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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

464–466

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Meyer-Reichenau, Heinrich A.

Titel/Untertitel:

»Der kecke Griff nach derBibel und die davongetragene Beute«. Studien zu Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 514 S. m. 104 Abb. = Forschungen zur Reformierten Theologie, 11. Kart. EUR 75,00. ISBN 9783788734824.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Ein dickes Buch hat der aus Bremen stammende Pfarrer Heinrich A. Meyer-Reichenau über Gottfried Menken vorgelegt (404 Seiten und 110 Seiten Anhang). Menken hat es verdient. Schließlich wird er in zahlreichen Abhandlungen zur Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jh.s erwähnt, eine Monographie gab es über den Bremer Pfarrer, abgesehen von der freundlichen Biographie seines Schülers Gildemeister, bisher nicht. Verdient hat er es aber nicht nur aufgrund seines viel zitierten Biblizismus, seiner unorthodoxen Sonderlehren und seiner Opposition zur Aufklärungstheologie, sondern auch als Repräsentant einer Übergangszeit, deren Bedeutung für die Ausbildung und Prägung konservativer Positionen im 19. Jh. bisher nur unzureichend erforscht ist. Insofern ist es zu begrüßen, dass der Vf. besonderes Augenmerk auf die theologiegeschichtliche Einordnung sowie auf die für Menken maßgeblichen Einflüsse legt (Kapitel 3).
Stark geleitet wird der Zugriff von den bisherigen Ansichten der Forschung über Menken, in besonderem Maße von Karl Barths wohlwollender Würdigung, die dem Buch den Titel lieferte. Ob­wohl die Forschungsgeschichte am Anfang des Buches ausführlich, wenn auch ein wenig umständlich auf drei unterschiedliche Kapitel verteilt (Kapitel 2; 3.1 und 5.1), abgehandelt wird, bleibt sie dennoch überall präsent. Im Zentrum der Studie steht Menken als Prediger (Kapitel 5) und die von ihm in den Predigten vertretene Theologie (Kapitel 7–10). Dazwischen, gleichsam als Prolegomenon zur Theologie, wird seine Hermeneutik rekonstruiert (Kapitel 6). Eine Werkübersicht (Kapitel 4) sowie Betrachtungen zur Wirkungsgeschichte (Kapitel 11) und eine kurze Würdigung komplettieren die Untersuchung, der zwar chronologische Tabellen und Faksimile-Abdrucke einiger Predigten, aber leider keine Register beigegeben sind.
Die Studien haben eine lange Entstehungsgeschichte hinter sich. Ihr Anfang liegt im Jahr, als sich Menkens Geburtstag zum 200. Mal jährte und der Vf. als Doktorand von Martin Doerne und Ernst Wolf angeleitet wurde. Nach dem Tod der Betreuer ruhte das Werk ein ganzes Arbeitsleben lang, bis es im Ruhestand vollendet und schließlich doch noch als Dissertation in Bern eingereicht wurde. Eine solche beharrliche Verbundenheit mit dem Thema und die schlussendliche Vollendung sind eindrücklich und aller Ehre wert. Darüber, dass das Buch Jahresringe zu erkennen gibt, in zahlreichen Wiederholungen oder bei der Literaturverwendung, sollte man daher hinwegsehen.
Dass das Buch dick geworden ist, hat jedoch nicht nur mit seiner Entstehung, sondern auch mit einigen Eigenarten zu tun: Erstens wirkt sich aus, dass es zwischen den Fächern Systematische Theologie – an Lehrstühlen dieses Faches wurde die Arbeit angefangen und abgeschlossen –, Kirchengeschichte und Praktischer Theologie changiert. Einerseits werden die Predigten unter Einbeziehung der Predigtgeschichte und moderner homiletischer Konzepte analysiert, andererseits ihre theologischen Aussagen systematisiert, theologiegeschichtlich eingeordnet und schließlich mit aktuellen Perspektiven, sei es aus dem christlich-jüdischen Dialog, sei es aus systematisch-theologischen Diskursen, konfrontiert (z. B. 287–292: Dogmatische Analyse und Kritik). So soll bspw. gezeigt werden, »wie das reformatorische Schriftprinzip sola scriptura heute zu verstehen ist« (23) und »wie denn heute zu predigen ist oder wie heute nicht mehr gepredigt werden kann« (24). Das alles zusammen kann das Buch nicht leisten. Es