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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

378–380

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nass, Elmar

Titel/Untertitel:

Christliche Sozialethik. Orientierung, die Menschen (wieder) gewinnt.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 382 S. m. 4 Abb. u. 3 Tab. = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 13. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170370562.

Rezensent:

Michael U. Braunschweig

Der hier anzuzeigende Band von Elmar Nass aus der Reihe »Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder« spannt einen ansprechenden Bogen von einer in der Grundlagenreflexion entwickelten pointiert substantiellen christlichen Position zu deren materialer Anwendung in ausgewählten Handlungsbereichen mit einem besonderen Gewicht auf wirtschaftsethischen Überlegungen. Diese Anlage erlaubt es, die disziplinübergreifende Expertise des sowohl in Sozialwissenschaften als auch in Theologie promovierten Inhabers des Lehrstuhls für christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie in produktiver Weise zusammenzuführen. Auch wenn der Band ex­plizit kein Lehrbuch sein will (17), sondern ein eigenständiger normativer Ethikentwurf aus christlicher Perspektive, ist die klare Gliederung in vier Hauptteile, die schrittweise Entfaltung der Position und die systematische Anordnung des Stoffes auch für Neulinge in der christlichen Ethik geeignet.
Die kurze Einführung (17–23) profiliert den Band als eine Orientierungshilfe, »die dem Menschen einen moralischen Kompass anbietet« (17). Denn es sei an der Zeit, »gut begründete christliche Antworten auf offene soziale Fragen unserer Zeit zu formulieren« (ebd.). Der zu entfaltende moralische Kompass wird dabei als substanzielle christliche Wertebasis konturiert, die offensiv und in »konstruktiver Opposition zur (Post-)Moderne« (22) in Stellung gebracht wird. Das Attribut des »Christlichen«, das auch seinen Weg in den Titel gefunden hat, muss allerdings als »katholische Sicht« des Vf.s verstanden werden (ebd.).
Die Entfaltung dieses Orientierungskompasses aus römisch-katholischer Sicht erfolgt sodann in drei aufeinander aufbauenden Schritten: Teil 1 (Der Auftrag, 55–80) legt das theologische Fundament dieses Ethikansatzes als dessen Ausgangspunkt die Katholische Soziallehre bestimmt wird (31).
In affirmativem Anschluss an die thomanische Lehre sei der Kern des gewählten »theonomen christlichen Ansatzes« die Auffassung, »dass alle Kreatur in einen göttlichen Plan eingefügt ist und von diesem ewigen Naturgesetz […] her seinen Bedeutungszusammenhang erhält« (32). Für den Menschen bedeute dies, dass er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Schöpfungsordnung einen moralischen Auftrag zum Guten habe (ebd.). Die Kernthese dieser als »normativen Humanismus« (51) bezeichneten normativen Ethik ist die Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit über eine »unbedingte« (45), »absolute« (42), »objektiv, zeitlos und universal« (42) gültige Menschenwürde verfüge, deren Schutz als Leitprinzip und letztgültiges Kriterium allen Handelns gilt. Aus der dem Menschen wesentlichen Individualität und Sozialität ergeben sich die für die Entfaltung der Sozialethik elementaren »Sozialprinzipien Gemeinwohl, Personalität, Solidarität und Subsidiarität«, die »eink lagbare Rechte und Pflichten« verbriefen (49). Die Begründung dieser Position erfolgt in klassischer Fortführung aristotelisch-thomanischer Naturrechtstradition, was für diesen dezidiert auf ökumenische Akzeptabilität an­gelegten Ansatz besondere Herausforderungen mit sich bringt. Der Vf. verweist mit der Absicht, Brücken zur evangelischen Schwesterkonfession zu bauen, explizit auf die lumen naturale-Überlegungen bei Melanchthon.
