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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

386–388

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Odenthal, Andreas

Titel/Untertitel:

Evangelische Stundenliturgie in Württemberg. Zum Chordienst der Klöster und Klosterschulen nach Einführung der Reformation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XV, 232 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 113. Lw. EUR 79,00. ISBN 9783161591167.

Rezensent:

Sabine Holtz

Erhaltenes Chorgestühl in den ehemaligen Klosterkirchen in Be­benhausen und Maulbronn sowie zwei für das lateinische Chorgebet im evangelischen Württemberg angefertigte liturgische Bü­cher standen am Anfang dieser Studie. Die »Psalmodia« (1658/1686) waren in der Forschung bereits bekannt, als von Andreas Odenthal, einem »katholischen Liturgiehistoriker« (161) in der Universitätsbibliothek Tübingen die älteren »Cantica sacra choralia« (1618) entdeckt wurden. Beide Werke wurden für den Chordienst der evangelischen Klosterschulen Württembergs benutzt. Als Oberbegriff für verschiedene Formen des Chordienstes wählt O., in Anlehnung an die Liturgiereformen nach dem II. Vatikanischen Konzil, den Begriff der (evangelischen) Stundenliturgie.
Als Ausgangspunkt seiner Studie schildert O. zunächst die Praxis der Stundenliturgie im Kontext von Klöstern, Stiften und Pfarrkirchen des späten Mittelalters. Dieser Praxis stellt er die mit der durch die Reformation in Württemberg einhergehende Liturgiereform gegenüber. Dabei geht O. chronologisch vor und verfolgt die Genese der Liturgiereform von der ersten reformatorischen Klos-terordnung (1535), über die erste Kirchenordnung (1536) zunächst bis zur ersten württembergischen Kirchenordnung von 1553. Ein vertiefter Blick gilt zwischenzeitlich der Umsetzung der Liturgiereform in Alpirsbach (1554) und Herrenalb (1556). Über die Klosterordnung von 1556 verfolgt er dann den Weg bis zur Großen Württembergischen Kirchenordnung von 1559. Diesen Teil abschließend zieht er die Linien bis zu den »Statuten der Alumnorum« (1757!) aus. Fokussiert wird die gesamte Entwicklung auf die in den ehemaligen Klöstern eingerichteten evangelischen Klosterschulen. E in Fazit resümiert die jeweiligen theologischen Begründungs-muster dieses Chordienstes unter dem Vorzeichen der »reforma-tionsgeschichtlichen Liturgiereform« (73–81).
Die eingangs genannten liturgischen Bücher stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Sie werden nach Inhalt und Aufbau vorgestellt. Das Fundament der Ordnung bildete der Gregorianische Choral. Trotz der Ordnung wird eine gewisse Flexibilität beobachtet, die Freiräume schafft für eine Anpassung an unterschiedliche Modelle lateinischer Stundenliturgie. Die »Cantica sacra choralia« (1618) waren noch stärker an der gregorianischen Tradition orientiert als die »Psalmodia« (1658/86), die, gleichsam moderner, die Polyphonie einbezogen. Da die Psalmodia ausdrücklich vorsahen, dass die Antiphonen durch die Intonation des Kantors ersetzt werden können, könnte dies, so O., ein Hinweis auf die allmähliche Auflösung der traditionellen liturgischen Ordnung sein.
Anschließend befasst sich O. mit vergleichbaren Werken der württembergischen Liturgica, die er drei unterschiedlichen Typen zuordnet (Kapitel 5). Gemeinsam ist allen, dass sie im Einflussgebiet lutherischer Reformation entstanden sind. Er skizziert dazu die Ordnungen des Klosters Berg und der Abtei Walkenried (mo-nastischer Typ), des Magdeburger Domstifts und des Braunschweiger Stifts St. Blasii (stiftischer Typ) sowie die Ordnung des pfarrlichen Typus am Beispiel von Lüneburg und Hamburg. Die größten Übereinstimmungen mit den württembergischen Liturgica sieht O. in den liturgischen Reformen im ehemaligen Zisterzienserklos-ter Walkenried.
Wiewohl nur verstreute Hinweise zu einer Stundenliturgie an der Tübinger Stiftskirche, dem Stift an der Schlosskirche (Brüder vom gemeinsamen Leben, bis 1517) sowie am Fürstlichen Stipendium vorliegen, wird vor allem im Vergleich mit den Klosterschulen der qualitative Unterschied deutlich. An der Stiftskirche und im Augustinerkloster (dem späteren Fürstlichen Stipendium) kam im Zuge der Reformation das Stundengebet zu seinem Ende, auch kam es in der Folgezeit zu keiner Anknüpfung an diese Tradition. Auch für die Stuttgarter Stiftskirche lassen sich keine Hinweise auf eine postreformatorische Anknüpfung finden. Anders hingegen am Stuttgarter Hof. Eine dortige Nutzung der beiden lutherischen liturgischen Bücher (sowie des deutschsprachigen Psalters von Sigmund Hemmel) scheint möglich. Sie würde sich dort in die traditionsreiche Pflege der Kirchenmusik einpassen.