führt zwar in die Themen ein, doch die Analysen erreichen selten die nötige Tiefenschärfe. Zweitens führen exkursartige Zusammenfassungen aus der Forschungsliteratur immer wieder von der Hauptlinie ab. So gehören zwar Collenbusch, Bengel und Hamann zweifellos zur Traditionsgeschichte, doch trotz ausführlicher Darstellung ihres Denkens wird die Art und Weise, wie sie Menken geprägt haben, nur knapp konstatiert (vgl. 92.99.108). Zu den prosopographischen Ausflügen kommen solche in Grundsatzfragen der Predigtgeschichtsschreibung (127–130), in die Geschichte der Homilie (163–166), in Barths Sicht des Biblizismus (229–233), die Geschichte der alttestamentlichen Predigt im 19. Jh. (264–268) u. v. m. Der Radius wird weit gezogen. Das macht das Buch zu einer abwechslungsreichen Lektüre. Doch die Hauptperson gerät bisweilen aus dem Blickfeld. Dazu kommen, drittens, sehr ausführliche wörtliche Zitate aus Quellen und Sekundärliteratur. Erstere könnten die Vertrautheit mit Menken fördern, doch letztere, zweifellos interessant und gut ausgewählt, erschweren die Lektüre.
Wer sich zielgerichtet über Menken informieren möchte, sollte das Buch daher von seinem Untertitel her verstehen und die einzelnen Kapitel als »Studien zur Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers«, die sich jeweils für sich lesen lassen, nehmen. Sie nähern sich Menken von unterschiedlichen Seiten und laden aufgrund der Materialfülle zu eigenem Urteil ein. Die einzelnen Kapitel sind eine wahre Fundgrube und zeigen Menken als einen Denker, der, verwurzelt in der Auslegung der Bibel, eine Fülle von Gedanken vereinigt, die sich vor und nach ihm in unterschiedlichen Ausprägungen wiederfinden lassen. Zentral ist seine Geschichtsauffassung. Er gehört zu den heilsgeschichtlichen Theologen, die an der in der Bibel bezeugten heiligen Geschichte die Einheit der Schrift festmachen. Das pietistische Erbe schlägt sich in der als diesseitiges, reales Geschehen verstandenen chiliastischen Eschatologie nieder, die mit Blick auf ihre Bedeutung zu Recht prominent im letzten thematischen Kapitel (Kapitel 10) vorgestellt wird.
Zwei Eindrücke bleiben zum Schluss: zum einen, dass die Einschätzungen Martin Kählers weiterhin Bestand haben dürften, der Menken als Schüler von Bengel und Collenbusch an die Spitze des Biblizismus des 19. Jh.s stellt.
Zum anderen wirkt Menken in der vorliegenden Darstellung merkwürdig aus der Zeit gefallen. Das hat sicher damit zu tun, dass Menken Theologie ausschließlich als Bibelauslegung und – selbst in den Predigten (vgl. 160 f.) – weithin unberührt von der aktuellen Situation seiner Adressaten betreibt. Dass eine solche Theologie, der es »ausschließlich um das Erfassen der biblischen Gedanken, der biblischen ›Lehre‹ und ihren unbeeinflussten ›Transport‹ in die Gegenwart« geht, »nicht möglich ist« (319), arbeitet der Vf. klar heraus. Allerdings verstärkt sein methodischer Ansatz den Eindruck noch erheblich. Denn Menken wird zwar als Gegner der Aufklärung und Erbe konservativer Theologien vorgestellt, aber seine Zeitgenossen kommen so gut wie gar nicht in den Blick. Schleiermacher, der zu demselben Jahrgang gehört und drei Jahre nach Menken stirbt, spielt gar keine Rolle (vgl. 44, ansonsten lediglich das Sterbejahr in der Tabelle, 410). Dass Menkens Theologie auch in erweckten Kreisen umstritten war und kurz vor und nach seinem Tod, befeuert von Hasenkamps Veröffentlichungen, zu literarischen Auseinandersetzungen führte, wird ebenfalls nur am Rande verzeichnet (410: »Angriff in der Berliner Evangelischen Kirchenzeitung«). Dabei ließe sich gerade daran zeigen, warum sich Men kens dezidiert unkirchliche Theologie auch bei den Erweckten nicht durchsetzen konnte. Menken als Zeitgenosse bleibt blass.
Dass das dicke Buch Fragen offen lässt, muss indes kein Schaden sein. Es präsentiert Menken als einen höchst anregenden und eigenwilligen Denker, dessen Individualität sich nicht so einfach zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt.