Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

488–491

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bader, Günter

Titel/Untertitel:

Lesekunst. Eine Theologie des Lesens.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XV, 580 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 76. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161568572.

Rezensent:

Hans-Christoph Askani

Eine Besprechung des Buches Lesekunst des früheren Zürcher, dann Bonner Systematikers Günter Bader kann nicht im strengen Sinne eine Rezension sein. Sie kann nur ein Hinweis sein auf dies Buch. Zu anspruchsvoll ist dies Werk, zu reich sind die Perspektiven, die ins Spiel gebracht werden, zu komplex ist die Struktur und zu streng ist die Durchführung, als dass eine zugleich angemessene und kritische Würdigung gelingen könnte. Ja, dies Buch ist überaus anspruchsvoll; es geht in ihm um nicht weniger als darum, einen Begriff von Theologie zu denken, hervorzudenken, der so noch nicht gedacht war. Der anvisierte ist nicht der einzig denkbare Begriff von Theologie, er ist ein »okkasioneller«, wie B. mehrfach sagt (3 f. passim); aber es ist ein möglicher Begriff von Theologie, er hat seine Spezifizität darin, dass er nicht vorliegt, sondern erst hervorkommt.
Gleich zu Anfang des Buchs weist B. auf drei seiner Werke hin (wenn man nicht andere, wie die Symbolik des Todes Jesu [1988], wie Psalterium affectuum palaestra [1996] kennte, könnte man wagen, sie seine Hauptwerke zu nennen), die, wie Türme in die »Höhe geführt«, so zueinander stehen, dass »ihre Spitzen sich zwar zu-neigen, aber nicht berühren« (VII). Es geht um Die Emergenz des Namens (2006), Psalterspiel (2009) und eben nun um die Lesekunst. Sie stehen miteinander in Beziehung nicht nur, indem im jeweils einen Themen der anderen vorkommen, ja vorkommen müssen (so etwa in der Lesekunst der »Psalter«, dem ein ganzer Paragraph gewidmet ist, oder der »Name Gottes«, der wohl den innersten glühenden Kern der Lesetheologie bildet), sondern mehr noch in der eigentümlichen Weise ihrer gegenseitigen Nähe und Ferne. Mit »sich zuneigen«, ohne »sich zu berühren« hat B. sie beschrieben. Würden sie sich gar nicht aufeinander hinbewegen (und selbst dieser Ausdruck ist vielleicht schon zu stark), wären es drei Einzelabhandlungen; würden sie sich berühren, würde ein System aus ihnen. Jenes System, das dann die Theologie B.s wäre. Aber in diesem Sinn hat B. keine Theologie. Seine Theologie ist vielleicht diese merkwürdige Ausrichtung und Offenheit, diese merkwürdige Bewegung eines sich beinahe Berührens. Eine Bewegung, die nicht von der Theologie ausgeht, über die ihr Autor verfügte, die er verfasste und ausgestaltete […], sondern die sich von verschiedenen Ausgangspunkten erhebt in jeweils gründlichster und zugleich gewagtester Konstruktion, damit ihr vielleicht – in ihrer Nicht-Vollendung – die Theologie entgegenkäme. Nicht dass der Autor darauf hinauswollte; aber seine Intuition ist: Sie ist so nah, dass sie zugleich so fern ist. Und umgekehrt. (»So nahe liegen Dinge beieinander, die in Wirklichkeit so fern sind[.]«, heißt es S. 34.)
Seine Haltung zur Theologie ist also nicht, dass er ihr bestallter Verwalter wäre, der sich in ihr ergeht, seine Haltung zur Theologie ist, dass er in ihrem Kommen steht, auf ihr Kommen sich öffnet, aber alles tut, um es aufzuhalten. Denn nur dann stellt die Theologie sich wirklich ein, wenn sie – mit einer in seinem Werk immer wieder auftauchenden Wendung formuliert – es »nicht nicht« könnte.