Teil II: Im Dialog (81–147) richtet den Blick über die christliche Religion hinaus und sucht nach verwandten Konzeptionen eines »theologischen Humanismus« zunächst in anderen Religionen (Islam: 83–92, Judentum: 92–95, Reinkarnationsglaube, d. h. Bud­dhismus und Anthroposophie: 96–100). Die größte inhaltliche Nähe wird dabei im Judentum gefunden. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Islam markiert trotz ähnlicher Haltungen in einzelnen Materialthemen (Fragen des Lebensschutzes, Ehe- und Familienverständnis, Armenfürsorge, Sozialpflichtigkeit des Eigentums) grundlegende Unterschiede zwischen den theonomen Konzeptionen beider Religionen aufgrund des normativen Primats der Scharia im Islam und der dadurch nur kontingent möglichen Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Allerdings stimmen den Vf. Bestrebungen eines Reformislam, der im Anschluss an Averroes der Vernunfterkenntnis den Primat vor der überlieferten Koranauslegung zugesteht (90). Inhaltliche Verwandtschaft sieht der Vf. auch in Konzeptionen eines »normativen Humanismus jenseits der Theologie« (102–117), namentlich in den A nsätzen von I. Kant, A. Sen, A. Smith und verschiedenen Expo-nenten, die unter dem Titel »phänomenologischer« oder »essentialistischer Humanismus« subsumiert werden (M. Heidegger, E. Husserl, K. Jaspers, C. Taylor). Schließlich wird der eigene Ansatz gegenüber Ethikkonzeptionen profiliert, die die ontologische Ob­jektivität von Wahrheit sowie ihre epistemologische Erkennbarkeit »leugnen« (118). Hier werden verschiedene Positionen kritisiert, weil sie die Würde oder den Wert des Menschen nicht absolut denken (normativer Relativismus, Diskursethik) oder überhaupt unempfänglich sind für das als für die Ethik wesentlich angenommene personale Denken (Systemtheorie).
Insgesamt 14 Themenbereiche werden im umfangreichsten Teil III (149–349) unterschiedlich tief diskutiert. Die Kapitel schließen jeweils mit einem Abschnitt »Konsequenz und Kompass«, in dem die wesentlichen Erkenntnisse, Positionsbezüge und offenen Fragen zusammengefasst werden. Aus Knappheitsgründen sei punktuell auf drei Themenbereiche eingegangen. Das Eingangskapitel (150–179) umfasst die drei konziliar-ökumenischen Themen »Ge­rechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung«. Bemerkenswerterweise widmet sich der Vf. zunächst dem Ökologie-Thema. Sachlich begründet ist dies durch die als »revolutionäres Kirchendokument« (151) begrüßte Enzyklika Laudato sì, mit der Franziskus ein »neues Paradigma« eines »ökologischen Humanismus« (ebd.) aufschlage, der genau diese Vorordnung fordere, und dessen Stärken, Schwächen und Chancen für die Soziallehre darauffolgend diskutiert werden. Das Kapitel zu Leben, Arbeit und Sterben (179–241) versammelt verschiedene Themen des Lebenszyklus, wobei zwar die Organspende ein eigenes Kapitel erhält, Fragen am An-fang des Lebens allerdings nicht erwähnt werden. Angesichts des Hauptanliegens des Buches, »Menschen (wieder) zu gewinnen«, zeigt der Vf. im Familienkapitel überraschend wenig Bereitschaft, sich etwa auf Anliegen einzulassen, wie sie im Rahmen der Fami-liensynode artikuliert wurden: »Nicht-eheliche Gemeinschaften mit oder ohne Kinder, dauerhafte gleichgeschlechtliche Partnerschaften und alleinerziehende Eltern« seien »nicht Familie« (193).
Den größten Raum nehmen die Ausführungen zu Wirtschafts- (241–310) und Führungsethik (311–338) ein. Der eigene Ansatz wird dabei neben dem ökonomischen (K. Homann) und dem integrativen Ansatz (P. Ulrich) als metaphysischer Ansatz positioniert (246). Ähnlich wie der integrative Ansatz P. Ulrichs vertritt auch der Vf. in dieser metaphysisch fundierten christlichen Wirtschaftsethik einen normativen Primat der Ethik vor der Ökonomik, die er in exemplarischen Feldern (z. B. Fragen nach der gerechten Wirtschafts- und Eigentumsordnung oder Herausforderungen der europäischen Währungsunion) anwendet. Der Band schließt mit einem kurzen Ausblick, der die Kernanliegen noch einmal vergegenwärtigt.
Über ein Begriffs- oder Namenregister verfügt der Band leider nicht. Interne Verweise erfolgen mit umständlichen inhaltlichen Beschreibungen statt mit einem schlichten Verweis auf die Kapitelnummer. Der Band entfaltet konsistent und mit einem nicht selbstverständlichen Selbstbewusstsein das Profil einer christlichen Sozialethik aus katholischer Perspektive. Die aktive und engagierte Suche nach Gemeinsamkeiten jenseits des eigenen Standpunkts lassen diesen Wurf auch dort als attraktive Einladung zum Gespräch erscheinen, wo man die eingenommenen Positionen mitunter nicht zu teilen gewillt sein mag, zumal kaum zu bestreiten ist, dass alle ökumenische Suche nach einer gemeinsamen christlichen Sozialethik im Schutz der Menschenwürde ihren Ausgangs- und Zielpunkt haben wird.