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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

447–449

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tolmie, D. Francois

Titel/Untertitel:

Pointing Out Persuasion in Philemon. Fifty Readings of Paul’s Rhetoric From the Fourth to the Eighteenth Century.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIV, 383 S. = History of Biblical Exegesis, 1. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783161564246.

Rezensent:

Joel White

Für die Reihe »History of Biblical Exegesis« gibt Francois Tolmie, Professor für Neues Testament an der University of the Free State, Bloemfontein, Südafrika, in diesem ersten Band den Ton an, indem er die Geschichte der Exegese des Philmemonbriefes unter besonderer Berücksichtigung der rhetorischen Situation sowie der rhetorischen Strategie des Briefes untersucht. T. hat sich im letzten Jahrzehnt durch eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen als Phlm-Kenner ausgewiesen und ist daher für die Aufgabe, die ihm der Titel der Reihe implizit auferlegt, bestens gerüstet.
Das Werk ist in vier Kapitel aufgeteilt: Die ersten drei untersuchen jeweils die Wirkungsgeschichte der Rhetorik des Phlm in der frühen Kirche, im Mittelalter und in der Zeit von der Reformation bis zur frühen Aufklärung. (Die Ausklammerung moderner Ausleger wird nachvollziehbar durch ihre allgemeine Zugänglichkeit begründet.) T. verfolgt überall das gleiche Schema: Einzelne Ausleger werden kurz vorgestellt und ihre Ansichten über die rhetorische Situation bzw. die rhetorische Strategie – wo angebracht in Form eines durchgehenden Kommentars des Briefes – beschrieben. Das vierte Kapitel wertet die daraus gewonnenen Daten aus und identifiziert Tendenzen in der Wirkungsgeschichte der Rhetorik des Phlm während des gesamten Zeitraums vom 4. bis zum 18. Jh.
Was die rhetorische Situation des Phlm betrifft, identifiziert T. folgende (beinahe) konsensfähige Positionen: 1. Es wird ausnahmslos davon ausgegangen, dass Paulus den Phlm während einer Gefangenschaft in Rom schrieb. Ob dies während einer ersten (ggf. einzigen) oder zweiten römischen Gefangenschaft geschah, wird unterschiedlich bewertet. 2. Philemon wird fast durchgehend als guter Christ aus Kolossä und Apphia als seine Frau betrachtet. 3. Die untersuchten Autoren sind geteilter Meinung über das Verhältnis Philemons zu Archippus. Die die unter modernen Exegeten häufig vorkommende Vermutung, dass Archippus der Sohn des Philemon ist, begegnet in der älteren Exegese wesentlich seltener; die Mehrheit geht davon aus, dass er ein wichtiges Amt in der Gemeinde bekleidet. 4. Onesimus wird als Sklave, der Philemon beraubt hat und darauf geflohen ist, verstanden. 5. Paulus ist be­müht, die Beziehung zwischen Onesimus und Philemon wiederherzustellen, und er ist in seinen Bemühungen erfolgreich gewesen.
Zu den interessanten Ergebnissen im Hinblick auf die rhetorische Strategie des Phlm gehören folgende: 1. Die Aufteilung bzw. die Analyse des Briefes nach antiken rhetorischen Kategorien kommt erst im Hochmittelalter auf. 2. Die Selbstbeschreibung des Paulus als »Gefangener Christi Jesu« (V. 1) sowie sein Hinweis auf sein Alter (V. 9) werden als bewusste und effektive rhetorische Züge bewertet. 3. Die Erwähnung von Timotheus, Apphia und Archippus im Briefanfang soll auf Philemon angesichts seines (von den meisten Auslegern vorausgesetzten und ihrer Meinung nach gerechtfertigten) Zorns Druck ausüben, Onesimus mit Milde und Barmherzigkeit zu begegnen. 4. Das Sklavendasein des Onesimus wird selten problematisiert. (Dass Paulus seine Freilassung erreichen will, wurde erstmals 1757 von Baumgarten erwogen.)