So ist auch das vorliegende Buch von einer permanent gegenläufigen Bewegung geprägt: Der Gedankengang geht mit einer auf jeder Seite spürbaren Energie der Ent-deckung der »Lesekunst« entgegen, aber er unternimmt doch die größten Anstrengungen, er geht die verzweigtesten Umwege, um diese Entdeckung so lange hinauszuzögern, wie es irgend möglich ist. Nicht um das Buch spannend zu machen, sondern um die Frucht seiner Bemühung nicht vor der Zeit – und also etwas ganz anderes als diese Frucht – zu ernten. Die nicht weniger wichtige Bewegung als die des Gedankenfortschritts ist also die des Vermeidens herandrängender Ge­danken, die sich als griffige Lösung, als bereits angekommen präsentieren. (Zum »Hinauszögern« bzw. »Aufschieben« vgl. 161.177. 179.185.228.243.246. passim.) Im Grunde ist wohl bereits die Wahl des Themas: das Lesen, das Lesen als Weg zur Theologie, mit anderen Worten die Bevorzugung der Schriftlichkeit vor der Mündlichkeit (die doch der Theologie so teuer ist) – und die damit einher-gehende Distanz, die damit unweigerlich verbundene Nicht-Ur­sprünglichkeit – ein Unternehmen solchen Hinausschiebens, solchen Aufschubs.
»Compliquons, compliquons encore!«, hat Paul Ricœur einmal gesagt. Es ist, als hätte B. sich den Anspruch des französischen Philosophen zum eigenen, geradezu exzessiv ausgeführten Wahlspruch gemacht. Aber nicht um der Lust des Komplizierens willen (das vielleicht nebenbei auch), sondern weil das ohne solche Komplikationen verfolgte Ziel das Ziel nicht wäre, um das es geht. Nach Lesen muss man ja nicht fragen, wir wissen ja, was es ist; für Theologie muss man sich doch nicht offenhalten, wir betreiben sie doch schon! Allerdings, wenn man anfängt, hier zu fragen, dann nimmt die Bewegung des Denkens an Fahrt auf und erstreckt sich in Verzweigungen, deren kein Leser sich vor dem Durchgang durch dies Buch versehen hätte. Wohl aber der Autor. Dass es ein Werk ist, das aus jahrzehntelanger Vorbereitung hervorgegangen sein muss, springt in die Augen angesichts der geradezu stupenden Gelehrtheit, in der B. sich Horizonten stellt, die sich auf seinem Denkweg eröffnen. (Als Beispiel unter beinahe unzähligen verweise ich darauf, wie B. Derridas Aristoteles-Kritik der Eingangspassage von De interpretatione diskutiert, 106 ff.)
Die lange Herkunft des Buches wird auch belegt durch immer wieder gegebene Hinweise auf frühere Texte des Autors, in denen das Thema ihn schon beschäftigte oder ihm schon vorschwebte. Der erste dieser Texte ist der Aufsatz »Theologia poetica« von 1986, erwähnt S. 171, es folgen »Selig, der da liest« (1999), erwähnt 16, »Über die Verfertigung von Theologie im Vorgang des Lesens« (2006), 31, »Asymmetrien des Lesens« (2009), 33. Aber eben auch die angesprochene Gelehrsamkeit ist kein Selbstzweck, sie ist dem Drängen des Denkens untergeordnet oder besser gesagt eingeschrieben. Nicht in erster Linie ein gelehrtes, sondern in erster Linie ein strenges und ein überaus komplexes, geradezu kunstvoll komplexes Werk ist dies Buch.
B. erläutert an strategisch entscheidenden Stellen immer wieder seinen Aufbau. § 1 »Theologie des Lesens« und § 10 »Lesekunst« umrahmen acht Paragraphen, welche Begriffspaare thematisieren, die bewusst asymmetrisch angelegt sind. Nähme man jeweils nur die eine Hälfte des Begriffspaars (die linke) so ergäbe sich eine schöne Reihe vom Elementarsten zunächst zum Weitesten und dann zum Höchsten. Die Folge würde lauten: Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift. Stattdessen heißt es: »Buchstabe und Laut« (§ 2), »Schrift und Sprache« (§ 3), »Text und Rede« (§ 4) usw. Worin besteht der Unterschied? Im ersten Fall würde eine Theorie von Text und Lesen präsentiert, was aber Lesen ist und was Text ist, wäre als verstanden schon vorausgesetzt. Das gäbe nach dem Anspruch B.s gerade keine Theologie des Lesens. In dieser muss, was Lesen, was Text ist, erst herausgearbeitet werden bzw. sich herauskristallisieren. Damit dies möglich wird, muss die Reihe gestört werden; das geschieht, indem dem jeweils linksseitigen Begriff auf der anderen Seite einer gegenübergestellt wird, der ihn nicht so