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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

471–472

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Vorträge und kleinere Arbeiten 1935–1937. Hg. v. L. Kratzert u. P. Zocher.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2021. XXX, 826 S. = Karl Barth-Gesamtausgabe. Abtl. III, 55. Lw. EUR 115,00. ISBN 9783290182588.

Rezensent:

Frank Jehle

Wie fast immer ist das Erscheinen eines neuen Bandes der Karl Barth-Gesamtausgabe auch in diesem Fall ein Ereignis für alle, die an Theologie- und Zeitgeschichte interessiert sind. Das dicke Buch umfasst Texte vom Hochsommer 1935 bis zum Frühsommer 1937. Barth war gezwungenermaßen aus Deutschland in die Schweiz zurückgekehrt. Am 8. Juli 1935 bezogen er und die Seinen die neue Wohnung in Basel. Charlotte von Kirschbaum folgte wenige Tage später. Es galt, sich am neuen Ort einzuleben und sich auf die Professur an der Theologischen Fakultät vorzubereiten.
Der Band beeindruckt zunächst dadurch, dass er die schier un­glaubliche Vitalität und Arbeitskraft des 49-Jährigen dokumentiert. Nicht nur musste Barth neben seinen ordentlichen Lehrveranstaltungen die Antrittsvorlesung am 6. Mai 1936 über den »vernünftig-orthodoxen« Basler Theologen Samuel Werenfels und einen vielbeachteten Aulavortrag über »Die Grundformen des theologischen Denkens« am 3. November 1936 vorbereiten (es gehörte dies zum courant normal), sondern er nahm fast pausenlos Einladungen zu Vorträgen in der Schweiz und weitherum in Europa an. Einmal kehrte er für seinen epochemachenden Vortrag »Evangelium und Gesetz« auch nach Deutschland zurück, wo es zu Schwierigkeiten mit der Polizei kam. Wichtig waren Vortragsreisen in Osteuropa.
Inhaltlich ist das Spektrum breit. In vielen Vorträgen und Artikeln behandelte Barth den deutschen Kirchenkampf. Die Texte zu diesem Thema liest man mit großem Gewinn, unter anderem den Vortrag vom 23. April 1937, den er auf Einladung der Basler Sektion des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbands hielt. Nicht nur Gewerkschaftsangehörige kamen zu Hunderten in den großen Saal des Volkshauses. Da 1936 ein Calvin-Jahr war (400 Jahre Institutio), ergriff Barth an mehreren Festveranstaltungen das Wort. Sein ehemaliger Mentor Adolf Keller lud ihn zu einer Vorlesungsreihe und einem Seminar an einem ökumenischen Ferienkurs in Genf ein, wo Barth ein erstes Mal in einen engeren, vorerst eher zurückhaltenden Kontakt mit der Genfer Ökumene geriet.
Besonders herausgegriffen – weil auf Deutsch bisher nicht publiziert (nur englisch und französisch) – sei der Text »Das christliche Verständnis der Offenbarung«. Barth schrieb ihn auf Bestellung für einen Sammelband zur Vorbereitung der Weltkonferenz des Ökumenische Rats für Praktisches Christentum, die im Sommer 1937 in Oxford stattfand. Es ist ein dichter und anspruchsvoller Text. Charakteristisch für Barths Christozentrik – wenn nicht sogar Christusmonismus – ist die These, das christliche Offenbarungsverständnis sei unlösbar an den Namen Jesus Christus ge­bunden. Doch dann fährt Barth fort, dass es ein Missverständnis wäre, wenn wir als Angehörige der christlichen Gemeinde uns ein bilden würden, Gott in Jesus von Nazareth gewissermaßen zu »besitzen«. Ein fundamentalistisches Verständnis des christlichen Glaubens wird abgelehnt: Die heilige Schrift ist zwar »Zeichen der Offenbarung« (273 f.), aber sie ist nur Zeichen und nicht die Offenbarung selbst! Dasselbe gilt von Wort und Sakrament. Diese sind zwar unentbehrlich: »[W]ie sollten wir heute glauben, wenn das biblische Zeugnis nicht auch heute wiederholt würde?« (275) Aber keines von beiden wirkt »durch sich selbst«, sondern »nur durch die Kraft der von ihnen bezeugten Offenbarung« (ebd.).
Und damit zu den Herausgebern des vorliegenden Bandes: Lucius Kratzert und Peter Zocher – teilweise sich stützend auf die vieljährige Vorarbeit vieler anderer. Sie erreichten bei der Edition dieser Barth-Texte ein kaum mehr überbietbares Niveau. Die Register und Anmerkungen (teilweise dreistöckig) lassen kaum Wünsche offen und nehmen mindestes die Hälfte des Buchs ein.
Etwa bei »Das christliche Verständnis der Offenbarung« wird in der Einleitung minutiös die komplexe Entstehungsgeschichte des Textes aufgerollt, vom Manuskript über das Typoskript bis zur englischen Druckfassung. Da Barth hier auf Wunsch seiner Auftraggeber und Übersetzer nachträglich Ergänzungen lieferte, die nur auf Englisch erhalten sind, wurden sie in den Fußnoten abgedruckt und zusätzlich ins Deutsche zurückübersetzt. Und im Anhang besteht erst noch die Möglichkeit, das Ganze auf Englisch im Zusammenhang zu lesen. Dazu kommen unzählige, teilweise ausführliche Zitate aus dem Briefwechsel Barths und ergänzende Hinweise aus anderen Publikationen, unter anderem Parallelstellen in der Kirchlichen Dogmatik. Zu den meisten der im Buch so­wohl im Haupttext als auch in den Fußnoten vorkommenden Personen gibt es informative Biogramme. (Der Name Adolf Hitler wird allerdings als bekannt vorausgesetzt!)
Man mag sich fragen, ob die Kommentierung gelegentlich nicht fast zu weit geht, etwa wenn zur Bemerkung Barths, dass Faust bei Goethe »Im Anfang war das Wort« mit »Im Anfang war die Tat« übersetzte, im Anmerkungsapparat gleich die ganze Szene – nur leicht gekürzt – zitiert wird. – Aber was soll’s? Die Herausgeber haben vielleicht Recht. Wir leben in einer Zeit, in der eine klassische Bildung nicht mehr bei allen, die sich für Karl Barth interessieren, vorausgesetzt werden kann. Ihnen die Barth-Lektüre so leicht wie möglich zu machen: Lucius Kratzert und Peter Zocher ist dies in einem hohen Maß gelungen.