Abschließend bilanziert O. die gewonnenen Erkenntnisse. Zu­nächst hebt er die Anknüpfung an die Tradition, näherhin die Praxis der Alten Kirche, hervor, beispielsweise beim Verständnis der Klöster, nun der Klosterschulen, als Orte des Bibelstudiums sowie bei der Begründung des Chordienstes in der Confessio Virtembergica unter Rückgriff auf den Kirchenvater Augustinus. Trotz dieser Kontinuitäten konstatiert O. allerdings eine neue – evangelische – Begründung der Stundenliturgie. Diesen Weg bilanziert O. unter drei Aspekten (vgl. Kapitel 7.2). Er stellt dazu die »lutherische Stundenliturgie« unter die »Kommunikation des Evangeliums«, die »Lern-Zeiten der Gemeinde« und fragt nach deren »Pensum und Dienstcharakter« (158). Auch hierbei ist es O. abschließend wichtig, auf die von evangelischer Seite immer wieder eingeholte Kirchenvätertradition hinzuweisen. Er betont dabei erneut, dass das Re­kurrieren auf die Vätertradition geradewegs dazu diene, das spezifisch Neue im lutherischen Liturgieverständnis zu legitimieren.
Dieser Legitimation durch Tradition hätten lutherische Theologen gewiss nicht widersprochen. Einen »heilige[n] Ort«, der mit seinen Reliquien die zentrale Motivation für die Stundenliturgie bietet, braucht es hingegen nicht mehr. O. macht allerdings auch hier einen Rest dieser traditionellen Bezogenheit von Raum und liturgischer Nutzung aus, indem er darauf hinweist, dass die überkommenen Kirchenbauten – nach erfolgter Anpassung an reformatorische Erfordernisse (vor allem in der Bilderfrage) – »über Fragen eines Gebäudema-nagements hinaus Gebetsräume« geblieben seien (161). In den im reformatorischen Württemberg umgestalteten Kirchenräumen sei die Unterscheidung vom altgläubigen Kirchenwesen für alle Gläubigen sichtbar vor Augen gestellt worden. Dies wiederum habe die Beibehaltung einer relativ traditionell ausgerichteten Stundenliturgie in den Klosterschulen ermöglicht, da sie, trotz ihres konservativen Zugs, keine grundsätzlichen Streitfragen auslöste. Ob diese Argumentation von den Zeitgenossen geteilt worden wäre, sei einmal dahingestellt. O. geht abschließend der Frage nach, ob die Reform der Stundenliturgie zu einem Paradigmenwechsel geführt habe. Seine Argumentation aufgreifend betont er zunächst, dass die Stundenliturgie »zumindest eine geraume Zeit« (162) auch ein inneres Anliegen einiger reformatorischer Kirchen gewesen sei, worunter er fraglos die württembergische Territorialkirche zählt, und zwar in allen jenen Punkten, wo es um die Anknüpfung an biblische Vorgaben und deren Aufnahme in der Tradition der Kirchenväter ging. Überdies stellt er in (rhetorische?) Frage, ob es wirklich ein »essentieller Paradigmenwechsel« sei, wenn anstelle von Mönchen nun Alumnen der Klosterschulen und also Vertreter der künftigen Pfarrerschaft im Chorgestühl sitzen, schließlich erweise sich hier die Stundenliturgie, trotz neuer Basis des allgemeinen Priestertums, doch einmal mehr als »Form klerikaler Elitenbildung« (163). Fraglos mutierte im reformatorischen Württemberg die Stundenliturgie zu einem »Ausbildungsinstrument«, mit dessen Hilfe biblische Frömmigkeit eingeübt wurde. Der Rückgriff auf die zwar tradierte, aber reformierte Form des Chorgebets war willkommen und wurde an den Klosterschulen bis ins frühe 19. Jh. beibehalten. Hinsichtlich der Gelübde, die Mönche leisteten, sowie der Jenseitsfürsorge, die mit der Liturgie verbunden war, und der Sakralität des Raums, die durch die Stundenliturgie geehrt wurde, werden dann die großen Unterschiede deutlich. Sie rechtfertigen es, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen.
Es ist ein Verdienst dieser Studie, dass nun neben der im evange-lischen Württemberg bereits gut erforschten Transformation des sonntäglichen Gottesdienstes auch die Entwicklung der lutherischen Stundenliturgie herausgearbeitet und eingeordnet werden konnte. Die Klosterschulen übernahmen diese Form des täglich mehrmaligen Gottesdienstes, passten sie aber ihren Erfordernissen an, und verbanden so Tradition und Reform.