Zu weiteren rhetorisch-strategischen Handlungen des Paulus gehören nach Meinung der großen Mehrheit der Kommentatoren der Appell an die Vorhersehung Gottes als Apologie für das Benehmen des Onesimus (V. 15–16), die Aufforderung, Philemon möge seinen reumütigen Sklaven genauso empfangen wie Paulus (V. 17), die faktische Ausstellung eines Schuldscheins für die von Onesimus verursachten Schäden (V. 18), die Bitte um einen Liebeserweis des Philemon (V. 20), die Beteuerung der Zuversicht des Paulus, dass Philemon mehr als von ihm erwartet tun wird (V. 21), und die Bitte um die Vorbereitung einer Unterkunft (V. 22).
T. hebt nicht nur mehrheits- oder konsensfähige Ergebnisse seiner Untersuchung hervor, sondern auch Einzelvoten, die aus verschiedenen Gründen für die moderne Exegese von Interesse sein könnten. Phlm-Forscher, die mit Peter Lampes einflussreicher amicus domini-These vertraut sind, werden mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass bereits Ambrosiaster der Meinung war, Onesimus sei Paulus nicht zufällig begegnet, sondern habe ihn bewusst aufgesucht. Theodorets Nachricht, dass Philemons Haus noch zu seiner Zeit in Kolossä stand, darf historisch kaum als aussagekräftig eingestuft werden. Sie wird aber Befürworter neuerer Untersuchungen (z. B. von Cadwallader), die die lange als sicher geltende völlige Zerstörung Kolossäs durch einen Erdbeben im Jahr 70 n. Chr. dementieren, zumindest erfreuen. Einzigartig ist Luthers modern anmutende Einschätzung der rhetorischen Vorgehensweise des Apostels als heuchlerisch und schmeichlerisch. Doch Luther nimmt genauso wenig Anstoß daran wie alle anderen vormodernen Ausleger, sondern bewundert sie!
Auswertung: Für seine Arbeit schulden T. alle Phlm-Forscher nach ihm Dankbarkeit. Denn durch seine mühevollen Untersuchungen sind viele Ansichten vormoderner Ausleger des Phlm nun sehr leicht zugänglich. Ausreden dafür, dass zukünftige Kommentatoren sie vollkommen ignorieren, hat T. mit diesem Forschungsbeitrag entkräftet. Kritisch anzumerken ist dennoch Folgendes:
1. Eine nur eine Seite umfassende Einleitung für ein Werk dieses Umfangs, das darüber hinaus für viele Leser ungewohnte Wege beschreitet, ist zu kurz. Denn während der Lektüre kommen Fragen der Methodik und der Vorgehensweise auf, und es wäre zielführender gewesen, wenn T. selbst anfangs solche Fragen gestellt und beantwortet hätte.
2. Die scheinbar dem Forschungsinteresse T.s geschuldete und selbstauferlegte Einschränkung auf die Rhetorik des Phlm lässt andere Aspekte der Wirkungsgeschichte des Briefes – z. B. die Auslegung exegetischer cruces interpretum – zu kurz kommen. Der Titel der Reihe verspricht jedenfalls implizit umfassendere Untersuchungen.
3. Die Wahl der untersuchten Phlm-Ausleger wirkt manchmal willkürlich und lässt den Verdacht aufkommen, sie unterliege mehr dem Bemühen, auf die fünfzig im Titel versprochenen »Readings« zu kommen, als einer objektiven Einschätzung ihrer Bedeutung für die Auslegungsgeschichte des Briefes. Besonders unter den mittelalterlichen Autoren findet man nicht wenige Namen, mit denen nur darauf spezialisierte Kirchenhistoriker vertraut sein dürften (z. B. Isho’dad von Merv oder Atto von Vercelli) und deren Einfluss selbst nach T.s Ausführungen als gering eingestuft werden muss.
4. Es wäre hilfreich gewesen, wenn T. (am besten graphisch) die genealogischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ansichten der Ausleger verfolgt hätte. Denn die Fülle an wertvollen Informationen macht es nahezu unmöglich, im Kopf zu behalten, wann eine neue Sichtweise in der Auslegungsgeschichte aufgekommen ist und wer davon beeinflusst wurde. Die Erschließung solcher Zu­sammenhänge wäre für die gegenwärtige Auslegung von un­schätzbarem Wert, und die Herausgeber der Reihe würden Bibelwissenschaftlern einen enormen Dienst leisten, wenn sie in zu­künftigen Bänden darauf achten könnten, dass dies tatsächlich erfolgt. Trotz dieses Desiderats bzw. in der Hoffnung, dass es sich beheben lässt, wartet der Rezensent gespannt auf weitere Beiträge in der Reihe »History of Biblical Exegesis«.
Fazit: T.s Untersuchung ist trotz mancher Schwächen für Philemon-Forscher eine große Hilfe und unterstreicht die potentielle Bedeutung der Reihe, in der sie als erster Band erscheint.