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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

468–471

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Assel, Heinrich [Hg.]

Titel/Untertitel:

Karl Holl. Leben – Werk – Briefe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VI, 499 S. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161558467.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Der Titel ist Programm. Er nennt nur den Namen des Mannes, der Gegenstand des Buches ist: Karl Holl. Erst das Vorsatzblatt differenziert: Leben – Werk – Briefe. Heinrich Assel, der Herausgeber und langjährige Holl-Forscher, versammelt 16 Beiträge, die auf eine Greifswalder Tagung aus dem Jahr 2016 zurückgehen, um ein Gesamtbild von Person und Werk Holls zu geben. Ein solches hatte in der Tat bis jetzt gefehlt. Historisch-biographische und werkbezogen-thematische Aspekte verbinden sich dabei sachgemäß.
Ein »Biographischer Umriss« Heinrich Assels von fast 130 Seiten eröffnet den Band. Ihm folgen Aufsätze zu »Patristik und Konfessionskomparatistik«, über »Ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Konstellationen« und schließlich zu »Luther«. Allerdings vermisst man eine eigene Abteilung »Briefe«, die mindestens die publi-zierten Korrespondenzen noch einmal vorstellt; unveröffentlichte Briefe kennenzulernen, darf man angesichts des katastrophalen Editionsversagens des Holl-Schülers Robert Stupperich vorerst – und vielleicht überhaupt – nicht erwarten; die Angaben über die unvollständigen Teilausgaben des Briefwechsels (9, Anm. 40) und den verlorenen und erhaltenen Bestand (9 f., Anm. 41 und 42.121 bei Anm. 585.133) lassen es immerhin als möglich erscheinen, dass die inzwischen in Greifswald erfolgte Kollationierungsarbeit einmal Früchte trägt. Bis dahin muss man sich mit den Auszügen begnügen, die Assel in seiner biographischen Skizze (17–126) mitteilt. Dieser Beitrag ist zu ergänzen durch die Angaben zu Holls Lebensgeschichte, die Sabine Drecoll vor allem zu markanten Wendepunkten in Holls akademischer Karriere mitteilt (145–174). Das von der Vfn. stammende, in dem Band (127 u. ö.) erwähnte Manuskript »Biographie Karl Holls 1866–1914« (1998) sähe man, da es als zitabel erachtet wird, gern publiziert.
Wer ein Ganzes zeigen will, muss seine Teile vorstellen und wird zwangsläufig auf seine Grenzen stoßen. Beides geschieht, auf un­terschiedlich deutliche Weise, in diesem Band. Staunenswert ist der Arbeitsumfang, den Holl bis zu seinem frühen Tod im 60. Lebensjahr absolviert hat; vielfältig sind die Themen, denen er sich zugewandt hat; angespannt erscheint der berufsbiographische und wissenschaftshistorische Kontext, in dem er zu wirken hatte; beeindruckend ist die intensive Ernsthaftigkeit in seinem Umgang mit Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Die beste Einführung in diese Zusammenhänge gibt der Beitrag von Christian Nottmeier, der unter dem Titel »Freundschaft und Entfremdung« das Verhältnis von Karl Holl und Adolf von Harnack als Prisma wählt, durch das die vielfältigen Strahlen von Leben und Werk Holls farbig sichtbar werden (283–313). Harnack hatte ja Holl von seiner Studienzeit bis zu seinem Lebensende begleitet: als Lehrer in seinem Gießener Studienjahr, als Vorgesetzter in seiner Berliner Editionstätigkeit bei der Kirchenväterkommission, als Kollege an der Berliner Fakultät, auch als wissenschaftlicher und poli- tischer Opponent in jenen späten Berliner Jahren. Durch den Wechsel der Zeiten und der politischen Optionen hindurch kann Nottmeier zeigen, dass die gemeinsame Basis in einer von Albrecht Ritschl geprägten, später so genannten »liberalen« Theologie ungebrochen bleibt. Damit wird der Blick geweitet für Konstellationen der Theologie, die über einzelnen Positionierungen hinausreichen; diese Sichtweise spielt dann auch für die Grenzen (nicht nur) von Holls Theologie eine Rolle.
Auf überraschende Weise zurückhaltend bewerten die Patristiker Ekkehard Mühlenberg (über Holls »Enthusiasmus und Bußgewalt«, 175–189), Jörg Ulrich (Lateinische Patristik und Augustin-Interpretation, 190–205) und Christoph Markschies (Karl Holls Arbeiten zur griechischen Patristik, 207–235) die Veröffentlichungen Holls auf dem Feld der Alten Kirche. Nicht, was die philologische und editorische Arbeit an den griechischsprachigen Quellen angeht – da wird, wo immer Holl tätig wurde, seine souveräne Kenntnis und Kommentarfähigkeit in hohen Tönen gelobt; auch von den Altphilologen, wie Marc Bergermann (»Mein alter Epiphanius« über die Epiphanius-Edition, 237–258) hervorhebt, und von den Althistorikern, wie Stefan Rebenich bestätigt (Karl Holl und die Wissenschaften vom Altertum, 343–381), und selbst dann, wenn man methodische Kritik vorbringt (256.357 f.). Die Zurückhaltung gründet sich eher auf die systematische Urteilsgrundlage, von der Holl ausgeht. So ist es (mit Holls eigenen Worten gesagt) das Interesse für »freie, lebendige Frömmigkeit« (184), welches er bei Symeon dem Neuen Theologen schätzt, bzw. »der Glaube an die Erhöhung der Persönlichkeit im unmittelbaren Umgang mit Gott« im griechischen Mönchtum (218), welchen er aus liberaltheologischer Betrachtung hervorhebt. Und auch die Kritik an Augustin, der nach Holl zwischen Selbsterlebtem und Tradition schwankte und Eudämonismus und Prädestination nicht zu einem Ausgleich bringen konnte (201), trägt die Züge dieser modernen theologischen Richtung. Dasselbe gilt auch für das Urteil über Holls ostkirchliche Arbeiten, wie Heinz Ohme zeigt (Karl Holl als Konfessionskundler orthodoxer Kirchen, 259–279); seine Arbeiten haben, einerseits, dem Fach »Konfessionskunde orthodoxer Kirchen bedeutende neue Impulse gegeben«; andererseits waren seine »Zu­gänge zur Orthodoxie und seine Deutungen durchgängig von seiner liberalen und religionsgeschichtlichen Prägung bestimmt« (275).
Von erheblicher Bedeutung ist auf diesem Hintergrund die Einsicht, dass auch Holls Lutherstudien, deren Beginn man etwa vom Anfang des Jahrhunderts annehmen kann, von einem systematischen Interesse geleitet werden (vgl. 44); die beiden Publikationen über die Geschichte der Rechtfertigungslehre (1906) und ihre exis-tentielle Bedeutung (»Was hat die Rechtfertigungslehre dem mo­dernen Menschen zu sagen?«, 1907) geben davon Zeugnis. In dem letztgenannten Vortrag findet sich bereits die Grundfigur, die später durch intensive Luther-Belege historisch abgesichert wird. Danach ist die Rechtfertigung ein antinomischer Durchgang aus dem Tod ins Leben bzw. aus dem göttlichen Gericht, das eine Selbstverurteilung einschließt, in die Anerkennung durch Gott, die auch zu einer Selbstannahme führt. Es ist diese als Erlebnis auftretende religiöse Erfahrung, welche in der Römerbrief-Vorlesung Luthers (1515/16) artikuliert wird, wie sie 1910 veröffentlicht wurde (Andreas Stegmann, Religion – Sittlichkeit – Kultur, 383–411, hier 387). Stegmann urteilt: Holl war »geradezu auf der Suche nach dem richtigen historischen Material für die Bearbeitung des Themas Religion und Sittlichkeit« (386). Bei diesem Thema geht es nicht nur um eine herkömmliche Grundfrage der liberalen Theologie, sondern zugleich um die Klärung einer Lebens- und Gewissheitsfrage des religiösen Menschen Karl Holl. Hinzu kam ein weiterer, historischer Umstand: der Erste Weltkrieg. »Die Jahre des Ersten Weltkriegs wurden zum letzten Anstoß [,] aus der Verbindung von Rechtfertigungslehre und Luther eine auf die Gegenwart zielende Neudeutung von Luthers Theologie zu konzipieren.« (389)
Daraus ergibt sich eine intensive Verknüpfung von rechtfertigungstheologisch begründeter Religion, konstruktiv entfalteter Sittlichkeit und allgemeiner Prägung der Kultur durch die Reformation. Es ist die weithin anerkannte Methode historisch-kritischer Forschung, mittels derer Holl seine systematischen Einsichten zu plausibilisieren vermag. Auch die Entfaltung des entsprechenden Kirchenbegriffs Luthers, der auf der Konstruktion des Gemeinschaftsgefühls und der aus ihm hervorgehenden Verantwortung beruht, ergibt sich von hier aus; dass damit eine Inkonsequenz verbunden sei, wie Bo Kristian Holm in seinem Beitrag über Luthers Kirchenbegriff (413–431) annimmt (415), leuchtet nur ein, wenn man dessen Voraussetzungen über den Gabe-Begriff teilt. Tatsächlich ist Holl »an einer christlichen Überformung der Welt gelegen« (Stegmann, 406): »Die Wiederentdeckung von Luthers Ge­wissensreligion soll dem modernen Menschen die Rechtfertigungslehre nahebringen und damit wahre Sittlichkeit ermöglichen, die als kultureller Gewinn positiv zu Buche schlägt.« (Stegmann, 408)
Gegenüber der Einsicht in diese kulturpraktischen Dimensionen kommt die Frage nach der Kontinuität der Theologie Luthers seit den frühen Vorlesungen auf einem zweiten Rang zu stehen (Christine Svinth-Værge Põder, Karl Holls Entdeckung und Analyse von Luthers Römerbriefvorlesung, 365–381). In ihr ist der Modus der Negation im genannten Übergang von Tod zu Leben bzw. von Gericht zu Rechtfertigung zu erörtern – ein binnentheologisch-religionsphilosophisches Thema.
Die Vorstellung der wichtigsten Aufbauelemente der Theologie Karl Holls lässt den Umriss des Ganzen erkennen – und fordert dazu heraus, die Frage nach den Grenzen zu stellen, also die historischen Konstruktivismen Holls zu kontextualisieren. Der Band selbst bietet dafür als erstes Modell an, das Verhältnis Holls zu Max Weber und Ernst Troeltsch zu diskutieren (Heinrich Assel, 54–56.316–320 u. ö., Alf Christophersen, Umkämpfter Protestantismus. Karl Holls Kritik an Ernst Troeltsch, 315–341, besonders 316–320). Dabei geht es um die prägende Kraft der Religion in der und für die Geschichte. Doch es ist fraglich, ob Holl wirklich als möglicher Antipode zu den beiden Genannten standhalten kann. Gegenüber Weber, der ihm als literarischer Gesprächspartner vertraut ist, fehlt es Holl an einem kritisch-soziologischen Instrumentarium; gegenüber Troeltsch, zu dem der Gegensatz in der gemeinsamen Berliner Zeit – auch aus politischen Gründen – zunehmend wächst, vertritt Holl einen gesellschaftstheoretisch überzogenen Anspruch auf religiöse Gegenwartsgestaltung.
Diese Beobachtungen führen auf die Frage nach der Bestimmung des theologiegeschichtlichen Ortes, den das Werk Karl Holls einnimmt – und damit zugleich auf die Frage nach der Deutung von dessen Folgegeschichte. Fast alle Beiträge dieses Bandes, der doch Holls Theologie im Ganzen darstellen will, verweisen auf eine bleibende Bindung des Autors an die Grundfragen der sogenannten »liberalen« Theologie. Pointiert urteilt Nottmeier: »Holls Deutung der Rechtfertigungslehre Luthers ist […] die Krisendiagnose eines liberalen Theologen, sie ist aber zugleich die Kritik der Aufklärung und des modernen Individualismus im Sinne einer konzeptionellen Überbietung.« (297)
Das beharrlich liberale Moment, das sich durch alle Arbeitsbereiche und Werkphasen Holl hindurchzieht, ist die Auffassung von Religion als Erlebnis (178–180.367.379.389.461 u. ö.); die Frage nach dem Zusammenhang mit dem Erlebnisbegriff Wilhelm Herrmanns ist ein Desiderat der Holl-Forschung (vgl. 21.178.308). Ge­genüber dieser theologischen Konstante ist das Pathos des Neuen, für welches Holl auf Luther zurückgreift, lediglich eine Variation, die sich modernen Begründungsinteressen in den Bereichen von Sittlichkeit und Sozialstruktur verdankt. Der Rekurs auf Luther dient dabei der Verstärkung dieser konstruktiven Intuitionen für Zeitgenossen, die die Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit historischer Forschung schätzen.
Der Vermutung Nottmeiers (305), die liberale Grundposition, die sich um einen nachvollziehbaren und mitverantwortlichen Zusammenhang von Religion und Geschichte bemüht, sei stabiler und neuzeitentsprechender als die vermeintlichen Oppositionen von »rechter« oder »linker« Seite (hier anhand der scheinbaren Opponenten Karl Holl und Karl Barth geäußert), lässt sich einiges abgewinnen; doch das wäre eine andere Debatte.
Was man aber über die Grenze des hier unternommenen Versuchs einer Gesamtdarstellung Holls hinaus bedenken muss, ist die Tauglichkeit der Deutungskategorie »Lutherrenaissance« als einer eigenen theologischen Strömung. Ob man wirklich von »Me­thodenwechsel« sprechen kann, wie Heinrich Assel erwägt (Die Reformationsrede »Was verstand Luther unter Religion« [1917], 447–471, 449), ist fraglich. Es könnte sich lediglich um eine konservativ-nationalistische Variante ehemals auch politisch »liberaler« Theologie handeln – eine Vermutung, die sich angesichts der politischen Orientierungen der Vertreter der »Holl-Schule« (vgl. 120–125) durchaus nahelegt. Auf diese Frage hinzuführen, ist der weitergehende Impuls dieses im Ganzen sehr verdienstvollen Bandes.