sehr ergänzt als vielmehr irritiert. So wird ihre Beziehung zuein-ander weniger thematisiert, als vielmehr ausgetragen, als eine der Spannung und des Ungleichgewichts, in welche die sich begegnenden Begriffe hineinziehen. Nehmen wir nur das erste Begriffspaar »Buchstabe und Laut«: Müsste nicht in der Theologie der »Buchstabe« sogleich auf den »Geist« hinauswollen, in dem er seine Erfüllung findet, oder wenn schon dies nicht, so doch dem lebendigen Laut den Vorzug sich selbst gegenüber zusprechen (»viva vox Evangelii«)? Das sind in christlicher und insbesondere evangelischer Theologie sehr bekannte Gedanken, von deren vorausgesetzter Allgemeingültigkeit sich B.s Buch weit entfernt.
Gerade die Konzentration, die methodische Bescheidung im Rückgang auf das Lesen soll dem »Übermut« der theologischen Spekulation Einhalt gebieten. Wäre es möglich, dass an einem einzigen Punkt, von dem jeder Überschwang abgebremst wird, etwas aufbricht, was sich nicht mehr leugnen lässt? Dieser Punkt wäre hier das Lesen, von dem jede metaphorische Ausweitung und Überhöhung mit Strenge ferngehalten wird. Aber eben dann zeigt sich, dass Lesen – auf reine Literalität reduziert – sich doch zu regen beginnt, und sozusagen aufspringt (wie man von einer Knospe sagt, dass sie aufspringt) zu einem zweifachen, sich verdoppelnden Lesen. Lesen wird unweigerlich zu »Lesen und Lesen«. »Wo immer Lesen ist, zeigt es sich in der Gestalt von Lesen und Lesen«, heißt es in Aufnahme eines Gedankens von W. Benjamin, der vom »Doppelsinn« des Lesens spricht (188, vgl. 196).
»Wie kommt das Wort Gott in den Text?«, fragt B. (vgl. 172). Wenn man der Hypothese des Buches folgt, die mit dem ersten Satz angekündigt ist (»Theologie des Lesens ist ein asymmetrischer Argumentationsgang, der […] es für unausbleiblich erklärt, dass einer, der mit Lesen beginnt, in dessen Verlauf zu einem Theologen wird« [VII]) und die am Ende des Buches in konzentrierter Form wiederkehrt (»Lectio facit theologum« [524 ff.]), wenn man also davon ausgeht, dass im Lesen das theologisch Entscheidende sich abspielt, muss man dann nach allen Ausführungen des Autors nicht sagen, Gott kommt in den Text, wenn Lesen sich verdoppelt, wenn es sich auffaltet? (Darum auch die beiden aus der vorhin angedeuteten Reihe herausfallenden und strategisch entscheidenden §§ 5 und 9: »Lesen und Lesen«, »Lesen und Nicht-Lesen«.) Was ist damit gewonnen? Die methodische Prämisse ist eingegolten, dass alles übermütige, wohlfeile Ausholen, das vermeint, je weiter es seine Kreise zieht, umso sicherer würde es auch Gott in sich einbegreifen, vermieden wird. Umgekehrt – und auch das ist ein Gewinn – wird entdeckt, dass der engste Punkt, auf den das Denken nun ausgeht, ein Punkt nicht bleibt, sondern aufplatzt; dass im engsten Raum, aber wirklich nur im engsten, eine Weite sich einstellt, die nicht mehr gemacht, die nur zu empfangen ist.
Erinnern wir uns an die Titel der drei »Hauptwerke«: »Psalterspiel«, »Lesekunst«, »Die Emergenz des Namens«. Für den letztgenannten hatte B. im Nachhinein auch »Namensrühmung« erwogen. Es wäre im Vergleich zu den anderen eine Silbe zu viel gewesen: vier statt drei. Aber nicht um die Zahl der Silben geht es, sondern um die Komposition. Ein Buch mit dem Titel »Name« oder »Lesen«, selbst »Psalter« wäre schwer denkbar, schwer erträglich. Der Titel würde zu Boden fallen wie ein Stein. Dem muss man entgegenhalten, wie Worte wie »Psalterspiel«, »Lesekunst«, »Namensrühmung« den engstmöglichen Raum einnehmen und doch aufgehen. Man hört ihnen an, wie hier alles ganz nahe beisammen und doch nicht ein eines ist. Man muss sich das auf der Zunge oder im Ohr zergehen lassen. Dies Aufbrechen, Auseinandertreten ist das Sich-Einstellen, das Ankommen von Theologie in jenem unwiderstehlichen, dem Theologen aufgegebenen Sinn, der B. vorschwebt.