefächerte Forschung der letzten 25 Jahre reflektiert, eine klare eigene These zum Verständnis des Buches entfaltet und dies mit einer theologisch interessierten, hermeneutisch umsichtigen Profilierung der unterschiedlichen Stränge der Schrift zu verbinden weiß. Der Anlage der Kommentarreihe entsprechend gelingt hier ein Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Forschung und einer Lektüre, die schlicht Interesse an und die Bereitschaft zur Wahrnehmung der Quellentexte mitbringt (wobei der stolze Preis des Bandes manche interessierte Leserschaft abschrecken dürfte).
Nach einer 36-seitigen Übersicht zur Literatur informiert der Kommentar auf 74 Seiten über wesentliche Fragestellungen, welche die Debatten zum Verständnis des Buches gegenwärtig berühren, und gibt dabei zugleich Rechenschaft über das eigene Grundverständnis. Die Einleitung ist knapp, verständlich und informiert über die zentralen Gesichtspunkte. Wer an den Fach­debatten interessiert ist, bekommt vor den Abschnitten jeweils er­gänzende Literaturhinweise. In der Übersicht legt W. besonderen Wert auf Sprache und Text (4.), Stil- und Sprachformen (5.) sowie auf die historische Tiefe des Hiobbuches in seinem literarischen altorientalischen wie antiken Kontext (7.), seiner Entstehung (8.) und Wirkungsgeschichte (9.). Insbesondere zur Redaktionsgeschichte des Hiobbuches legt er eine seit seiner Dissertationsschrift (1994) sukzessive entwickelte Gesamtsicht vor. Die lange Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Buches wird dabei als kritischer Diskurs im Spannungsfeld von weisheitlicher Erfahrungstheologie und Formen von Offenbarungstheologie verstanden, Letztere etwa greifbar in Textbereichen der Tora. Das diskursive Miteinander dieser Stimmen lasse sich auch als »sinnvolle li-terarische Einheit lesen.« (45) Die Kommentierung W.s will der Le­serin und dem Leser die Tiefendimension dieser Debatten er­schließen und damit die unterschiedlichen, teilweise sich widersprechenden Sinndimensionen durchsichtig machen. Wenn er dies mit der »Besichtigung einer über Jahrhunderte erbauten und ausgestatteten Kathedrale« (51) vergleicht, wird Anspruch und der Differenzierungsgrad des Unternehmens deutlich. Der modellhaft zugrunde gelegte Bauplan umfasst sechs Phasen, ergänzt um eine Zusammenstellung von Ergänzungen und Glossen (Übersicht, 57–59), und fußt dabei forschungsgeschichtlich auf Analysen von Victor Maag (1982), Jacques Vermeylen (1986; 2015), Theresia Mende (1990), Markus Witte (1994), Wolf-Dieter Syring (2004), Jürgen van Oorschot (2007), Urmas Nõmmik (2010), Roger Marcel Wanke (2013; 2015) und Stephan Lauber (2013) (51).
Im Hintergrund der ersten literarisch greifbaren Werke der biblischen Hiobtradition findet W. eine Erzählung von einem sich im Leiden bewährenden Hiob, die ihre zunächst selbständige Ausgestaltung in einer Hiobdichtung A in Hi 3,2–39,30* und einer Hiobnovelle (HN) in Hi 1,1–17* fand. Beide Fassungen des Stoffes stammen aus der Perserzeit und werden zunächst getrennt überliefert sowie getrennt redaktionell bearbeitet. So erfährt die Hiobdichtung A eine Fortschreibung durch eine anthropologisch-harmatiologische Niedrigkeitsbearbeitung hin zur Hiobdichtung B, die theologisch noch das spätdeuteronomistische Sündenverständnis übertrifft (Dtn 9) und vergleichbar torakritisch auftritt, wie es W. auch für die Hiobdichtung A herausarbeitet. Zu einer Verknüpfung der selbständigen Hiobnovelle und Dichtung (B) kommt es nach W. in spätpersisch-frühhellenistischer Zeit durch eine Buchr edaktion, die vor allem den Novellenstoff erweitert, ansonsten »die Bewahrung der unterschiedlichen literarischen Behandlung der Hiobthematik in einem Werk« als leitende Idee hat. (54) Diese Bearbeitungsstufe zum »Buch A« zeigt damit ein begrenzteres redaktionelles Profil als die sonstigen Fortschreibungen, sieht man von der Verschärfung der Fremdheit Gottes und dem Motiv des Leidens als Test für Hiob einmal ab. Eine Elihuredaktion (Buch B – »gerechtigkeitstheologische und leidenspädagogische Lösung – Annäherung an die Theologie der Torah« [58]) und eine Majestätsredaktion (Buch C – »Aufwertung Hiobs als Reaktion auf die Elihureden und theologisch-philosophische Lösung mit Nähe zur ur­sprünglichgen Hiobdichtung [HD] und zur Buchredaktion [BR]« [58]) ergänzen prägnante Momente in den Fassungen Buch B und C. In einer 6. Fortschreibung ergänzt eine Gerechtigkeitsredaktion als Endredaktion punktuelle Momente am Hiobbild hin zu Buch D (»weitere Aufwertung Hiobs und Restitution des Vergeltungsgedankens – stärkste Annäherung an die Theologie der Torah« [59]). Zusätze unterschiedlicher Herkunft und Glossen beenden diesen Prozess, auch wenn diese Aufstellung eher als eine Liste unbeantworteter Zuordnungs- und Auslegungsfragen zu lesen ist. Insgesamt liegt mit dieser Gesamtsicht zur Entstehung des vorliegenden Hiobbuches ein Entwurf vor, der zu einer differenzierten Lektüre dieses bis ins ausgehende 3. Jh. v. Chr. gewachsenen kritischen Diskurses einlädt. Das Modell einer ursprünglich selbständigen Dichtung und Novelle knüpft in veränderter Form an Debatten der 1950er Jahre an und reiht sich in eine Mehrzahl neuerer ähnlicher Vorschläge der letzten Jahre ein.
Die orientierenden Auskünfte der Einleitung (1–74) haben ihre Plausibilität und erschließende Kraft in der anschließenden Kommentierung (75–697) zu erweisen. Sie erfolgt in gleichbleibender Gliederung (Übersetzung mit textkritischen Anmerkungen; Aufbau und Sprachformen mit Gliederung, Struktur und Sprachmus-ter; Text- und Literargeschichte; Einzelauslegung). Die Frage nach den Sprachmustern verbindet die methodisch ehemals getrennten form-, motiv- und traditionsgeschichtlichen Hinsichten. Im Rahmen der Text- und Literargeschichte werden die in der Einleitung thetisch benannten Redaktionsschichten und Horizonte im Einzelnen begründet und in ihrem sprachlichen sowie inhaltlichen Profil sichtbar. Am umfänglichsten widmet sich die Einzelauslegung den Aussagen und Kontexten. Dabei gibt es nur sparsame Hinweise auf die Sekundärliteratur, was der Eigenart der Kommentarreihe entspricht. Umso reichhaltiger sind die Verweise auf die (diachronen und synchronen) Nahkontexte des Hiobbuches, auf Querbezüge in anderen alttestamentlichen Schriften, auf er­l äuternde Referenztexte in altorientalischer, frühjüdischer und gelegentlich auch griechisch-hellenistischer sowie rabbinischer Literatur. Die Hintergründe von Begriffen, Motiven, Redewendungen und Bildern werden erschlossen, so dass die Aussagen des Hiobbuches im Netzwerk ihrer unterschiedlichen Kontexte zur Geltung kommen. So erschließt sich der ganze Reichtum der Texte in und mit ihren Kontexten. Hilfreich ist es dabei, dass Referenztexte immer wieder in Petit wiedergegeben werden. Knappe und informative Exkurse ergänzen die Kommentierung und bieten wiederholt kleine Kunstwerke alttestamentlichen Elementarwissens.
Trotz der annähernd 770 Seiten kommt dieser Kommentar nirgends geschwätzig daher. Durchgängig bemüht W. sich um eine dichte und prägnante Sprache in Übersetzung und Kommentierung. Thesen, Ausführungen und Verweise werden vor allem durch Quellentexte belegt, behutsam ergänzt durch Stimmen aus der Forschungsdebatte. Das dichte Netz an Verweisen ermöglicht es der Leserschaft, die Kommentierung zum Ausgangspunkt weiterer Erschließung von Sachverhalten anhand einer eigenen Lektüre der Quellen zu machen. Zugleich verknüpft der Kommentar eine diachrone, mehrdimensionale Auslegung mit der immer erneuten Lektüre der abschließenden Buchgestalt (vgl. etwa zu Hi 28 – 422–431 und 436–437) und bücherübergreifenden Diskursen etwa zur Tora oder den Möglichkeiten und Grenzen von Erfahrungswis-sen. Dass es in der Mehrstimmigkeit der Diskurse auch um eine theologische und anthropologische Debatte geht, macht dieser Kommentar immer wieder durchsichtig. So kann dieses opus magnum allen am Hiobbuch Interessierten nachdrücklich empfohlen werden und auf den Spuren der vielschichtigen Hiobtexte zugleich zu einem Einstieg in ganz unterschiedliche Bildungserlebnisse werden, wie es einem bei der »Besichtigung einer über Jahrhunderte erbauten und ausgestatteten Kathedrale« (51) widerfahren kann.